Название: BePolar
Автор: Martha Kindermann
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: BePolarTrilogie
isbn: 9783748590385
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Als Rhea ganz am Anfang ihrer Facharztausbildung stand und deutlich öfter zu Hause war, nahm sie sich hin und wieder Zeit für meine nervtötenden Fragen. Nun weiß ich zum Beispiel, dass sich Albträume unter Stress oder allgemeiner psychischer Belastung häufen. Somit sind labile Menschen stärker betroffen als andere. Irgendwie gemein. Gerade die Ängstlichen bekommen häufig Albträume. Wenn der Glaube an die schützende Kraft des Traumfängers diesen Menschen helfen kann, so will ich ihm seinen Nutzen auf gar keinen Fall absprechen. Die Indianer glaubten daran und sie standen sehr oft unter hohem Druck. Essen besorgen, Feinde bekämpfen, aufpassen, dass keiner krank wird, dass das Wetter die Ernte nicht ruiniert oder die Götter wütend werden. Sicher spendete der Glaube an die schützenden Traumnetze ihnen und ihren Kindern Trost. Ein schöner Brauch. Rhea opferte ihre wertvolle Zeit, um für mich dieses Geschenk zu basteln. Egal, ob der Traumfänger einen nun vor dunklen Nachtschatten beschützt oder nicht, er ist ein wahrer Schatz, auch ohne Superkräfte.
06:20 Uhr – ich quäle mich aus dem Bett. Nur noch zwei Tage bis zu den Sommerferien. In achtundvierzig Stunden ist alles vorbei und die Schule rückt für sechs Wochen in unendliche Ferne. Ich werde faulenzen, eine Woche mit meinen Eltern nach Süd fliegen und den Rest der Ferien mit Fenja und Tarik als Betreuer für Kinderfreizeiten in unserem Städtchen tätig sein. Es sollen Kinder aus allen Himmelsrichtungen anreisen, um Land und Leute besser kennen zu lernen. Wir bekommen ordentlich Feriengeld und den Spaß zu dritt gratis oben drauf. Tarik wird einen Zirkusworkshop leiten und mit den Teilnehmern jonglieren, Einrad fahren, slacken und Menschenpyramiden bauen. Fenja und ich sind für den Bus eingeteilt. Das heißt, wir unternehmen in kleineren Gruppen Ausflüge. Die letzten Jahre verlief diese Arbeit sehr chillig. Die Kinder wechseln täglich und werden somit nicht übermäßig anhänglich. Wir zeigen ihnen die Naturschutzgebiete, Forschungseinrichtungen, das Gefängnis oder unsere allseits beliebte Süßwarenfabrik. Auch wenn ich diese Orte schon unzählige Male besucht habe – der Blick aufs Honorar lässt mich darüber hinwegsehen.
Nach dem Schulabschluss möchte ich eine Reise durch ganz Polar unternehmen. Jeden Winkel kennenlernen, alle möglichen Dialekte ertragen müssen und fremdes Essen kosten, bis ich platze. Da es voraussichtlich eine Weile dauert, bis eine junge Frau mit ein Meter siebzig und sechsundfünfzig Kilo platzt, heißt es – sparen! Ein Jahr bleibt mir und dieses werde ich nutzen, um so viel wie möglich dazu zu verdienen.
Fenja wartet ganz aufgewühlt am vereinbarten Treffpunkt. Ich laufe einen Schritt schneller, um zu sehen, was los ist. Sie zappelt mit den Fingern und schafft es nicht, ruhig stehen zu bleiben. Irgendetwas läuft schief, das kann ich förmlich riechen.
Als sie mich entdeckt, rennt sie in meine Arme und beginnt fürchterlich zu schluchzen.
»Er ist…«, sagt sie mit weinerlicher Stimme.
»Wer denn, was ist denn los mit dir? Wer ist was?« Sie krallt die Hände in meinen Rücken und drückt sich fest an mich. Die Tränenflut macht ihr das Sprechen unmöglich, also schiebe ich sie behutsam zur Rathausmauer. Wir setzen uns und ich versuche, sie mit Streicheleinheiten zu beruhigen.
»Ganz langsam, Fenja. Ich höre dir zu.« Ihren Kopf auf meine Schulter gelegt, warte ich geduldig auf Antwort.
»Tarik…«, ich fahre erschrocken herum.
»Tarik? Ist ihm etwas passiert?« Fenja schnieft in ihr Taschentuch und zerknüllt es anschließend in ihren tränennassen Händen.
»Er ist gestern auf dem Heimweg vom Park von einem Auto angefahren worden.« Ich bin wie von Sinnen. Wasser tritt mir in die Augen und ich will auf der Stelle etwas unternehmen. Wie können wir hier auf der Mauer sitzen, während er schwer verletzt… Oh verdammt…
»Wo ist er? Liegt er im Krankenhaus? Was machen die Ärzte mit ihm? Wie lange kann das denn dauern? Können wir zu ihm?« Die unzähligen Fragen im Kopf legen meinen Verstand lahm. Ich fühle mich derartig hilflos, dass ich aufspringe und in ähnlicher Weise wie Fenja von einem Bein auf das andere trete. Ein mögliches Szenario habe ich mir noch nicht ausgemalt. Mein bester Freund könnte in diesem Augenblick bereits tot sein. Ich muss es wissen! »Fenja, sag was!«
»Er liegt auf der Intensivstation, aber…«, den Rest höre ich nicht mehr. Die wichtigste Antwort habe ich bekommen, Tarik lebt. »Er hatte wohl seinen Hacky Sack nicht unter Kontrolle, als ihn das Auto erfasste. Die gebrochenen Rippen werden schnell verheilen, doch die Schäden, die sein Gehirn davongetragen hat, können die Ärzte noch nicht abschätzen. Er liegt im Koma. Mehr weiß ich nicht. Seine Mum hat heute Morgen aus dem Krankenhaus angerufen und Bescheid gegeben. Sie meinte, er bräuchte Ruhe und wir sollten besser nicht vorbeikommen.«
Ich starre ins Leere und lasse die Tränen mein T-Shirt durchnässen. Wir waren gestern noch zusammen im Park. Tarik war quicklebendig und ein paar Stunden später liegt er in einem Krankenhausbett und vollführt ein Duell mit dem Tod.
»Los, wir gehen!« Ich nehme sie an der Hand und marschiere an die Bushaltestelle. »Ich kann mich jetzt nicht in die Schule setzen und dämliche Projektarbeit machen.«
»Was hast du vor?«, entgegnet Fenja und versucht mit mir Schritt zu halten.
»Na wir nehmen den Bus zum Krankenhaus. Ist mir egal, was der Jakob meint!« Fenja sagt nichts. Ich deute die fehlende Reaktion als Zustimmung und verdopple mein Lauftempo.
Da kommt der Schulbus und eine Horde Kinder stürmt auf das Schulgebäude zu. Wir drängeln uns durch die Meute, um zum Busfahrer zu gelangen, lösen zwei Fahrscheine und nehmen Platz. Normalerweise sitzen wir wie alle coolen Kids in der letzten Reihe, aber heute habe ich keinen Bock, den Weg durch den ganzen Bus zu latschen und wähle die beiden Plätze hinter dem Fahrer aus.
Der Bus setzt sich in Bewegung und wir werden von der hinein scheinenden Morgensonne geblendet. Es sollte regnen. An solch einem schrecklichen Tag sollte es wie aus Eimern gießen.
Die erdrückende Stille im Bus und die Sonne regen mich entsetzlich auf. Wenn wir nicht bald am Ziel sind, werden meine Fingernägel sämtliche Gummidichtungen der Fensterscheibe abgekratzt haben.
Noch drei Haltestellen.
Noch zwei Haltestellen.
Noch eine Haltestelle.
Da ist das Krankenhaus.
Ich bin oft hier. Wenn Rhea Frühdienst hat, hole ich sie manchmal nach der Schule ab. Dann genehmigen wir uns in den Sommermonaten ein Eis und wenn es kühler wird, den süßen Punsch vom ›Café 74‹. Bisher hatte ich also nur schöne Erinnerungen an diesen Ort.
Der Bus hält direkt vor dem Eingang und als wir aussteigen, öffnet sich die automatische Schiebetür. Ich bleibe kurz stehen und nehme Fenjas Hand. Wir schaffen das gemeinsam.
Die Tante an der Information schickt uns mit der Bitte auf die Intensivstation, dort zu klingeln und dann abzuwarten. Toll, das geht ja gut los. Die hat Nerven. Wir schwänzen doch nicht die Schule, um dann zu warten. Wir fahren also in den dritten Stock und folgen einem langen Gang, bis die erwähnte Tür erscheint. ›Unbefugten kein Zutritt. Bitte Klingeln‹. Steht an der Tür. Ja, das wissen wir und ich drücke gleich dreimal auf den Klingelknopf, um sicher zu sein, auch gehört zu werden. Es fühlt sich an, als seien Stunden vergangen, bis das Personal erscheint.
»Ja, СКАЧАТЬ