Название: Genderlinguistik
Автор: Helga Kotthoff
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: narr studienbücher
isbn: 9783823301523
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Manche germanischen Sprachen haben alle drei Genera erhalten. Neben Deutsch gehören dazu Luxemburgisch, Jiddisch, Ost- und teilweise Nordfriesisch und Isländisch. Andere haben nur zwei Genera, meist ein Neutrum und ein sog. Utrum, entstanden aus dem (lautlich motivierten) Zusammenfall von Femininum und Maskulinum. Dazu gehören Niederländisch, Westfriesisch, Dänisch und Schwedisch. Englisch und Afrikaans haben gar kein Nominalgenus mehr. Dies sind gravierende Unterschiede, die erklären, weshalb Deutsch und Englisch oder Schwedisch bzgl. des Ausdrucks von Geschlecht nicht bzw. nur äußerst bedingt zu vergleichen sind, auch wenn dies immer wieder gerne getan wird.
Alle germanischen Sprachen einschließlich Englisch und Afrikaans ohne Nominalgenus unterscheiden jedoch bei den Pronomina3 immer drei Genera: nhd. er, sie, es – nl. hij, zij, het – engl. he, she, it, und das Schwedische hat sogar vier Genera ausgebildet: schwed. han [männl., belebt], hon [weibl., belebt], det [Neutrum, unbelebt], den [Utrum, unbelebt]. In den Sprachen mit reduziertem und v.a. in denen ohne Nominalgenus beziehen sich die maskulinen Pronomina auf Männer, Jungen und teilweise auch männliche Nutz- und Haustiere, die femininen auf Frauen, Mädchen und evt. weibliche Nutz- und Haustiere, während das neutrale Pronomen nur auf Unbelebtes referiert – und nicht etwa auf Menschen unbekannten Geschlechts: Nl. het, engl. it und schwed. det können sich niemals auf Menschen beziehen, sondern nur auf sog. Inanimata (unbelebte Objekte). Das heißt, ihre von der Kongruenz mit dem Nominalgenus sich entkoppelnden bzw. bereits entkoppelten Pronomina wurden reanalysiert und refunktionalisiert, indem sie in den Dienst der Belebtheitsanzeige gestellt wurden (he/she vs. it) und im Fall der beiden belebten Pronomen zwei Geschlechter bezeichnen, weiblich (wl.) und männlich (ml.). Im Prinzip verhalten sich Possessivpronomen ähnlich (engl. his (ml.), her (wl.), its (unbel.) – schwed. hans (ml.), hennes (wl.), dess (unbel.). In Zweigenussprachen wie Niederländisch und Schwedisch kommt es zu einigen zusätzlichen (interessanten, doch hier irrelevanten) Entwicklungen im Pronominalsystem (s. Audring 2010).
Ganz anders verhält es sich in Dreigenus-Sprachen wie dem Deutschen, wo er, sie, es in aller Regel das Genus des Nomens, auf das sie verweisen, aufgreifen (Kongruenz) und sich damit alle drei Genera sowohl auf Belebtes als auch auf Unbelebtes beziehen können. Man spricht hier von grammatischer Kongruenz:
Maskulinum | Femininum | Neutrum | ||||
– belebt: | der Durst | er | die Wurst | sie | das Maß | es |
+ belebt: | der Mann (ml.) | er | die Frau (wl.) | sie | das Kind (ml./wl.) | es |
Zu unterscheiden sind also die drei Genera Femininum (f), Maskulinum (m) und Neutrum (n) und die zwei großen Geschlechtsklassen weiblich (wl) und männlich (ml). Hier besteht eine zahlenmäßige Asymmetrie, die noch von Interesse sein wird. Abgesehen von der Geschlechtskennzeichnung leisten Pronomen auch eine Belebtheitsanzeige. Belebt – egal welchen Geschlechts – wird mit „+ bel.“ abgekürzt, unbelebt mit „– bel.“.
4.3.2 Das Genus-Sexus-PrinzipGenus-Sexus-Prinzip
Ähnlich wie sich eine strikte Geschlechtsbinarität nicht aufrechterhalten lässt, handelt es sich auch bei ‚+/– belebt‘ nicht um eine Dichotomie: Menschen und Götter werden als belebter wahrgenommen als Säuge- und Kuscheltiere, diese wiederum mehr als Quallen, Pflanzen, Steine oder Hohlmaße. In der Linguistik hat sich die in Abb. 4-1 skizzierte sog. Belebtheits- oder AnimatizitätshierarchieBelebtheitshierarchie bewährt, die zahlreiche grammatische und lexikalische Strukturen zu erklären in der Lage ist.
Abb. 4-1: Die Belebtheits- oder AnimatizitätshierarchieTiere
Diese Belebtheitshierarchie ist anthropozentrischAnthropozentrismus organisiert, d.h., sie speist sich primär aus der Ähnlichkeit uns umgebender Entitäten zu uns selbst (Ego). Deshalb sind Verwandte für uns belebter als andere Menschen. Da hierbei auch Agentivität und Individualität eine Rolle spielen, sind handlungsmächtige Personen wie Kanzlerinnen, Präsidenten, Politikerinnen oder Kleriker belebter als weniger agentive. Alles, was einen Namen trägt, weist ebenfalls einen hohen Belebtheitsgrad auf, v.a. dann, wenn der Referent menschlich ist (Lena). Selbstverständlich sind auch fiktive Gestalten und Artefakte, denen wir Agentivität (Götter, Helden) oder Persönlichkeit verleihen (Stofftiere, Puppen), ebenfalls als hochbelebt anzusehen. Auch Körperteile gehören dazu.
Bei den TierenTiere unterscheiden wir abermals nach Ähnlichkeit zu uns. Dies macht Säugetiere für uns belebter als Fische oder Insekten. Es folgen die schwach belebten, fortbewegungsunfähigen Pflanzen, danach inanimate, aber noch konturierte und damit zählbare Gegenstände, dann nicht-konturierte, nicht-zählbare Stoffe und schließlich immaterielle Konzepte, die i.d.R. durch Abstrakta versprachlicht werden.
Die Zusammenhänge zwischen Genus und Geschlecht sind bei genauerem Hinsehen komplex, doch gilt als die verlässlichste und produktivste (d.h. auch bei lexikalischen Neuzugängen wirksame) Regel, dass Bezeichnungen für weibliche Menschen feminin und solche für männliche maskulin sind. Es gibt kein anderes semantisches Genuszuweisungsprinzip von solch hohem Geltungsgrad. Die linguistische Genusforschung spricht hier vom Genus-Sexus-PrinzipGenus-Sexus-Prinzip. Dieses Faktum ist deshalb so bemerkenswert, weil die ursprüngliche Funktion der Genera ja nicht in der Anzeige von Geschlecht bestand. Dass aber Genus in vielen indoeuropäischen Sprachen an Geschlecht gekoppelt wurde, zeigt, dass es ein Bedürfnis gibt, menschliches Geschlecht im Genussystem und damit tief in der Grammatik zu verankern.
Die Prinzipien der GenuszuweisungGenuszuweisung im Deutschen gliedern sich in formale und semantische, die Köpcke/Zubin (1984, 1996, 2009) beschreiben. So haben Einsilber eine hohe Wahrscheinlichkeit, maskulin zu sein (Stein, Job) und Trochäen, feminin zu sein (Kanne, Gruppe). Wichtiger ist das morphologische Letztglied-Prinzip, bei dem das letzte Morphem das Genus der gesamten Wortbildung diktiert; bspw. generieren die Diminutivsuffixe -chen und -lein Neutra und überschreiben damit das Genus der Basis: der Mann – das Männchen, die Mutter – das Mütterchen. Unter die semantischen Prinzipien i.w.S. fasst man alle nicht-formalen Prinzipien (die nicht dem materiellen Wortkörper entnehmbar sind):
1 das referenzielle Prinzip, wo der konkrete Referent Genus zuweist (gilt bei Eigennamen, vgl. die Adler als Schiffs- vs. das Adler als Biername; s. Fahlbusch/Nübling 2014);
2 das СКАЧАТЬ