Название: Genderlinguistik
Автор: Helga Kotthoff
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: narr studienbücher
isbn: 9783823301523
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Lehrbücher zur Gesangspädagogik, so Grotjahn (2011), unterteilen die Singstimme zuerst nach Geschlecht. Ginge es nur um Tonhöhe, so könnte man auch ältere und jüngere Stimmen differenzieren. Da jedoch nichts für so natürlich gehalten wird wie ein stimmlicher Geschlechtsunterschied, muss der natürliche und beträchtliche Überschneidungsbereich zwischen Frauen- und Männerstimmen gebannt und die Stimmbinarität vergrößert (polarisiert) werden (boundary makingboundary making). Auch unterschiedliche Gesangstechniken tragen zur Konstruktion des Stimmgeschlechts bei und wurden naturalisiert.
Bis ca. 1800 sangen Männerstimmen in Alt- oder gar Sopranlage, entweder mit Kopfstimme (Falsett) oder als Kastraten, da es Frauen in der Kirchenmusik und teilweise auch im Theater verboten war, aufzutreten. Außerdem gab es in der Barockoper, so Grotjahn (2011), keinen Unterschied zwischen Stimmhöhe und Geschlecht, denn die hohe StimmeStimme stand weniger für Weiblichkeit als „für Göttlichkeit, StatusStatus (sozialer) und Jugend“ (ebd., 148). Damit war sie für männliche Sänger statthaft. Die hohe StimmeStimme vertrat männliche wie weibliche Götter, Liebhaber, Helden. Wenn aber Ammen als fraglos weibliche, doch statusniedrige Personen vertont wurden, dann als Tenorpartien, die von Männern gesungen wurden. „Niedrige“ StimmenStimme (Tenor, Bass) ikonisierten „niedrigen“ Stand und höheres Alter. Die Stimme war also weniger genderisiert als stratifiziert und Index für Altersklassen.
Das änderte sich im 19. und 20. Jh. gründlich. Vor allem zwischen 1830 und 1930 wurde die StimmeStimme genderisiert – und damit galt es zuvörderst, den jetzt irritierenden Überschneidungsbereich zwischen Alt und Tenor zu trennen. Der Belcanto als besonders hoher Tenor wirkte nun unmännlich und wurde durch ein anderes, tieferes und mit Bruststimme realisiertes Tenorideal ersetzt. Im Gegenzug wurde die tiefe weibliche StimmeStimme, die (‚kräftige‘) Bruststimme geächtet (sie kommt heute nur im Pop- und Musicalgesang vor), indem sie als zu männlich und auch als Gefahr für die weibliche StimmeStimme erklärt wurde.
Um die Trennlinie zwischen Tenor und Alt noch stärker zu profilieren, kamen klangliche Differenzierungen hinzu, und zwar vor allem die „Koloratur als Symbol für Weiblichkeit“: „Halsbrecherisches wie die Partien einer König der Nacht aus Mozarts ‚Zauberflöte‘ […] wird Tenören oder gar Baritönen und Bässen kaum abverlangt“ (Grotjahn 2011, 150). Diese neue Stimmästhetik der Beweglichkeit ist keine Frage der Stimmhöhe als vielmehr der Technik; sie konstruiert nun zunehmend die weibliche StimmeStimme. Umgekehrt verliert der virtuose Tenor des 18. Jhs. an Bedeutung.
Wenn aber (fast) nur noch Frauen Koloratur singen, lässt sich die Koloratur umgekehrt als Zeichen von Weiblichkeit verwenden. Nachdem in der Oper des 18. Jahrhunderts die – zumeist improvisierte – Verzierung eine Selbstverständlichkeit für alle Sänger/innen war, konzentriert sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Ziergesang immer mehr auf bestimmte Aspekte von Weiblichkeit (150).
Solche Aspekte von Weiblichkeit waren weiblich genderisierte ‚Eigenschaften‘ wie Koketterei, Eitelkeit, Wahnsinn und Hysterie (zu Weiterem s. Grotjahn 2005, 2011).
3.2 Phonologie
Ungleich schwieriger ist es, phonologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu identifizieren. Zu englischsprachigen Studien informiert ausführlich Kap. 12.
Moosmüller (2002) weist jedoch auf ein bei deutschen Frauen nicht selten zu beobachtendes (geschlechtspräferentielles) Phänomen hin, das u.W. noch kaum untersucht wurde: Es handelt sich um linguistisch unmotivierte (Über-)Palatalisierungen, die vermutlich dem Sprechen von Kleinkindern nachempfunden sind und die Frau klein, niedlich, hilfsbedürftig und ungefährlich erscheinen lassen sollen. Die Artikulation ganzer Äußerungssequenzen wird dabei im Mundraum stark nach vorne verschoben (palatalisiert), die Lippen werden manchmal geschürzt, der Kopf womöglich schräg gehalten, kurzum: das gesamte Kindchenschema wird aktiviert (Kap. 14.2). Wörter wie schön [ʃ] klingen wie „chön“ [ç], schimpfen [ʃ] wie „chimfen“ [ç] etc. Solche Aussprachen, deren Konstruktionscharakter niemand bestreiten dürfte, bedienen das Klein-Mädchen-Schema und dürften insgesamt seltener vorkommen als die naturalisierungsfreudigenNaturalisierung prosodischen Genderindices.
Echte morphophonologische Gender Marker, die auf das Geschlecht der Sprechenden verweisen, werden für die indianische Sprache Koasati (USA) beschrieben, wo Männer an jedes Verb (nicht nur in der 1. Person) ein -s zur eigenen Geschlechtsmarkierung anfügen und Frauen bestimmte Vokale nasalieren (Günthner/Kotthoff 1991, 30f.).
Zusammenfassung
Während weibliches und männliches Sprechen kaum phonologische Unterschiede birgt, existieren umso mehr prosodische. Die StimmeStimme wird im Alltag zwar als natürlich und körperbezogen aufgefasst, doch hat sie als weitgehend konstruiert zu gelten, wie historische Stimmveränderungen und kulturvergleichende Unterschiede bestätigen. Natürliche Tonhöhenüberschneidungen zwischen Frauen und Männern werden – in kulturell unterschiedlichem Ausmaß – verringert, beseitigt oder gar polarisiert. Deutliche Unterschiede bestehen in der ‚Melodie‘, d.h. im Tonhöhenverlauf, der bei Männern i.d.R. flacher ausfällt, bei Frauen bewegter und modulationsreicher. Frauenstimmen werden Kinderstimmen angeähnelt und wirken emotionaler. Lange Zeit waren Frauenstimmen von der Bekanntgabe wichtiger Nachrichten ausgeschlossen. Mittlerweile haben sich die Frauenstimmen zahlreicher westlicher Kulturen deutlich abgesenkt. Anders in Japan, wo die höchsten Stimmgrundfrequenzen gemessen werden. Dies untermauert den Konstruktionscharakter der StimmeStimme.
4. Nominalklassifikation: Flexion und Genus
Das Deutsche ist eine morphologisch komplexe Sprache. Bei den Substantiven (Nomen) praktiziert es eine zweifache sog. Nominalklassifikation: Jedes Substantiv gehört erstens einer bestimmten Deklinationsklasse (oder Flexionsklasse) und zweitens einem bestimmten Genus an. Damit ist nichts über die Wortbedeutung ausgesagt, es handelt sich um zwei rein (inner)sprachliche Klassifikationen. Während die erste Klassifikation unter der Wahrnehmungsschwelle liegt, liegt die zweite darüber: Man weiß, dass es drei Genera gibt (und macht sie meistens am Artikel der, die, das fest). Weniger bekannt ist, dass unsere Substantive unterschiedlich flektieren und dementsprechend verschiedenen Flexionsklassen angehören. Das Englische hat beide Klassifikationssysteme komplett beseitigt, andere germanische Sprachen haben sie vereinfacht, das Deutsche hat sie erhalten, teilweise sogar ausgebaut und nutzt sie zur Markierung von Sexus und Gender.
4.1 Deklination – Genus – Sexus – Gender
Die Genderlinguistik behandelt allenfalls die Genusklassifikation und fragt nach möglichen Bezügen zum Geschlecht der bezeichneten Person. Ist nur das biologische, meist an den GenitalienGenitalien orientierte Geschlecht gemeint (was auch für die hier ebenfalls zu berücksichtigenden TiereTiere gilt), spricht man von Sexus, während Gender die daran andockenden PraktikenKommunikative Aktivität der Geschlechterdarstellung (doing gender) meint (Kap. 1 und 2). Die linguistische Genusforschung, die hier rezipiert wird, praktiziert diese Sexus-Gender-Differenzierung jedoch nicht. Sie spricht fast ausschließlich von Sexus (engl. sex). Da viele Termini wie Genus-Sexus-Kongruenz fest etabliert sind, werden wir diesen biologistischen Terminus in diesem Kontext beibehalten.
Die meisten Menschen glauben schon lange an zwei Geschlechter und praktizieren sie hingebungsvoll. So nimmt es nicht wunder, dass dieses binäre Konzept tief in die deutsche Grammatik und Lexik eingesickert ist. Diese sedimentierten Strukturen beschreiben und analysieren wir im Folgenden. Das Genus- und das Flexionsklassensystem bilden besonders tiefe Schichten der Grammatik. Da wir ständig Substantive verwenden, СКАЧАТЬ