Название: Das Märchen im Drama
Автор: Hannah Fissenebert
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Forum Modernes Theater
isbn: 9783823301561
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WOLF […]
Seitdem ist aber auch mein Plan,
Unheil zu stiften, so viel ich nur kann;
Seitdem tut mir nichts gut,
Als nur der Anblick von Blut.
Ich will alles Glück ruinieren,
Dem Bräutigam seine Braut massakrieren,
Die Kinder von den Eltern trennen,
[…]15
Trotz dieser eher tragischen Töne sorgt Tieck dafür, dass die „verulkende Kontrafaktur“16 auch hier nicht zu seriös wird: Der Wolf spricht pathetisch im lächerlich anmutenden Versmaß, während Rotkäppchen saloppe und ‚falsch’ klingende Paarreime zugewiesen sind. Spätestens wenn das Mädchen die berühmtesten Sätze des Märchens mit dem Wolf tauscht, gehen Tragödie und Komödie eine Symbiose miteinander ein:
ROTKÄPPCHEN Es wollten zu Hause die beiden Alten,
Daß ich die Nacht bei dir bleiben sollte.
WOLF Das war es, was ich selber wollte. […]
ROTKÄPPCHEN […] Ei Herr Je! Was hast du für ’nen großen Mund!
WOLF Desto besser er dich fressen kunnt!17
So sind selbst die tragisch konnotierten Figuren nicht vor freundlichem Spott gefeit, auch wenn sich die Kritik vor allem gegen die aufgeklärten Erziehungstraktate richtet. Manfred Frank konstatiert folgerichtig, „dass Tieck vor allem der flach optimistischen, spießig verständigen Aufklärungs-Pädagogik, die die Angst für etwas a priori Irrationales hält und die wilde Natur verharmlost, einen lachenden Denkzettel zu verpassen gedenkt, der freilich auch über das Ideal des edlen, etwas sanskulottisch in der Wolle gefärbten Wilden (im Wolf inkarniert) das Lachen nicht zurückhalten kann“18.
Oder wie Tieck es eine Figur im Phantasus über Rothkäppchen resümieren lässt: „Es schien mir, daß die Parodie der Tragödie hier mit der Tragödie selbst zusammen fallen könne.“19 Die tragikomischen Züge des Wolfes und Rotkäppchens sind sich auch insofern ähnlich, als dass beide gerade durch ihre Verweigerung dem Schicksal unterliegen, dem sie entfliehen wollten: Rotkäppchen wird Opfer einer gewalttätigen und ungerechten Strafe, der Wolf am Ende des Stückes von einem Menschen vernichtet. Tieck schafft eine allegorische Kritik der Dialektik der Aufklärung, indem er sie als Tragödie inszeniert. Diese Tragödie unterläuft er zugleich mit einer generischen Subversion durch komödiantisch-lächerliche Darstellungen; in seiner launigen Märchenbearbeitung dramatisiert er auf diese Weise ein postrevolutionäres Einhergehen von scheinbarer ‚Liberalität’ und ängstlicher Intoleranz.20
Wie im Falle des Gestiefelten Katers und des Blaubarts wird mitnichten eine Märchensatire im Sinne einer kritischen Märchenbetrachtung betrieben, vielmehr richtet sich der Spott mithilfe der Märchengattung gegen zeitgenössische Erziehungsdiskurse, systemreferentiell gegen eine poetisierte Legendendramatik sowie explizit gegen die Regelpoesie der Tragödie.21 Bei Tiecks Rothkäppchen handelt es sich um eine im poetologischen Sinn selbstreferentielle und darüber hinaus um eine vielfältige intertextuelle Adaptation, die ihre Sympathie für die märchenhafte Vorlage durchweg aufrecht erhält.
Ludwig Tieck: Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen (1811)
Tiecks letztes Märchendrama basiert auf einem sehr ähnlichen Bearbeitungsverfahren wie die vorherigen; daher gehe ich hier nur überblickartig darauf ein, wie sich Gemeinsamkeiten und Abweichungen äußern. So geht Däumchen anders als in den anderen drei Adaptationen auf verschiedene literarische Vorlagen zurück.1 Ähnlich aber wie in Rothkäppchen deutet sich schon im Titel eine Persiflage auf eine religiös motivierte Poetik der Legendendramatik an.2 Die Parodie in Form eines dreiaktigen Märchendramas ironisiert weiterhin heldenhafte Ritterdramen wie im Blaubart – hier durch die Darstellung einer im Zerfall begriffenen Artus-Runde, in der Artus als hilfloser König Preußens fungiert.3 Weiterhin hat Tieck im Vergleich zu Perrault wieder Figuren hinzugefügt (zum Beispiel den Hofrat Semmelziege), unpersonifizierte Figuren individualisiert und Beziehungen unter ihnen neu erfunden.
Generell lassen sich drei Handlungsebenen unterscheiden: So wird, wie im Paratext angekündigt, das Märchen nach Perrault erzählt – Däumchen stiehlt einem riesenhaften Oger seine Siebenmeilenstiefel, als er von seinen Eltern ausgesetzt wird und verhilft schließlich dem König durch die magischen Fähigkeiten der Stiefel zum Sieg. Weiterhin dienen Motive aus der Artus-Sage zur Persiflage der Regierung Friedrich Wilhelms III., da die Stückhandlung in dessen Kriegszeit versetzt wird. Die Okkupation durch Napoleon wird angedeutet und die Unfähigkeit des Königs von Preußen, der von einem zwergenhaften Däumchen gerettet werden muss, herausgestellt.4
Neben diesen intertextuellen, ironischen Anspielungen auf Prätexte, Gattungen und historisches Inventar finden sich drittens gesellschaftssatirische Momente. Gut nachzeichnen lässt sich diese an der Figur des Hofrats Semmelziege: Dessen eigentlich niedere Motivationen und die banalen Zänkereien mit seiner Ehefrau werden durch seinen unangemessen erscheinenden elaborierten Sprachgebrauch der Lächerlichkeit ausgesetzt. Gegenstand des Spotts in Tiecks selbstbezüglicher Literatursatire ist die Gräkomanie.5 Semmelziege, der sich in jambischen Trimetern, dem Versmaß der griechischen Tragödie ausdrückt, wird zu deren Vehikel:
SEMMELZIEGE O Göttersöhne, Jugendfreunde, Weisheitsbrüder,
Du, Hoher, mit dem Klang der süßen Lieder,
Du, Großer, mit dem tiefen Spähersinn,
Wißt und erfahrt, der Hofrat ist dahin,
Ein Sklav, gefangen, schlimmer noch als tot,
Bin ich dem Wüttrich dort nur Pierrot.
ALFRED Ich verstehs nicht, explizier dich deutlicher.
PERSIWEIN Du siehst aus wie vom Theater, und doch nahm dein Genie ehemals einen höhern Schwung.
SEMMELZIEGE Hätt’ ich erfahren nie, was Schwung bedeutet!
Wie schön auf sichrer ebner Erde wallen!
Weh mir, ob diesem Streben nach der Höhe!
ALFRED Also bist du kuriert und ein vernünftiger Mensch geworden?
SEMMELZIEGE O Freund, dahin auf ewig sind die Tage,
Als ich des Adlers Fittich mir gewünscht,
Das Morgenrot zu rühren mit dem Scheitel,
Erfüllung übervoll der Jugendtriebe
Ward mir, die Liebe fand die Gegenliebe.
ALFRED Das halte der Henker aus. Kerl, laß dich doch in verständliches Deutsch übersetzen.6
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