Das Märchen im Drama. Hannah Fissenebert
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Название: Das Märchen im Drama

Автор: Hannah Fissenebert

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия: Forum Modernes Theater

isbn: 9783823301561

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СКАЧАТЬ im Drama praktizierten Antikenrezeption oder der von Tieck mitbegründeten Begeisterung für das Mittelalter.7 Bei Däumchen handelt es sich demnach um eine vielschichtige und satirische Vermischung der Epochen Mittelalter, Klassizismus, Aufklärung und Romantik.8 Es findet sich eine Fülle an philosophischen, naturwissenschaftlichen, poetologischen, literatursatirischen und persiflierenden Formzitaten;9 zudem gibt es ungewöhnlich viele Nebenschauplätze, und auch die Einheit von Ort, Zeit und Raum wird außer Kraft gesetzt.

      Die märchenhaften Züge werden wiederum durch den Einbruch realistischer Perspektiven betont und gleichermaßen gebrochen, wenn zum Beispiel die fachlich-handwerkliche Überprüfung der wundersamen Siebenmeilen-Stiefel mit pseudo-historischer Ursprungsklärung vorgenommen wird.10 Trotz der mannigfaltigen Bedeutungsebenen und -brüche bleibt das Märchen wie in den anderen Märchendramen als primärer Bezug immer sichtbar.

      Im Vergleich zum Gestiefelten Kater, der mit Däumchen auf Märchenebene inhaltlich und durch die Anspielungen auf den preußischen König in politsatirischer Hinsicht Parallelen aufweist, fällt die theatersatirische Dimension weniger ins Gewicht. Stattdessen ist der Ton der Bearbeitung in Bezug auf die zeitgenössischen Anspielungen generell schärfer, wie auch Scherer bemerkt:

      Das Däumchen ist drastischer in der Erfassung von Elend, Armut, Not, zeitgeschichtlich konkreter kontextualisiert und hierbei auch expliziter in der Erwähnung von Kriegsgewalt, hinsichtlich der Formverulkung […] transparenter in der Satirisierung der Figuren, weniger transparent indes mit Blick auf die allegorische Begründung, skeptischer und resignativer insgesamt im Vergleich zur einst noch geglaubten Produktivität romantischer Poesie.11

      Demnach radikalisiert Tieck in diesem späten Werk seinen früh angelegten Umgang mit Märchen – er nutzt das Märchen mit seiner charakteristischen Veranlagung zur Überzeichnung bei gleichzeitiger formaler Eindeutigkeit als artifizielle Ausdrucksform. Auf diese Weise werden künstlerische und künstliche Konventionen als solche transparent gemacht. Indem Tieck neben der Form des Märchens auch die dramatische wählt, wirkt die transformierende Verbindung von märchenhafter und theatraler Illusion implizit. Auch ohne ein parabatisches Verfahren, wie es Tieck in seinen anderen Märchendramen noch einsetzt, wird hier die Künstlichkeit der Märchenform offengelegt und im satirischen Drama als Instrument der Kritik eingesetzt.

      I.3 Resümee

      Bei Tieck lässt sich eine (durch Gozzi bereits angelegte) satirische Behandlung des Märchens beobachten, die sich nicht gegen das Märchen als Gattung, sondern vielmehr gegen die geläufigen Erwartungen an ein Märchendrama richtet. So werden im parabatischen Spiel im Spiel in Tiecks Gestiefeltem Kater konventionelle Erwartungen, die das Märchen als Gattung weckt, explizit benannt und zugleich gebrochen, wenn sich die Satire nicht den Einwänden gegen die Märcheninszenierung anschließt, sondern sich stattdessen gegen die Kritiker derselben wendet.

      Weiterhin nutzen Gozzi und Tieck, wenn auch mit unterschiedlich ausgeprägten Fertigkeiten, die Märchengattung, um zeitgenössische Debatten und Personen zu verspotten; so scheint es, als würde die generische ‚Neigung’ des Märchens hin zu Stereotypen und zur Überspitzung eine gute Plattform für derartige Satiren bieten. Beispielsweise wird in Tiecks Däumchen die märchenimmanente Überspitzung genutzt, um künstliche Gattungskonventionen und Versmaße zu spiegeln und dem Spott preiszugeben. Dies ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal des Märchens, so bedient sich etwa Tieck auch anderer Vorlagen für seine Satiren. Dennoch ergibt sich aus dem trivialen Ruf, den das Märchen mitunter hat, eine besondere Pointe, wenn gerade dieses dazu genutzt wird, scheinbar elaborierte Diskurse wie im Gestiefelten Kater oder überholte Normen wie in Rothkäppchen spöttisch vorzuführen.

      Im Zuge der Reflexion von Märchen- und Theaterkonventionen und deren immanenten Illusionsmechanismen werden bei Gozzi, vor allem aber bei Tieck, neben dem Märchen als Hauptprätext zahlreiche weitere Bezüge hergestellt. Durch diese verschiedenen Handlungsebenen und Anspielungen auf reale Umstände und Zeitgenossen wie etwa im Däumchen wird das Märchen mehrfach gebrochen und somit auch als Form unberechenbar.1 Dieser bewusste und oftmals selbstreflektierte Bruch mit den jeweiligen Erwartungshaltungen lässt die Märchendramen im Kontext ihrer Zeit aktuell und auch aus heutiger Sicht relevant werden.

      Gerade die Leerstellen im Handlungsmovens des Märchens eignen sich besonders für kritische Interpretationen, die an aktuelle Debatten und Ereignisse anknüpfen oder die sich, wie bei Gozzi, mit anderen künstlerisch-künstlichen Spielformen wie den Stereotypen der Commedia dell’arte produktiv verbinden lassen. Dabei kommt es bei beiden Autoren zu einer Aneignung der reduzierten psychologischen Darstellung im Märchen. Dies lässt sich besonders an Tiecks Blaubart deutlich ablesen, wo die lakonische Figuren- und Ereignisdarstellung des Märchens als spezifische Eigenart übernommen, revidiert und so erneut eingelöst wird. Bemerkenswert ist dabei, dass die holzschnittartigen Stereotype des Märchens teils in einer derartig widersprüchlichen Weise psychologisch gefüllt werden. Daher lässt nicht von einer einheitlichen oder realistischen Figurenzeichnung sprechen. In der dramatischen Adaptation werden die Spezifika der Märchengattung betont und weiterentwickelt.

      Zudem wird die bereits in der stilisierten, formelhaften Überzeichnung des Märchens angelegte Selbstreferentialität im sich selbst thematisierenden Drama symbiotisch gesteigert. So kommt es bei beiden Autoren zu einer wirkungsästhetischen Verweigerung, indem die Künstlichkeit des Märchens und die des Dramas betont werden. Sowohl das Märchen als auch das Drama werden bei Gozzi und Tieck zu einem Spiel mit Illusionen eingesetzt, das sich von einem Wahrscheinlichkeitsanspruch zu befreien sucht. Nachweisbar haben gerade Tiecks Märchendramen eine „vorbildstiftend[e] Funktion ironisch-ambivalenter Märchendramaturgie für die romantische Geschichtsschreibung nach 1800“2, unter anderen auf Georg Büchners märchenhafte Groteske Leonce und Lena und Christian Grabbes Märchenspiel Aschenbrödel. Manfred Frank geht noch weiter und attestiert Tieck einen grundlegenden Einfluss auf das Drama des 19. und 20. Jahrhunderts: „Die moderne Dramatik – von Pirandello zu Ionesco und Brechts epischen Theater, von der Märchenkomödie von Maeterlinck (vgl. Ariane et Barbe-Bleue, 1899) zu Giraudoux – wäre undenkbar ohne Tiecks Vorläuferschaft.“3

      Ob und in welcher Form sich die vor allem durch Tieck etablierte Herangehensweise der satirischen Märchenbearbeitung mit tendenziell selbstreferentiellem Charakter auch in neueren deutschsprachigen Märchendramen für Erwachsene durchsetzt, werde ich nun an dem vorzustellenden Korpus der Theatertexte untersuchen. Nach der Betrachtung des dominanten satirischen Charakters der Märchendramen von Gozzi und Tieck überprüfe ich im folgenden Kapitel zunächst die Hypothese, dass auch jüngere Märchendramen ähnlich starke Tendenzen zur Satire haben.

      Dabei möchte ich zwischen Märchenadaptationen unterscheiden, die als eindeutige Märchensatiren klassifiziert werden können, und jenen, die vielmehr satirische Elemente aufweisen. Nicht zuletzt werde ich erneut fragen, ob in den jüngeren Märchendramen ein vergleichbares Verfahren angewendet wird und ob eine inhaltliche und formale Satire nicht über das Märchen, sondern mithilfe der charakteristischen Wesenszüge des Märchens generiert werden kann.

      II. Disposition zur Satire

      Bei der Betrachtung der deutschsprachigen Märchendramen fällt auf, dass ungewöhnlich viele von ihnen einen stark satirischen Charakter aufweisen.1 Untersucht man die seit Beginn des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Märchendramen, handelt es sich bei über dreiviertel der Stücke um Märchensatiren bzw. Märchendramen mit satirischen Elementen. Rein quantitativ weisen die Bearbeitungen von Märchen im Drama demnach eine Disposition zur komischen und überspitzten Verfremdung auf.2 Diese kann sich sowohl im Einsatz von Sprache, Figuren und Szenen des Lächerlichen und Komischen, als auch in einem auktorialen Gestus der Belustigung äußern.3 Dabei lassen sich die Spielformen des Satirischen hinsichtlich ihres Schärfegrads unterscheiden. Hier folge ich im Wesentlichen András Horns thetischer Abbreviatur zum Komischen – СКАЧАТЬ