Название: Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit
Автор: Gisela Mayr
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik
isbn: 9783823301912
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Eine weitere wichtige wissenschaftliche Erkenntnis zur Sprach(en)bewusstheit im Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung ist, dass mehrsprachige Lernende dazu neigen, für einen Transfer nicht ausschließlich auf L1 zurückzugreifen, sondern häufig die nachgelernte Sprache L2 vorziehen: Der Grund dafür liegt darin, dass L2 im Gegensatz zu L1 bewusst erworben worden und daher leichter abrufbar ist. Da bei L1 der Spracherwerb fast ausschließlich unbewusst ist, wird diese nicht als Fremdsprache wahrgenommen. L2-Ln werden als Fremdsprachen bewusst erworben und daher von den Lernenden für einen Sprachvergleich als geeigneter empfunden als L1 (Herdina & Jessner 2002: 79; Müller-Lancé 2003: 178f.; House 2004: 64). Dieser sog. L2-Faktor führt dazu, dass sich der Erwerb einer dritten Sprache von dem einer zweiten grundlegend unterscheidet (vgl. Cenoz 2013). Unterschiedliche Vergleichsstudien haben gezeigt, dass frühe Zweisprachigkeit sich auf den Erwerb einer dritten Sprache positiv auswirkt (vgl. Lasagabaster 1997, 2006; Ringbom 2011; Safont 2003; Sanz 2000). Es wird belegt, dass ProbandInnen in Englisch L3 umso höhere Leistungen erzielen, je höher das Niveau in L1 und L2 ist (z.B. Lasagabaster 1997; Muñoz 2000; Sagasta Errasti 2003). In Studien, in denen mehrsprachige ProbandInnen Regeln einer künstlichen Sprache herausfinden mussten, erzielten sie höhere Resultate (z.B. Kemp 2009). De Angelis & Jessner untersuchten Schreibkompetenzen dreisprachiger ProbandInnen in Südtirol (De Angelis & Jessner 2012). Es stellte sich heraus, dass das Kompetenzniveau in der Drittsprache mit der Schreibkompetenz in L1 und L2 korreliert. Für diese Studie erwies sich als relevant, dass der L2-Faktor und seine Auswirkung auf den nachfolgenden Spracherwerb sehr stark von der Psychotypologie der Sprachen beeinflusst wird.1 Wird L2 als ferne und unerwünschte Sprache wahrgenommen, dann erschwert das folglich auch den Transfer von L2 auf L3/Lx. Je nach Zusammensetzung der DLC kann dies unterschiedliche Auswirkungen auf den nachfolgenden Spracherwerb haben.
4.3.2 Die emotionale Ebene
Die besondere DLC Südtirols hat zur Folge, dass L2 in fast allen Fällen Italienisch ist, zweisprachige Lernende erwerben diese im Familienumfeld von klein auf und können alle Vorteile nutzen. Einsprachig aufgewachsene Lernende hingegen erwerben Italienisch erst als erste Schulfremdsprache im Alter von 6 Jahren. Wie sich L2 auf den Erwerb weiterer Sprachen auswirkt, ist abhängig von der Haltung gegenüber dieser Sprache im Elternhaus und der sozialen Umgebung (Lasagabaster & Huguet 2006; Krumm 2003). L3 hingegen ist in der Regel Englisch. Es wäre hier im Unterricht naheliegend, L2 Italienisch als Brückensprache für L3 Englisch heranzuziehen.1 Daher wäre es nötig, L2 Italienisch für alle Lernenden abrufbar zu machen, indem die psychotypologische Wahrnehmung verändert wird. Ein Bewusstsein darüber, wie unterschiedlich Sprachen den Erwerb von L1 und L2 beeinflussen und über die Wichtigkeit von L2 für alle nachgelernten Sprachen, könnte diesbezüglich behilflich sein und wird in diesem Sinne auch einen Aspekt der MKK darstellen.
Über diese kognitiven Aspekte der Sprach(en)bewusstheit hinaus soll in der vorliegenden Studie zudem anhand der einzelnen Fallstudien aufgezeigt werden, inwiefern in heterogenen mehrsprachigen Arbeitsgruppen vorgelernte Einstellungen und Haltungen durch den Vergleich und die Interaktion mit anderen sich positiv verändern können. MKK bedeutet in diesem Fall besonders, dass Lernende die eigene Sprachbiographie im Vergleich mit anderen kritisch reflektieren und sich der eigenen Haltungen und Emotionen gegenüber Sprache(en) bewusst werden. Besonders für einsprachige Lernende bedeutet dies, Erfahrungen und Haltungen mehrsprachiger Lernender zu erkennen und anzunehmen und die eigenen dadurch zu ändern, um am mehrsprachigen Gespräch aktiv und selbstwirksam teilnehmen zu können.
Dazu ist für die Operationalisierung von mehrsprachigen Unterrichtsformen erforderlich, dass die sprachliche Identität der Lernenden – ihre Sprachbiographie – in den Mittelpunkt gerückt werden (De Florio-Hansen & Hu 2003b: VIII), denn Lernende verbinden mit Sprachenlernen nicht nur schulischen Erfolg, auch viele andere Faktoren sind von erheblicher Relevanz. So gilt es zum Beispiel, die biographische Sprachabfolge der einzelnen Lernenden, die ein komplexes persönliches Sprach- und Emotionsgefüge darstellt, zu berücksichtigen. Jede neu erworbene Sprache verschafft Zugang zu neuen Welterfahrungen und somit neuen, auch hybriden Ausdrucksformen und Vernetzungen der Realitätswahrnehmung. Der Erwerb der zweiten Sprache geht bereits mit der Erkenntnis einher, dass die eigene Identität nicht unveränderlich und starr ist, sondern sich entwickeln, verändern und erweitern kann (vgl. Javier 2007: 30). Dieses Bewusstsein wird mit jeder weiteren Sprache erweitert und wächst in seiner Komplexität (vgl. Krumm 2012: 88; Königs 2012: 79). Auch diese Form der Sprach(en)bewusstheit macht MKK aus, das Bewusstsein nämlich, dass jeder Sprechende eine ganz individuelle Sprachbiographie hat (vgl. Krumm 2001, der bei Kindern sehr erfolgreich mit Sprachenportraits arbeitet), dass mit dieser bestimmte Haltungen und Emotionen verbunden sind, die seine Sprachhandlungen ausmachen und ohne deren Verständnis Kommunikation nur zum Teil gelingen kann (zu Sprache und Emotion siehe folgendes Kapitel). Diese bislang in der Forschung unbeachteten Aspekte der Sprach(en)bewusstheit wie die kreative Dimension des Sprachenlernens, affektive Aspekte und soziales Lernen im mehrsprachigen Umfeld sowie die symbolische Dimension (cf. 4.2.1.) sind in der vorliegenden Untersuchung Bestandteil der Modellierung einer MKK.
4.4 Psycholinguistische und soziolinguistische Aspekte der MKK
Das Erfassen der kommunikativen Phänomene im mehrsprachigen aufgabenorientierten Unterricht kann nur ausreichend beleuchtet werden, wenn pluralistische Forschungsansätze eingesetzt werden. Daher ist eine Synthese zwischen psycholinguistischen und soziokulturellen Perspektiven nötig (vgl. Müller-Hartmann & Schocker von Ditfurth 2005: 14; Ellis 2003: 72f.). Nur diese Doppelperspektive bei der diskursanalytischen Auswertung der plurilingualen Aushandlungsprozesse kann die kommunikativen Leistungen der Lernenden eingehend behandeln und die damit einhergehenden Formen des sozialen Lernens erkennen und kategorisieren. Dadurch soll ein ganzheitliches Bild des Kompetenzerwerbsprozesses umrissen werden, das die Innenperspektive des subjektiven Lernens mit der Außenperspektive des sozialen Lernens und der kommunikativen Interaktion zwischen Lernenden und Lernenden bzw. Lehrenden verbindet, denn beides ist für das Forschungsdesign gleichermaßen wichtig: Es handelt sich um Aufgabenformate, welche die Lernenden dazu anregen, miteinander nicht nur ins Gespräch zu kommen, sondern im kritischen Austausch komplexe mehrsprachige Situationen zu bewältigen, indem sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und Kompetenzen aktivieren, um sich von einer lebensweltlichen Mehrsprachigkeit in Richtung bildungssprachlicher Mehrsprachigkeit zu bewegen. Dabei soll sowohl sprachliche als auch inhaltliche Kreativität nicht ausgeklammert werden, vielmehr werden die Lernenden dazu angeregt, neue Problemlösungsstrategien und Handlungsmöglichkeiten auf beiden Ebenen anzudenken (vgl. Legutke 1988; Hallet 2012b).
Zunächst sollen zwei für dieses Forschungsdesign relevante aus den insgesamt fünf Spracherwerbsmodellen vorgestellt werden, um aufzuzeigen, welche Lernprozesse im mehrsprachigen Unterricht initiiert werden, wie diese im TBLT als Verstehensprozesse koordiniert werden und zu einem mehrsprachigen Kompetenzzuwachs beitragen. Anschließend werden sprachliche Phänomene des mehrsprachigen Diskurses, die im Zuge der diskursanalytischen Auswertung besonders häufig vorkamen, in ihrer Funktion beschrieben und erläutert, da sie bei der Modellierung der MKK relevant sind.
4.4.1 Das Faktorenmodell
Das von Britta Hufeisen entwickelte Faktorenmodell (Hufeisen 2010c: 203f.) berücksichtigt beim Fremdsprachenlernen im Unterricht vorher gemachte Lernerfahrungen, insbesondere bezüglich der L2 und beim Erlernen weiterer Fremdsprachen. Nach dem Erlernen von L2 erfolgt ein qualitativer Sprung und das Erlernen weiterer Fremdsprachen unterscheidet sich von dem der L2 in vielen Aspekten, da zum Zeitpunkt des Erwerbes einer zweiten Fremdsprache die Lernenden bereits eine Reihe von Erfahrungen gesammelt und Strategien СКАЧАТЬ