Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021. Jürgen Thaler
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      Selbst dort, wo Ländlich-Dörfliches vor allem als Gegenwelt und zu transformierendes „Andere“ der Moderne gezeigt, ja funktionalisiert wird, bieten Ländlichkeit und Dörflichkeit über die noch bestehenden Verhältnisse hinaus schon von ihrer Bildkraft her zugleich auch einen Imaginations-, Orientierungs- und Erfahrungsschatz dar,42 der nicht nur zur ästhetischen Validierung der in den Texten entworfenen Geschichten, Räume und Charaktere dienen kann, sondern darüber hinaus auch an Erfahrungen, Verhaltensmuster und Erwartungen im Lesepublikum anzuknüpfen vermag, die sich in der eigenen Biografie oder in der intergenerationellen Familiengeschichte noch immer mit den Erfahrungen und Vorstellungen des Ländlich-Bäuerlichen verbinden und durch sie validieren lassen.

      5.

      Felders Ansatzpunkte zur Sozialreform auf dem Lande

      Jenseits von Folklore und Exotik oder auch regressiver Reaktion bieten bspw. die Dorfgeschichten Berthold Auerbachs und so auch die Romane und Erzählungen Franz Michael Felders vor allem Erfahrungsschätze und Verhandlungsstoffe an, anhand deren und in deren Ausarbeitung sich nicht nur eine einseitig sichtbare Durchsetzung der Moderne – mit entsprechenden Verzögerungen im ländlichen Raum und unter Vernachlässigung bzw. Diskriminierung der dort lebenden unterbürgerlichen Schichten – fassen lässt. Vielmehr umfassen und bringen diese Texte und die in sie eingebundenen Referenzen auf die Erfahrung ländlicher Räume und bäuerlicher Gesellschaftsformen, gerade in dem sie die Erfahrungen ländlicher Gesellschaften in das oben angesprochene Kommunikationsmodell einer bürgerlichen Vergesellschaftung und Kultur einbringen, ein für die Entwicklung der modernen Gesellschaften charakteristisches Wechselspiel und Verwebungsverhältnis der Erfahrungen, Formen und Vorstellungen herkömmlich ländlicher Gesellschaften mit Impulsen, Kategorien, Lebensformen und Ansprüchen der Moderne zustande, aus deren vielfältigen Verwicklungen sich dann nicht nur der Stoff der Geschichten, sondern auch die Lebenserfahrungen und Einstellungen, auch Handlungsansprüche und Erwartungen von Menschen auf dem Lande sowohl formulieren als auch erkunden lassen und wie sie zugleich in den Imaginationsräumen der Lesenden einen Wiederhall finden können. Dass sich Felders Schreiben dabei gerade nicht nur an ein ggf. städtisches Publikum wendet, das – sei es zur Unterhaltung oder auch Befremdung – angesprochen werden kann, sondern als Stimme und Sprachrohr der Landbewohnerinnen und Landbewohner für diese zu sprechen sucht und sich überdies auch an sie selbst wendet, unterscheidet den Bauerndichter Felder von anderen, die sich lediglich die Kostüme oder die Folklore des Ländlichen zugunsten eines unspezifischen Marktsegments zu eigen machen, und rückt ihn an die Seite bspw. Berthold Auerbachs (1812 – 1882) oder des von diesem verehrten Johann Peter Hebel (1760 – 1826).

      Wenn Jean Paul in seiner autobiografisch ausgerichteten Selberlebensbeschreibung (1826) fordert: „Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen“43, so geht es ihm zunächst um die mit der Reduktion der Vielfalt in dörflich-kleinstädtischen Verhältnissen verbundene Konzentration auf die ästhetischen und emotionalen Valeurs der unter diesen Bedingungen wahrzunehmenden Dinge und Personen in Natur und Gesellschaft, dann aber auch darum, das Dorf als Standort der Selbst- und Fremdbeobachtung zu bestimmen. Nicht zuletzt können Dörfer und ländliche Räume auf diese Weise nicht nur als Gegenwelten zu städtischen (und im 18. Jahrhundert noch virulent „höfischen“) Verhältnissen in Erscheinung treten, sondern zugleich als Arenen und Aushandlungsorte der Modernisierung selbst erkundet und vorgestellt werden. In dieser Perspektive erscheinen dann Reformen auf dem Land nicht lediglich als nachholende Entwicklung oder Abfallprodukte in einem über sie hinweg gehenden Modernisierungsprozess, sondern zugleich als Probestücke und Laboratorien, ja auch als andere Wege im Entwicklungsgang und in der Ausgestaltung moderner Gesellschaften selbst.44

      5.1

      Soziale und individuelle Komponenten ländlicher Sozialreformen

      Bereits in Jean Pauls Sicht erscheint das Lokale, vielfach ansonsten als Gegenstück zur Globalität gesetzt und entsprechend missachtet oder verteidigt, zugleich als ein Erfahrungsraum und Bewährungsfeld des Globalen selbst, und zwar in ästhetischer und ethischer ebenso wie in handwerklich-praktischer und lebenspraktischer Hinsicht: „und dieses herrliche Teilnehmen an jedem, der ein Mensch, welches daher sogar auf den Fremden und den Bettler überzieht, brütet eine verdichtete Menschenliebe aus und die rechte Schlagkraft des Herzens.“45 Dies lässt sich auch bei Felder wiederfinden, dass der hier angesprochene Zugang zur Lebenserfahrung und Lebensgestaltung der Bewohnerinnen und Bewohner des Ländlichen, zumal auch zur Lebenswelt und zu den Handlungsmöglichkeiten der dort lebenden Unterschichten und Randfiguren, durchaus auch eine soziale und sogar politische Seite hat, die sich mit Stichworten wie Subjektivität, Anerkennung, Empathie und Stimme („voice“)46 ansprechen lässt und die sich bei Jean Paul ebenso findet wie in den heterodiegetischen und autodiegetischen Erzählern und zusammengetragenen Geschichten und Beobachtungen Felders.

      Angesichts einer damit angesprochenen (im Einzelfall durchaus unausgewogenen) Balancierung in der Gegenüberstellung von Land und Stadt, von Lokalität und globaler Welt, Moderne und Erfahrungsformen traditionell bäuerlich-ländlicher Gesellschaften kommt den bei Felder bspw. anzusprechenden Vorschlägen zur Sozialreform in ländlichen Zusammenhängen aber nicht nur in rein planerischer, politischer oder Institutionen bezogener Hinsicht Bedeutung zu. Sicherlich stehen in Hinsicht der letzteren die unverzichtbaren, „realistischen“ Forderungen, wie sie in den Gesprächen des Lehrers Magerhuber (1866) erörtert werden, im Vordergrund, also die Notwendigkeit bürgerlicher Rechte für alle47, das Recht und die Möglichkeiten einer allen zugänglichen, dann auch weiterführenden Bildung48, Marktfreiheiten und Solidarität49 sowie allgemeines und gleiches Wahlrecht50. Nicht zuletzt geht es um genossenschaftlich organisierte Besitzverteilung51 und Produktion sowie um eine darauf gegründete Wohlfahrt für alle52. Als zentraler Bezugspunkt jedweder Landreform erscheint aber (und vor allem), „daß das Individuum vielmehr gelten müsse rein als solches und daß ihm nichts anderes als die ungehinderte Selbstbetätigung seiner Kräfte als der eines Einzelnen zu garantieren sei.“53 Wenn es dabei, wie auf den diesem Zitat folgenden Seiten, darum geht, „die Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit der Entwicklung“54 auf den Weg zu bringen bzw. zu fördern, so zielen die hier in diesen im dialogischen Muster der an Sokrates geschulten Aufklärungsdialoge eines Lessing, Wieland oder Diderot gehaltenen Gespräche aber vor allem auf die Stärkung und Etablierung eines Individuums, das in seiner Unhintergehbarkeit ebenso wie in seiner Besonderheit, Endlichkeit und Unergründlichkeit als Bezugspunkt und Träger jedweder Reform der Lebensverhältnisse auf dem Lande auch in den Erzählungen und Romanen Felders in den Fokus gerückt wird. In den dort geschilderten Charakteren und Begebenheiten erscheinen diese plastisch, auch widersprüchlich und schwankend, aber so gefasst, dass sie als Handelnde und Beobachter einer lebensweltlich bezogenen Praxis vor Augen gestellt und in ihren – teils durch die Erzähler, teils durch die Figuren selbst vertretenen – Reflexionen als Impulsgeber für ein als „teilnehmend“ modelliertes und im Sinne einer bürgergesellschaftlichen Kommunikation anzusprechendes Publikum ausgearbeitet werden. Der kolloquiale Stil, der aus den Briefen bekannt ist,55 wird in den Erzählungen auch dazu genutzt, einen Gesprächskreis und Reflexionszirkel der Lesenden zu konstituieren, der von den Möglichkeiten handelt, Subjektivität und Individualität in Richtung Selbstbestimmung und Sozialität sowohl zu entfalten als sich deren auch wechselseitig zu versichern, nicht zuletzt in der von Felder – vielleicht inszeniert, vielleicht notgedrungen, vielleicht tatsächlich selbstbewusst und künstlerisch – ausgearbeiteten, gerade in ihren Schwankungen zwischen Idiolekten, Dialekten, Soziolekten und konventionell bis artifiziell aufgebotenen poetischen Sprache, in der die Erzählungen gestaltet sind.

      Waren ältere Entwürfe eines „gebildeten Landmanns“, wie sie in der Hausväter-Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts vor Augen gestellt werden,56 deutlich ständisch beschränkt und orientierten sich an einem für den Dienstadel und die avancierten bürgerlichen Schichten СКАЧАТЬ