Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021. Jürgen Thaler
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СКАЧАТЬ sehr Aufmerksamkeit wie es dem damit einhergehenden Transzendenz- und damit Sinnverlust Rechnung zu tragen sucht. Im Sinne eines Empowerments finden wir diesen Impuls aber bspw. auch in Felders Novelle Liebeszeichen (1867) gestaltet: Durch situationsbezogenes, zugleich entschlossenes, durchaus in seinen Reichweiten begrenztes Handeln und immer nur auf Zeit und Kontexte hin angelegt, sollen sich offensichtlich auch unter den Bedingungen moderner, „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács) noch Sinn-Defizite im Medium der Literatur und des Erzählens/Schilderns/Berichtens kompensieren bzw. bearbeiten lassen.

      3.

      Felders Dorfgeschichten

      Insoweit ist es gerade die räumlich-zeitlich und zugleich von Personal und Horizonten her beschränkte Form der Dorfgeschichte31 – und dies lässt sich dann auch auf das Verhältnis von Landreform und Literatur übertragen –, die einer unter den Bedingungen der Moderne ebenso fragmentierten wie pluralisierten Wahrnehmung der Wirklichkeit des Lebens „auf dem Lande“ Rechnung zu tragen sucht. Nicht zuletzt bestehen ihre Funktion und Bedeutung wohl darin, dass die Möglichkeiten (und Grenzen) realistischen Schreibens um 1850 ebenso zur Wahrnehmung, auch Erfahrung und Gestaltung von Wirklichkeit, in den begrenzten Räumen ländlicher Lebenswelten beizutragen vermögen32 wie sie eine Phänomenologie der Erfahrung unter den Bedingungen der Moderne vorstellen können. Zwischen der „Einübung des Tatsachenblicks“33 durch Fragestellungen, Techniken und Erfahrungsformen empirischer Forschung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und der modellierenden Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse durch Theorie-Ansätze und nicht zuletzt auch in politisch-ideologischen Programmen kommt dabei der „schönen Literatur“ (den belles-lèttres) wie auch anderen Künsten, so hat es Maurice Merleau-Ponty in seinen Radiovorträgen des Jahres 1948 hervorgehoben, die Funktion zu, eine Art Vermittlung zwischen Anschauung und Erkenntnis zu leisten, die sich im Falle einzelner Werke in spezifischen Situationen nicht nur als Impuls für weiteres Handeln (bspw. im Sinne eines Klassenstandpunkts oder – individuell bezogen – Empowerments)34 bestimmen lässt, sondern auch deren soziale Gestaltungsmöglichkeiten und historischen Grenzen vor Augen stellt: „Das Herz der Modernen“, so Merleau-Ponty, „ist […] ein intermittierendes Herz und vermag nicht einmal, sich selbst zu erkennen. Jedoch sind nicht allein die Werke der Modernen unabgeschlossen, sondern die Welt selbst, die in diesen Werken ausgedrückt ist, gleicht einem unabgeschlossenen Werk, von dem man nicht weiß, ob es jemals einen Abschluss finden wird. Sobald es sich nicht mehr nur um die Natur, sondern um den Menschen handelt, verdoppelt sich die Unabgeschlossenheit der Erkenntnis, die durch die Komplexität der Dinge bedingt ist, durch eine grundlegende Unabgeschlossenheit.“35

      Felders Texte, von denen angesichts der Begrenzung von Raum und Zeit hier nur zwei etwas genauer angesprochen werden können: Liebeszeichen (1867) und Ein Ausflug auf den Tannberg (ebenfalls 1867 gedruckt) bieten in ihrer Konkretion ziemlich genau das, was hier im Rückgriff auf Merleau-Ponty als Möglichkeit und Leistung der belles-lèttres unter den Bedingungen der Moderne zur Verlebendigung ländlicher Lebenserfahrungen und Lebensverhältnisse erwartet und vermittelt werden kann: Sie handeln von den Lebensbedingungen ländlicher Gesellschaften im Konkreten, von der Besonderheit der angesprochenen Individuen, ohne sie in ihrer Komplexität und damit auch Uneindeutigkeit zu reduzieren. Das freilich beansprucht zugleich eine Leserin, einen Leser, der bereit (befähigt) ist, die damit angesprochenen Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten nicht nur anzunehmen, sondern sie auch im Sinne des oben mit Tenbruck angesprochenen gesellschaftlichen Bedarfs an kultureller Reflexion mit den eigenen Lebenserfahrungen und Wirklichkeitskonzepten in Verbindung zu bringen. Für das hier in Rede stehende Handlungs- und Arbeitsfeld der Landreform hat diese Aufladung mit Komplexität, wie sie ästhetischen Gebilden eigen ist, freilich auch Konsequenzen, die noch einmal über sozialgeschichtliche (oder politische) Aspekte eines in diesem Sinne engagierten Schreibens hinaus die Eigenart der Texte Felders auch hinsichtlich ihrer ästhetischen Gestalt und ihres historischen (auch aktuellen) Stellenwerts in den Blick rücken. Ob damit die Waage, wenn sie in Richtung ästhetischer Valenz ausschlägt, dies zugleich auf Kosten politischer Relevanz/Eindeutigkeit machen muss, oder ob diese gerade als Wert die politische Bedeutung vielleicht auch erhöhen kann (ggf. auf Kosten einer vermeintlich zu erwartenden Eindeutigkeit, die selbst im Politischen schadet), wäre im Blick auf die einzelnen Texte – und sicherlich kontrovers – weiter zu diskutieren.

      4.

      Landreform und Literatur unter Bedingungen der Moderne

      Dafür, dass es möglich ist, Gesellschaft als einen umfassenden und zugleich in seiner Totalität auch fassbaren Zusammenhang zu erkennen, ja zu erfahren – und erst recht, wenn es dann darum gehen soll, diese im Ganzen als Handlungsfeld zu gestalten, zu bearbeiten und ggf. zu „verbessern“, wie dies hier unter dem Aspekt der Landreform angesprochen wird –, braucht es natürlich auch eine Schulung der Wahrnehmung, eine auf die Ermöglichung von Kommunikation hin angelegte Form der Beobachtung und Darstellung, also auch die Zusammenstellung von Gegebenheiten zu einer mehr oder weniger kohärenten Geschichte, zudem mit Verweisen auf entsprechende Kontexte. Nicht zuletzt geht es dabei um die Vorstellung, Sichtbarmachung und Plausibilisierung von Individuen und Gruppen in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie sich in der Literatur der Moderne im Anschluss an das 18. Jahrhundert finden und sich so in den Romanen Stendhals, Austens, Trollopes, Gottfried Kellers oder auch Balzacs, später bei Virginia Woolf oder auch William Faulkner und John Cheever, wiederfinden (und lesen) lassen.

      Dass dabei der Weg zur Moderne zumal auch in soziologischen und modernetheoretischen Perspektiven an der Entwicklung der Stadt und im Blick auf die aufkommende, sich dann durchsetzende Industriegesellschaft beobachtet und diskutiert wurde, stellte in diesem Rahmen freilich erst einmal nur eine Option dar, an der gemessen die Rolle, der Reichtum und die Aussagekraft von Erfahrungen des Ländlichen allenfalls als Residualkategorie oder als zurückliegender Ausgangspunkt einer Reise, die ins unumkehrbar Moderne führen sollte, angesehen wurde.36 Freilich trifft diese Gegenüberstellung in Wahrheit noch nicht einmal auf die angesprochenen Romane einer klassischen „realistischen“ Literatur selbst zu, in denen gerade doch auch ländlichen Räumen und den Erfahrungen ihrer Bewohner, man denke etwa an Stendhals Le Rouge et le Noir (1830), gerade im Blick auf die Gegenwart des 19. Jahrhunderts beträchtliche Aufmerksamkeit eingeräumt wird.37 Auch aktuell trägt eine solche einlinige Ausrichtung avancierter Literatur auf die Gegebenheiten einer städtisch geprägten Industriemoderne noch immer weder der Bevölkerungsverteilung noch den Erfahrungsschätzen von Menschen unter den Bedingungen fortschreitender gesellschaftlicher und industrieller Modernisierung Rechnung. Vielmehr, so ließe sich im Rückblick auch auf die Dorf- und Landlebensliteratur des 19. Jahrhunderts, innerhalb deren die Konjunktur und Bauformen der Dorfgeschichten einen prominenten, gerade aktuell auch wieder „entdeckten“ Platz einnehmen,38 sagen, stellen sowohl die ländlichen Räume selbst als auch ihre Schilderungen und Gestaltungsformen in der Literatur eine andere, eine weitere Diskursarena dar, wenn es darum geht, sowohl die Prozesse der Modernisierung ganzer Gesellschaften als auch deren Verarbeitung, Wahrnehmung und Ausgestaltung von Seiten beteiligter Individuen und Gruppen zu erkunden.39

      Gerade wenn zudem der Entwicklungsgang moderner Gesellschaften nicht als universell angelegter einliniger Prozess verstanden wird, in dessen Sog nahezu alle Verhältnisse sich bestenfalls in unterschiedlichen Zeitstufen, aber immerhin linear modernisieren, sondern etwa im Rahmen der von dem Soziologen Peter Wagner vorgelegten Moderne-Theorie von Phasen, Etappen und Schüben restringierter, fragmentierter und auch von unterschiedlichen Entwicklungsgängen überlagerter und in sich widersprüchlicher Modernisierung gesprochen werden kann,40 erscheinen ländliche Gesellschaften und Lebensverhältnisse auch nicht mehr lediglich als Residuen vormoderner Prägung, die sich in Auflösung oder im Gange des Verschwindens befinden. Vielmehr stellen sie sich – wie andere Lebensräume auch – als Erfahrungs- und Handlungsräume, zumal aber auch als Symbolvorräte und Kommunikationsangebote dar, in denen unterschiedliche Orientierungen, Erfahrungsschätze, Sinnreservoire und nicht zuletzt deren Verobjektivierungen, auch Verfestigungen und ggf. Verzerrungen zu Traditionen, Institutionen und СКАЧАТЬ