Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021. Jürgen Thaler
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СКАЧАТЬ der Natur, die Macht der Kirche und die für die Bauern nahezu schicksalsgleich in Erscheinung tretenden Ansprüche der politischen Macht, hier gezeigt an einer Lotterie, die die Rekrutierung der Armen zum Militärdienst bestimmt,73 werden als Rahmenbedingungen für ein auf die Veränderung bzw. Besserung der Verhältnisse eintretendes Handeln drastisch und mächtig gezeigt. Ihnen entgegen zu treten erfordert neben Mut eben auch Glück, das – so wird es in der Erzählung vorgestellt – durchaus wiederum auf Entschließung und Tatkraft angewiesen ist, die zumal hier von einer jungen Frau ausgeht. War zunächst der Kuss als „Liebeszeichen“ intendiert (und missverstanden worden), so ist es nun ein Kleeblatt, das als Glücksbringer in der Lotterie hilft, vor allem aber auch die Zuneigung und damit die Tatkraft einer unterstützenden Liebe für individuelles Handeln und eine ggf. emanzipatorische Praxis in den Vordergrund stellt. Freilich lässt die Geschichte offen, was des Weiteren daraus unter den genannten Bedingungen zu werden vermag.

      Das unverfügbaren Mächten, zumal der Natur, dem Wetter, aber auch der sozialen Lage und nicht zuletzt der eigenen menschlichen Natur Ausgesetztsein bildet dann auch den Rahmen für die Schilderung des „Ausflugs“ einer Gruppe von Bauern im Winter zur Hochzeitsfeier auf dem Tannberg. Ängste sind für diesen Ausflug, der sowohl der Neugier als auch den dörflich-verwandtschaftlichen Verpflichtungen geschuldet ist, ebenso zu überwinden wie eisige Schneeflächen. Es drohen Abstürze und Lawinengefahr, ebenso aber auch ggf. böse Geister und eigene Unpässlichkeiten, so dass das Unternehmen, ebenso wie seine Erzählung, letztlich vor allem dadurch gelingt, dass Entschlossenheit und Vorsicht gleichermaßen den Ton angeben, zu deren Unterstützung dann auch noch Gebete, magische Praktiken, solidarische Hilfe, Gewohnheiten und nicht zuletzt Zufälle herangezogen werden müssen. Letztlich ist es dieses Durcheinander der Sinnreservoire und Orientierungen, auch der Erfahrungen und Vorstellungen, nicht zuletzt der Wahrnehmungen und Intentionen, das sowohl den Charakter der Reise und des Hochzeitsfestes, in dessen Zentrum eine Art Teufelstanz nahezu alle Besucherinnen und Besucher, zumal die Braut in ihren Bann zieht, als auch den Reiz der vorliegenden Erzählung ausmacht. Dabei wird die Erzählung von einem teilnehmenden, ebenfalls in unterschiedlichen Stimmungen, Beobachtungen und Vorstellungen befangenen Erzähler getragen, dessen Schwankungen und Reflexionen zusätzlich die Unruhe der Reise und des Tuns hervorheben:

      „Ich sorgte weniger für heute als für die kommenden Tage. […] Aber warum nur ans Schlimme denken? Stürme und Gefahren gibt’s auch, wenn’s nicht schneit […]. Ich gab keinem Einwand mehr Gehör und zog trotzig den Hut auf die Stirn herunter, als mir der Sturm die ersten gefrorenen Schneeflocken entgegentrieb.“74

      Versuche, unter diesen Bedingungen eine gelingende Reise, ein einigermaßen als glücklich zu nennendes Leben zu führen, erst Recht Versuche zur Besserung der Verhältnisse auf den Weg zu bringen, so legt es der Erzähler ebenso nahe wie die Erzählung davon berichtet, bedürfen ziemlicher Entschlossenheit und solidarischen Zusammenhalts, sind allerdings zugleich auch von der Kontingenz und ggf. Gewogenheit der Umstände abhängig. Beten könnte hier ebenso helfen wie magische Praktiken, während die Disproportionalität von Erwartungen und Bedarf auf der einen, Aufwand und Ergebnis auf der anderen Seite vom Erzähler in teils skeptischen, teils humoristischen Betrachtungen sowohl vorgetragen als auch repräsentiert wird. Statt eine Art Selbstmord zu begehen durch Beten in der kalten Kirche, zieht dieser es vor, zuhause zu bleiben, da „der liebe Gott […] auch wisse, wie einem halb erfrorenen Bäuerlein zumute“75 ist, und mehr noch, statt zu beten, bevorzugt er es, die Zeitung zu lesen, woraus er durch die Einladung zur Hochzeit aufgeschreckt wird. Alltagshandeln wie die Bewältigung der durch Natur und Herrschaft gesetzten Anforderungen können, so erzählt es diese Geschichte, immer nur ansatzweise und unter Einbeziehung aller möglichen Hilfsmittel, vom christlichen Beten über den Schnaps bis zu magischen Praktiken, mit Alltagsvernunft und lebenspraktischem Wissen wie mit Ortskundigkeit, Neugier und vorhandenen Erfahrungen angegangen und erfolgreich bearbeitet werden.

      Für eine mögliche Besserung des Lebens der Menschen auf dem Land, davon berichtet Felder an dieser Stelle, ist deren Eingebettetsein in herkömmliche Erfahrungs- und Vorstellungsschätze ebenso zu berücksichtigen und zu nutzen wie deren Tatkraft und Entschlossenheit, Gemeinsinn und u. U. auch Exzentrik anzuerkennen sind. Die Subjekte, auf deren Repräsentation und Empowerment diese Texte zielen, werden in ihrer Verwobenheit, in den Wirren der unterschiedlichen Erfahrungen, Bedürfnisse und Sinnbezüge gezeigt. Damit ist zu arbeiten und hier ist anzusetzen, wenn es um Reformen auf dem Lande geht und darum, hierfür Menschen zu gewinnen, ohne deren Umschulung oder gar Vernichtung zugunsten eines „neuen Menschen“ ins Auge zu fassen. Wer im Blick auf das Ineinander-Verwobensein von Tradition und Moderne nach Vergleichbarem dazu sucht, könnte zum einen auf die Spur kommen, wie sie in ungefähr zeitgleichen Umständen Heinrich Heine mit seiner Studie zu den Elementargeistern (1837) gelegt hat. „In Westfalen, dem ehemaligen Sachsen, ist nicht alles tot, was begraben ist.“76 Postkolonial orientiert, ließe sich zum anderen feststellen, dass die Stimme der Subalternen auch hier bei Felder zu Wort kommt und im literarischen Spiel einen bis heute klingenden Resonanzraum zu finden vermag.

      1 Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt am Main: S. Fischer 1992, S. 80.

      2 Inwieweit sich Lektüre als Gestaltungsmittel, Verständigungsmedium und auch Verstehenshilfe in privaten, intimen Beziehungen des 19. Jahrhunderts nutzbar machen ließ, selbstverständlich zugleich auch neue Felder der Missverständnisse und der Grenzsetzungen eröffnete, hat Dan Hofstadter anhand der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts gezeigt. Vgl. Ders.: Die Liebesaffäre als Kunstwerk. Berlin: Berlin Verlag 1996; für weitere, v.a. auch milieu- und schichtenbezogene Zusammenhänge vgl. Hans Dieter Zimmermann: Vom Nutzen der Literatur. Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der literarischen Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 97 – 104 und bspw. Rolf Engelsing: Dienstbotenlektüre im 18. und 19. Jahrhundert. In: Ders.: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978, S. 180 – 224.

      3 René König: Gesellschaft. In: Das Fischer Lexikon Soziologie. Hg. von René König. Frankfurt am Main: Fischer 1967, S. 104 – 112, hier S. 105.

      4 Namentlich die „Erfindung“ der Gesellschaft durch die Etablierung der Soziologie als einer eigenständigen, auf diese Totalität hin bezogenen Wissenschaft und deren ebenso auf Praxis wie auf Verstehen und theoretische bzw. geschichtsphilosophische Rahmung ausgehende Konzeptbildung. Vgl. Helmut Klages: Geschichte der Soziologie. München: Juventa 21972; Albert Salomon: Fortschritt als Schicksal und Verhängnis. Betrachtungen zum Ursprung der Soziologie. Stuttgart: Enke 1957.

      5 Vgl. dazu Gottfried Willems: Geschichte der deutschen Literatur. Band 4: Vormärz und Realismus. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2014, S. 20f.; Richard Brinkmann: Zum Begriff des Realismus für die erzählende Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Darmstadt: WBG 1974, S. 222 – 235, hier S. 222 – 229.

      6 Siehe Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen [1944]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.

      7 Siehe Dieter Claessens und Karin Claessens: Kapitalismus als Kultur. Entstehung und Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.

      8 Siehe Christian Graf von Krockow: Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890 – 1990. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 17 – 29.

      9 Siehe Werner Nell: Vom Landbewohner zur Bürgerin. In: Ders. und Marc Weiland (Hg.): Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin: Metzler 2019, S. 101 – 107.

      10 Ulrich Bräker, der „arme Mann von Toggenburg“, ist hier ebenso zu nennen wie Johann Peter Hebel, u. a. ein Vorbild Berthold Auerbachs. Für diese Zusammenhänge vgl. Marcus Twellmann: Nachwort. In: Ders. (Hg.): Berthold Auerbach. Schriften zur Literatur. Göttingen: Wallstein 2014, S. 267 – 304, hier S. 271 – 285; СКАЧАТЬ