Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2021. Jürgen Thaler
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СКАЧАТЬ also Verbesserung des Landlebens durch Bildung im Rahmen einer von Gerhard Sauder so beschriebenen „verhältnismäßigen Aufklärung“57 zum Ende des 18. Jahrhunderts eine breitere Resonanz, die sich nun auch über die Träger einer durch Schriftlichkeit und Literatur getragenen Volksbildung tatsächlich den Bauern, sicherlich erst einmal nur denjenigen, die über Hof und Grundbesitz verfügten, zuwandte. Neben Lehrern und Pfarrern sowie adligen, religiös ausgerichteten Grundherren von der Art der Zinzendorffs und einigen frühen volkskundlich ausgerichteten Ethnographen58 treten dabei vor allem einzelne Menschen und ihre Charaktere bzw. Schicksale in Erscheinung, die vor dem Hintergrund z. B. gescheiterter theologischer Studien als reisende Beobachter oder experimentierende Pädagogen das Land und seine Bewohnerinnen und Bewohner erkunden und zur Sprache bringen. In verschiedenen Regionen sind es nach 1815 dann auch landesherrschaftliche Behörden und deren einzelne Vertreter, die Schulbildung, Infrastruktur, öffentliche Wohlfahrt und in dieser Hinsicht dann auch Agrar- und andere Landreformen auf den Weg bringen (z. B. in Rheinhessen und der Kurpfalz; in Preußen und Baden).59

      Für die weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert, und so auch für Felders Denken und Parteinahme, dürften dazu auch die gesellschaftsreformatorischen Impulse etwa der französischen Frühsozialisten im Zeitbewusstsein gelegen haben; bspw. Charles Fouriers Konzeption von Mustergütern, in denen sowohl der landwirtschaftlichen Produktion als auch der Emanzipation sinnlicher Erfahrungen Aufmerksamkeit geschenkt wird, wobei der letzte Punkt auffälliger Weise eben auch in Felders Freude am Küssen in den Liebeszeichen wiederzufinden ist. Auch in anderen Entwürfen „neuer“, auf Egalität und Wohlfahrt, aber auch auf individuelle Selbstertüchtigung ausgerichtete Modelle, wie sie bspw. von Robert Owen (1771 – 1858) ausgehend in verschiedenen Kolonien der „Neuen Welt“ als Genossenschaften eingerichtet wurden,60 finden sich Vorlagen für die Vorstellungen Felders. Felders besonderer Zugang besteht freilich darin, dass er anders als der mit seinen Anhängern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts außerordentlich einflussreiche Henri de Saint-Simon, auf dessen Impulse immerhin der Aufstieg der modernen Sozialwissenschaften in einem Zweig zurückgeführt werden kann, neben wissenschaftlich-technischen Orientierungen, die in den Magerhuber-Gesprächen mit Verweisen auf den US-amerikanischen Nationalökonom Henry Charles Carey (1793 – 1879) – sicherlich unzureichend – angesprochen werden, vor allem die Selbsttätigkeit und auch Selbstertüchtigungsmöglichkeiten des Individuums in den Vordergrund stellt. Karl Wagner hat in seinem instruktiven Aufsatz Vom Schreiben auf dem Lande. Felders und Roseggers Anfänge auf die Gefahren hingewiesen, denen ein länger lebender Land- und Sozialreformer Felder im weiteren Fortgang des 19. Jahrhunderts vielleicht ausgesetzt gewesen wäre: „Felders früher, tragischer Tod hat ihn auch davor bewahrt, in einer der ideologischen Fallen zu landen, die das 19. Jahrhundert nicht nur für seinesgleichen parat hatte.“61 Wäre er bei dem in den literarischen Texten in Szene gesetzten sinnlichen Materialismus und Individualismus, der Leibgebundenheit von Erfahrungen und Glücksstrebungen geblieben, die seine Figuren in ihren Ambivalenzen, auch unglücklichen Konstellationen ausmachen, so wäre die Umwendung bzw. Umdeutung seiner Konzepte in nationale, nationalistische oder sonstwie integralistische Strebungen und Programme, wie sie dann vom 19. Jahrhundert bis in 20. Jahrhundert weiter ihre Schatten geworfen haben, vielleicht schwerer gefallen als bei anderen – zumindest lässt sich an diese Stelle von heute aus eher an die kommunalistischen, kommunitären Impulse in Felders Denken anknüpfen.

      5.2

      „Wendung aufs Subjekt“ – Felders sozialer Individualismus

      Neben Felders Beiträgen zur Publizistik, zur Aufklärung über die Möglichkeiten und Ziele politischer und sozialer Partizipation der Landbevölkerung und über seine Stimme im literarischen Feld der Dorfliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus sehe ich die Bedeutung seines literarischen Schaffens, um die These, unter der ich im Folgenden die beiden bereits genannten Texte etwas genauer vorstellen möchte, vorweg zu nehmen, in dem, was sich mit einer Formulierung Theodor W. Adornos als „Wendung aufs Subjekt“62 bezeichnen lässt. Dies gilt zum einen für die Glücks- und Liebesgeschichte des jungen aus der Fremde der Stadt Bregenz ins heimatliche Schoppernau zurückkehrenden Lehrers Franzsepp, wie sie mit uneindeutig schwankenden Charakteren in ungesicherten, ebenfalls ambivalenten Verhältnissen in der Novelle Liebeszeichen von 1867 entwickelt wird. Dies gilt zum anderen für die schnell wechselnden Naturgegebenheiten und Wetterverhältnissen, aber auch noch sonstigen Gefahren ausgesetzte Reisegruppe des Ausflugs auf den Tannberg (1867), zu deren „zufällig“ letztlich erfolgreicher Heimkehr Ortskenntnisse, Vorsicht und Solidarität ebenso beitragen wie Gottvertrauen und diverse andere Kraftquellen, nicht zuletzt magisches Denken und unerwartete Begebenheiten, insbesondere aber auch die Hilfsbereitschaft und Fürsorge der Nachbarn und weiterer Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner, schließlich ein ebenso aufmerksam beobachtender wie um Kontingenz und Mehrdeutigkeit bedenklich wissender, zugleich mitwandernder Erzähler. Sicherlich geht es in diesen beiden Texten zunächst um die Schilderung der schweren und bedrückenden Lebensverhältnisse in den Umständen der durch die Natur, aber auch durch Kirche und Herrschaft hart bedrängten Bauern und anderer Bewohnerinnen und Bewohner der Vorarlberger Täler und Höhen. Es geht aber auch darum, deren Hoffnungen, Handlungskompetenzen und Erfahrungen zu beschreiben, vorhandene Fähigkeiten und Wünsche so zur Erscheinung zu bringen, dass sie als Ansatzpunkte zur Stärkung der Subjekte von innen gesehen und verstanden werden können. An zentraler Stelle heißt es dazu aus der Innenperspektive des Lehrers: „‚Meine Kraft ist nicht, um sie von Zweifeln verzehren zu lassen. Heute noch soll es sich entscheiden, wozu ich sie zu brauchen habe‘“.63

      Anders aber als andere Landreformer erzählt Felder nicht von außen und nicht programmatisch, sondern fallbezogen und im Wissen um die Mehrdeutigkeit und die schwankenden Charaktereigenschaften seiner Protagonisten, deren Ungesichertheit die wechselvollen Umstände in Natur und Gesellschaft entsprechen und deren angestrebte Ziele sich nur in einer Mischung aus Erfahrung, Zufall und Kooperation in Reichweite bringen lassen. Schon die Eröffnungsszene, die den aus der Ausbildung heimkehrenden zukünftigen Lehrer an einer Brücke zeigt, von der aus er Papierblätter ins Wasser wirft und über deren weiteren Verbleib spekuliert, macht darauf aufmerksam, dass Geschichten, Handlungen und Geschicke keineswegs handhabbar zur Verfügung stehen oder gar einem Schicksal oder einer eindeutig identifizierbaren historischen Bestimmung unterliegen. Vielmehr ist es die „Veränderlichkeit“64, die sicherlich belastet, zugleich aber den Einsatz für etwas Bestimmtes, zumal für Neuerungen65 lohnend erscheinen lässt. In dieser Hinsicht ist der Lehrer von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten schulreformerischer Impulse überzeugt, die dann auch auf gute Resonanz stoßen: „Erst jetzt erzählten die Kinder begeistert, wie ordentlich ihnen im letzten Winter alles gezeigt und erklärt worden sei, wie der […] Lehrer sich immer bemühte, auch Schwieriges leicht und fasslich zu machen.“66 Zugleich bleiben aber die Ambivalenz der Verhältnisse, auch der eigenen Charakterzüge und Wahrnehmungen67 ebenso bestehen wie die Macht der alten Verhältnisse68, Schicksalsglaube69 und nicht zuletzt die Unwägbarkeiten der Umstände allen guten Vorsätzen gegenüber gegenläufige Macht ausüben können.

      Wenn Dichtungen, wie dies Sigmund Freud in seinen Überlegungen zur Fantasie der Dichter darstellt, niedergeschriebene Tagträume sind,70 Literatur imaginäre Wunscherfüllung bietet und die Kraft literarischer Imagination deshalb an einer Realität, wie sie ist, ansetzen muss bzw. kann, wenn sie, wie dies Northrop Frye beschreibt, den Entwurf einer besseren Wirklichkeit und Gesellschaft vorstellen und möglich werden lassen will,71 so stellt die Erzählung um den jungen Lehrer, der mit neuen Ideen ins Dorf kommt, zunächst an falscher Stelle einen Liebesbeweis zu ergattern sucht, was ihn erst einmal zu einem Ausgestoßenen werden lässt, der dann aber durch glückliche Umstände und dank der Klugheit und Tatkraft einer anderen jungen Frau doch noch Liebe, Anerkennung und Ansatzpunkte auch für die Reform der Schule und damit des dörflichen Zusammenlebens gewinnen kann, eine Modellgeschichte dar, die das Wünschen zu forcieren und die Tatkraft der selbstverantwortlich Handelnden zu stärken sucht. Eingelagert ist diese Erzählung von einer eigenständigen Suche nach dem Glück („the pursuit of happiness“) allerdings in durchaus СКАЧАТЬ