Übungen im Fremdsein. Olga Tokarczuk
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Название: Übungen im Fremdsein

Автор: Olga Tokarczuk

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783311703044

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СКАЧАТЬ Merkmalen und Eigenschaften abhänge, was wir für sie tun könnten). Dass manche Menschen nicht unserer Rasse angehörten, berechtige uns schließlich nicht, sie auszubeuten. Dasselbe habe für die Tiere zu gelten – die Tatsache, dass sie nicht unserer Gattung angehörten, berechtige uns nicht, ihnen Leid zuzufügen.

      Singer ist Utilitarist, das heißt, ethisch ist für ihn ein Verhalten, das für die Betroffenen die bestmöglichen Konsequenzen hat. »Bestmögliche Konsequenz« ist für Singer, was der Verwirklichung ihrer Interessen dient und nicht nur – wie im klassischen Utilitarismus Benthams – ihr Wohlbefinden steigert und ihren Schmerz mindert. Mit Bentham verweist Singer auf die Fähigkeit zu leiden als wesentliches Merkmal, das gleichsam jedem Wesen das Recht gebe, mit anderen leidenden Wesen, auch mit dem Menschen, auf eine Stufe gestellt zu werden.

      In der buddhistischen Philosophie gibt es den Begriff des »fühlenden Wesens«. Er wird allgemein als Bezeichnung sowohl des Menschen als auch anderer, nichtmenschlicher Lebewesen gebraucht. Es ist eine besondere, ungewöhnliche Kategorie, die nichts mit der Vernunftbegabung zu tun hat, sondern sich auf die Fähigkeit zum Empfinden von Leid und Freude, zur körperlichen und geistigen Teilhabe an der Welt bezieht. Einen solchen Zugang hat unsere Philosophie erst vor zweihundert Jahren entdeckt. Singer begreift die Fähigkeit zu leiden in eben diesem Sinne und ist darin stark dem buddhistischen Denken verpflichtet. Zugleich meint er, dass sich die Widersprüche und Missverständnisse im Denken über die Tierrechte mithilfe des Verstandes lösen ließen. In Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere zeigt er seinen Lesern, wie sie ihren Standpunkt logisch und rational darlegen und auf Gegenargumente erwidern können. Er glaubt, dass der Gegner seine Ansichten ändert, wenn man ihm Unlogik oder Inkonsequenz nachweist.

      Zusammenfassend können wir sagen: Singer zeigt auf, dass unser von Grausamkeit geprägtes Verhältnis zu den Tieren eigentlich unreflektiert ist. Es gründet auf Vorurteilen und entbehrt jeglicher Logik. Es ist ein Fehler im logischen Denken, der das selbstsüchtige und primitive Beharren auf den Privilegien rücksichtsloser Ausbeuter rechtfertigt. Und wenn wir nur erst unseren Verstand in seinem vollen Umfang nutzen, wie er es verdient, dann werden wir erkennen, wie primitiv und inkohärent die cartesianische Logik ist.

      Können Einsicht und Empathie Instrumente der Erkenntnis sein?

      Betrachten wir nun ein Buch von John Maxwell Coetzee. Für mich ist das eine Literatur, die mit einfachen (oder einfach wirkenden) Mitteln konsequent und kühl alles auf die Probe stellt, was wir für offensichtlich und gesichert halten. Die Resultate dieser plutonischen Revisionen erweisen sich meist als schockierend.

      Das Leben der Tiere ist ein in vielerlei Hinsicht besonderes Buch. Bemerkenswert ist vor allem die Geschichte seiner Entstehung. Als der bekannte Schriftsteller J.M. Coetzee eines Tages zu einem Vortrag über ein beliebiges Thema an die ehrenwerte Princeton University eingeladen wird, verfasst er keinen Vortrag, sondern eine Novelle über eine fiktive Schriftstellerin, die zu zwei Vorträgen an eine andere ehrenwerte Universität kommt. Auf diese Weise wird Elizabeth Costello ins Leben gerufen, eine anerkannte siebzigjährige Autorin. Costello ist fortan mindestens ebenso real wie Coetzee – der Autor. Eigentlich ist sie sogar realer, weil die Fiktion in gewisser Hinsicht mächtiger ist als die Wirklichkeit und ihre Figuren echter sind als die lebenden Menschen. Das ist das große Geheimnis der Literatur. Coetzee – ein Meister der Distanz – weiß das genau und tritt aus dem eigenen Vortrag zurück in den Schatten, hinter die Kulissen der Bühne, die er vor unseren Augen errichtet.

      In ihren Vorträgen spricht Elizabeth Costello über Tiere, obwohl das Publikum eher ein literarisches Thema erwartet. Wir verfolgen die Auftritte der Schriftstellerin wie reale Ereignisse, wir verfolgen ihre Gedankengänge, aber dank unserer bevorzugten Stellung als Leser erfahren wir darüber hinaus auch etwas über den psychologischen und biographischen Hintergrund der Vorträge. Coetzee scheint zu sagen, man könne die Ansichten eines Menschen nicht von ihm selbst trennen; die Auffassungen und Überzeugungen einer Person ließen sich nur im Zusammenhang betrachten, im Gesamtbild dessen, was diese Person ausmache – ihre Beziehungen zur Welt, ihre Emotionen, ihre Taten. Entgegen dem, was an den Universitäten gelehrt werde, und entgegen der mächtigen Institution der nach maximaler Objektivität strebenden Wissenschaft müsse deshalb jede Artikulation von Ansichten subjektiv bleiben. Unsere Kommunikation sei bedeutungsvoll und tiefgründig, insofern sie ein Austausch von Subjektivem und somit nicht restlos Kommunizierbarem bleibe. Und er sagt weiter: Nur die literarische Fiktion vermöge die Subjektivität des Menschen (und zugleich sein Gesamtbild) wiederzugeben, nur die Fiktion mit ihren Möglichkeiten, eine ganze Person aufzubauen, sei den Argumenten des Verstandes (und somit der traditionellen Form des akademischen Vortrags) überlegen.

      Die Protagonistin des Buchs ist eine ältere Frau, eine Schriftstellerin, die zu Ruhm gekommen ist und sich nun in einer Lebensphase befindet, in der man eher Dinge, die einem wichtig sind, zu Ende bringt und resümiert, als Neues zu beginnen. Dass sie die Einladung zu den Vorträgen annimmt, entspringt wahrscheinlich ihrem Bedürfnis, über Fragen zu sprechen, die ihr persönlich bedeutsam sind, zu sagen, was sie fühlt und denkt, ohne Rücksicht auf den Eindruck, den sie auf andere macht, oder auf das Prestige. Deshalb gestattet sie sich eine radikale Haltung und schreckt weder vor Pathos noch vor dramatischen Vergleichen zurück. Die Themen ihrer Vorträge – »Die Philosophen und die Tiere« und »Die Dichter und die Tiere« – dienen ihr letztlich als Vorwand, einen sehr persönlichen, emotionalen und von Empörung getragenen Standpunkt zur jahrhundertealten Tradition des menschlichen Umgangs mit anderen Lebewesen zu formulieren. Wie kann es sein, dass wir die Grausamkeiten, die wir ihnen unablässig zufügen, nicht sehen und nicht darauf reagieren? Worin gründet die rationale Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, was sind ihre philosophischen Prämissen, und können wir diesen überhaupt vertrauen, wenn sie uns gleichgültig machen gegen offensichtliche Tatsachen?

      Der Mensch habe den Krieg mit den Tieren gewonnen, sagt Costello. Sie seien heute unsere Gefangenen und Sklaven, denen wir – um diesen abscheulichen Zustand zu legitimieren – ihre Rechte als Subjekte genommen hätten. Wir bedienten uns dabei des Verstandes, den wir den Tieren konsequent absprechen. »Natürlich wird der Verstand sich selbst zum obersten Prinzip des Universums erklären – was sollte er auch sonst tun?«[2], fragt Costello. »Sowohl der Verstand als auch sieben Jahrzehnte Lebenserfahrung sagen mir, dass die Vernunft weder das Wesen des Universums noch das Wesen Gottes ist. Nein, die Vernunft sieht mir verdächtig nach dem Wesen des menschlichen Denkens aus; schlimmer noch, nach dem Wesen einer bestimmten menschlichen Denkweise.«[3]

      Wie der menschliche Verstand sein Territorium ebnete und absteckte, zeigt Costello am Beispiel der 1917 von Wolfgang Köhler durchgeführten Pionieruntersuchungen an Schimpansen. Die Schriftstellerin versucht, sie neu zu interpretieren, indem sie sie nicht aus der Sicht des Menschen, sondern aus der Sicht des untersuchten Affen betrachtet. Auf diese Weise entlarvt sie die verborgenen – und sicher unbewussten – anthropozentrischen Prämissen dieser Forschungen, deren Wert dadurch völlig infrage gestellt wird. Wir wissen nicht, ob Affen einen Verstand haben oder nicht und ob er wie unserer beschaffen ist oder gänzlich anders. Doch selbst, wenn er anders beschaffen wäre – würde das unsere Taten rechtfertigen?

      Die beiden Vorträge sind nicht nur eine Reflexion über die philosophischen Argumente, die dem westlichen Verhältnis zu den Tieren zugrunde liegen, und nicht nur eine Umdeutung ethologischer Studien. Coetzee fordert, wie ich glaube, durch Costellos Mund eine Aufwertung zweier vergessener, unterschätzter und marginalisierter Weisen der Welterfahrung: der Einsicht und der Empathie. Er erhebt sie in den Rang gleichberechtigter, dem Menschen vielleicht sogar angemessenerer Instrumente der Erkenntnis.

      In der letzten Szene der Novelle fragt Elizabeths Sohn, während er sie zum Flughafen bringt, warum sie begonnen habe, sich derart intensiv mit den Rechten der Tiere zu befassen. Ihre Antwort ist vage und beunruhigend: »Eine bessere Erklärung dafür ist, dass ich dir den Grund […] nicht zu sagen wage […]. Wenn ich an die Worte denke, kommen sie mir so ungeheuerlich vor, dass sie am besten in ein Kissen gesprochen werden oder in eine Grube, wie in СКАЧАТЬ