Название: Übungen im Fremdsein
Автор: Olga Tokarczuk
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311703044
isbn:
Confusio oder Die ursprüngliche Ordnung der Dinge
Lassen wir uns von dieser vermeintlichen Vision des Zerfalls aber nicht in die Irre führen. Im Tiegel der Alchemisten-Brüder gelangen wir zu den Wurzeln der ursprünglichen Ordnung, in der alles, was ist, gleichzeitig nebeneinander existiert und das Strukturbedürfnis weit über den primitiven Wunsch hinausgeht, die Dinge in ein System von Maßen, alphabetischen Buchstabenfolgen oder Kausalitäten zu zwingen. Hier herrscht die ursprüngliche Ordnung, in der alles gleich wichtig und miteinander verbunden ist.
Wir hören Worte in verschiedenen Sprachen, die sich ungeachtet ihrer Herkunft und Verwandtschaft auf geheimnisvolle Weise ergänzen. Wir müssen nicht einmal verstehen, was gesagt oder geschrieben wird. Diese ursprüngliche Ordnung beinhaltet noch keinen Sinn, wie wir ihn kennen. Die menschliche Sprache hat sich noch nicht allzu weit vom reinen Klang entfernt, sie ist vor allem Laut, die Schrift wiederum reduziert sich auf die Spur von Graphitgriffeln auf dem Papier. Nichts lässt sich sagen, nichts erwidern. Im Film In Absentia werden Briefe in eine Uhr eingeworfen – sie erreichen ihren Adressaten nicht, es sei denn, es wäre die Zeit (obwohl deren viel beschworenes Verrinnen sich auch als rein hypothetisch herausstellen kann). Die Landschaft wird vollends abstrakt, und es fällt schwer, darin die vertrauten Formen von Bäumen, Bergen, Häusern und Straßen zu erkennen. Der Horizont existiert scheinbar, doch weil es weder Himmel noch Erde gibt, ist er obsolet – weder stellt er eine Trennlinie dar, noch hilft er bei der Orientierung im Raum. Die physikalischen Gesetze gelten hier nur bedingt – was fallen sollte, schwebt plötzlich in der Luft, während ringsum die Dinge weiterlaufen, als ob nichts wäre. »Vielleicht steckt hinter all den Einzelheiten ein tiefverborgener Sinn«, überlegt Jakob von Gunten, der Protagonist von Institute Benjamenta ((nach Robert Walsers Roman Jakob von Gunten), doch im Grunde sind viele von uns versucht auszurufen: »Welche Erleichterung!« Die Suche nach Sinn und Bedeutung hat uns schon so viele Qualen bereitet, dass wir ganz entkräftet sind von dieser dubiosen Kur gegen das Leiden des Horror vacui.
Wunderkammer oder Fort mit der Enzyklopädie
Unser Wissen gleicht einer ungeheuren Ansammlung von Schubladen, die wir wie im Film The Cabinet of Jan Švankmajer aufs Geratewohl öffnen – mal diese, mal jene. Auch ihre Anordnung wirkt chaotisch – das ist kein systematischer Katalog, sondern eine Kuriositätenkammer. Wir wissen nie, was wir erblicken werden, wenn wir eine von ihnen herausziehen. Gewiss ist nur: Es werden seltsame, beunruhigende Dinge sein. Dinge, deren Existenz nicht nur unsere Vorstellung übersteigt, sondern uns verblüfft und irritiert, weil sie beweist, dass sich eine Regel am besten beschreiben lässt, indem man Ausnahmen zeigt. Gegenstände werden nur in die Sammlung aufgenommen, sofern sie verblüffen. Jegliche potenziell anwendbare Systematik ist frei von allgemein akzeptierten wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Annahmen. Es gelten weder das Prinzip von Ursache und Wirkung noch welche Art von Hierarchie auch immer, nicht einmal die einfache lineare Ordnung des Alphabets.
Hier ist ein einziger einfacher Algorithmus am Werk: »Das und das, und dann noch das und das …«
Oneiropractica oder Der Goldfisch
Lassen wir uns nicht täuschen: Das Vorhandensein von Elektrizität, Motoren, Straßenbahnen, Türglocken, Uhren und Menschen bedeutet nicht, dass wir diese Welt als unsere eigene, gewohnte erkennen können. Sie ist eine Illusion, Kostümierung mit bekannten Formen, trügerische Imitation. Wir haben scheinbar Vertrautes und Familiäres vor uns, doch bei genauerem Hinschauen zeigt sich, dass etwas nicht stimmt. Manchmal ist die Illusion reines Spiel, wie im Fall der Verweise auf die witzigen Arbeiten Arcimboldos, manchmal aber ist sie mit etwas Bedrohlichem unterfüttert, das verwirrt und Schwindel auslöst (das aus Fleisch bestehende Uhrwerk). Wir bewegen uns am Rande der Vernunft, dort, wo die einfachen Prinzipien der Wahrnehmung ihre Selbstverständlichkeit verlieren. Hier ist der Mond gerade einmal ein Fußball. »Statt des Geheimnisses gibt es hier nur einen Goldfisch«, sagt die Hauptfigur in Institute Benjamenta.
Erkennt ihr anhand meiner skizzenhaften, flüchtigen Beschreibungen dieses Land wieder? Kommt es auch euch vertraut und irgendwie unser vor? Wie immer man es nennen will, sicher ist, dass viele von uns hier leben.
Doch was bedeutet »unser«? Unser, das heißt wessen? Derer, die dieselben Bücher gelesen haben, oder vielleicht derer, die einen von Neurologen noch nicht erforschten Knick im Hirn haben (nennen wir ihn vorläufig die »Quay-Falte«)? Kommen daher unsere merkwürdigen Idiosynkrasien, unser Hang zu einer wirren Metaphysik des Degradierten? Oder sind wir Bürger eines phantasmagorischen grenzüberschreitenden Staates, der wie eine flimmernde Fata Morgana über Mitteleuropa schwebt und sich von dessen Albträumen nährt? In jedem Fall liefern uns die Alchemisten-Brüder ein abgeschlossenes und vollkommenes Werk, das sein Nigredo, Albedo und Rubedo schon durchlaufen hat, um im Quay’schen Tiegel die Vollkommenheit eines filmischen Steins der Weisen zu erlangen.
Glosse
Seit meiner Kindheit quält mich ein metaphysisches Problem, für das ich lange keine Lösung finden konnte. Gibt es etwas in der Welt, ohne das nichts anderes existieren könnte? Gibt es eine unverzichtbare Sache, ein grundlegendes und fundamentales Objekt? Eine quinta essentia, die den vier Elementen ihre Macht verleiht? Die Archē der Vorsokratiker, das Geheimnis des Daseins, den Gral des Alltäglichen? Kann man eine Hierarchie der Seinsformen bestimmen, oder muss man in der flachen Welt der gleich nützlichen (oder nutzlosen) Dinge bleiben?
Im alchemistischen Universum der Brothers Quay entdecke ich verwundert, dass ein solcher Gegenstand existiert: die SCHRAUBE. Sie kommt in ihren Filmen zu oft vor, als dass man sie ignorieren könnte. Verstaubt und banal, aber allgegenwärtig wie Philip K. Dicks Ubik. Ihre Unscheinbarkeit darf uns nicht täuschen. Denn sie ist es, die hinter unserem Rücken die Ebenen der Wirklichkeit miteinander verschraubt, unsere unsteten, vereinzelten Perspektiven zu einer zusammenfügt, die Gegensätze in einer mechanischen spiralförmigen Drehbewegung vereint.
Gesegnete Schraube, behalte uns in deiner Obhut!
Deutsch von Bernhard Hartmann
Wie Übersetzer die Welt retten
Bisweilen nehme ich gern eine panoptische Perspektive ein und schaue mir – wenigstens für einen Moment – alles von oben an. Dann kann man unsere menschliche Welt als eine Ansammlung von weit gestreuten Kolonien selbstzufriedener Organismen sehen, die sich leicht an wechselnde Gegebenheiten anpassen, einen ausgeprägten Ausbreitungsdrang besitzen und miteinander rivalisieren, jedoch ebenso fähig sind zu Selbsterkenntnis und Kooperation. Ein unersetzliches Element innerhalb dieser organischen Struktur sind die Übersetzer von Büchern. Sie sind Teil einer Art leitenden Nervengewebes, eines Netzes, das Informationen von einer Stelle des Gebildes an eine andere übertragen hilft. Durch den Geist der Übersetzer verlaufen die Grenzen zwischen unterschiedlichen Welten, und ihre Gabe ermöglicht es ihnen, diese Grenzen zu überschreiten, zu verwischen und in den Alembiken ihrer Computer den Stein der Weisen unserer heutigen Zeit herzustellen – Universalität.
Kaum verwunderlich also, dass den Übersetzern seit Jahrhunderten der Gott Hermes als Patron und Beschützer gilt. Von geringem Wuchs, wieselflink, listig eilt »der kleinste und gerissenste aller Götter«, um es mit Plutarchs Worten zu sagen, über die Wege und Straßen dieser Welt. Flatterndes langes Haar, Flügelhelm, den Hermesstab in der Hand, ist er überall und nirgends. Eine Gottheit schwer bestimmbaren Geschlechts. Eine Gottheit der Synthese, der Verknüpfung des Fernliegenden, der Schläue, mit Sinn für Humor und einer Neigung zu List und Tücke. Der Gott der Händler, Kaufleute, Handwerker, СКАЧАТЬ