Übungen im Fremdsein. Olga Tokarczuk
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Название: Übungen im Fremdsein

Автор: Olga Tokarczuk

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783311703044

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СКАЧАТЬ zusammen? Ich muss wohl verrückt sein! Aber tagtäglich sehe ich die Beweise. Eben die Leute, die ich verdächtige, liefern den Beweis, stellen ihn zur Schau, bieten ihn mir an. Leichen. Leichenteile, die sie mit Geld gekauft haben. […] Doch ich träume nicht. Ich schaue in deine Augen, in Normas Augen, in die Augen der Kinder, und ich sehe nur Freundlichkeit, menschliche Freundlichkeit.«[4]

      Costello scheint zu den Menschen zu gehören, die gesehen haben und sich bewusst geworden sind, oder vielleicht sollte man besser sagen, die das grundlegende, entsetzliche Wesen der Welt erkannt haben, denn das Wort »erkennen« impliziert einen singulären Wahrnehmungsakt. Es ist erstaunlich, dass wir den Horror im Alltag übersehen, dass er uns verborgen bleibt, dass wir nicht in Grauen erstarren. Wirken die Abwehrmechanismen so stark – die alltäglichen, pragmatischen Argumente, aber auch die philosophischen, die wir unter anderem bei Descartes und Thomas von Aquin finden? Ist es vielleicht die typisch menschliche Furcht vor Erschütterungen, die gewohnheitsmäßige perzeptive Trägheit, der Mangel an Reflexion, die Bequemlichkeit der Ignoranz? Es genügt uns, dass die gegebene Welt ist, wie sie ist. Doch unsere perzeptive Passivität hat eine moralische Dimension – sie verstetigt das Böse. Wenn wir uns dem Erkennen verweigern, werden wir zu Komplizen des Bösen, zu Mitschuldigen. Die moralische Anstrengung ist also im Grunde eine kognitive – wir müssen auf neue, schmerzliche Weise erkennen.

      Wer einmal das ganze Grauen gesehen hat, das die Menschen den Tieren bereiten, wird nie wieder ruhig bleiben. »Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war«[5], sagt Costello. Dieser Vergleich ruft umgehend Protest und Empörung hervor, doch Costello verteidigt sich nicht.

      Der für Entrüstung sorgende Holocaust-Vergleich bezieht sich sowohl auf die Gleichsetzung der Massentötung von Tieren mit der Vernichtung der Juden als auch auf die Frage nach der Rolle der stummen Zeugen des Verbrechens, die zwar nicht mit eigenen Händen mordeten, aber schweigend danebenstanden – Deutsche, Polen, Amerikaner, Briten und alle, die nicht glauben wollten, was sie auf Fotografien sahen.

      Einsicht ist die plötzliche, umfassende und spontane Vergegenwärtigung des Wesens dessen, was wir wahrnehmen. Sie ist eine besondere Art der Wahrnehmung – vielschichtig und simultan. Das Was, Wo, Wie, Warum und Zu-welchem-Zweck fallen in eins zusammen; es ist ein zugleich intellektuelles, emotionales und intuitives Erkennen.

      Die Einsicht ist einmalig. Sie ist ein Moment, hat aber ihre Konsequenzen in der Zeit – es gibt kein Zurück zum vorherigen Zustand. Das neue Bewusstsein kann schmerzlich und schrecklich sein, es kann die Erfahrung eines Grauens bedeuten, das sich nur ins Kopfkissen flüstern lässt. Von nun an wird jedes Ereignis zu dieser neuen Sensibilität beitragen, und man wird die Welt mit neuen Augen sehen – als eine radikal grausame. Und man wird in ihr leben müssen. Costello findet ihre eigene Lösung: Wenn man einmal »erkannt« hat, ist das Einzige, was einem bleibt, eine »mitfühlende Vorstellungskraft«[6] zu entwickeln, das heißt Mitgefühl oder, in der Begrifflichkeit der westlichen Psychologie, Empathie.

      Insbesondere die Empathie ist das Thema von Costellos zweitem Vortrag, und ein großer Teil der Diskussionen in Das Leben der Tiere kreist um diese Frage. Die Schriftstellerin verweist auf Philosophie und Literatur – Bereiche, die in der Lage sind, über die rationale, praktische Sprache hinauszugehen und es einem menschlichen Wesen zu ermöglichen, ein anderes Wesen zu verstehen. Die Wissenschaft hat uns in die Irre geleitet. Allen Untersuchungen und wissenschaftlichen Experimenten zum Trotz konnten wir nicht herausfinden – und werden es wahrscheinlich nie –, was im Gemüt einer Kuh oder eines Hundes vorgeht. Wir können lediglich spekulieren und uns auf Annahmen stützen, die oft Vorurteilen gleichkommen, während wir Hunde konditionieren, Labyrinthe für Ratten bauen und zulassen, dass gleichzeitig die Maschinerie des Todes und der Grausamkeit auf vollen Touren weiterläuft.

      Warum nehmen wir an, dass die Tiere weder Verstand noch Bewusstsein haben?, fragt Costello. Wenn wir es nicht wissen, könnten wir doch ebenso gut das Gegenteil annehmen, oder? Doch das tun wir nicht.

      Einem Menschen, der sich in einer ähnlichen Situation befindet wie Costello, weil ihm bewusst geworden ist, dass er in einer Welt lebt, in der täglich Millionen Tiere getötet werden, ergeht es wie ihr: Er fühlt sich einsam, hält sich vielleicht sogar für verrückt. Er sieht etwas, was andere nicht wahrnehmen. Er erlebt seine Machtlosigkeit: Was kann man tun? Andere wollen nicht einmal darüber sprechen, womöglich, weil sie sich tief im Inneren doch schuldig fühlen. »So ist das Leben«, konstatiert Costello. Und fragt sich selbst: »Alle anderen finden sich damit ab, warum kannst du es nicht? Warum kannst du es nicht?«[7]

      Sprechen. Die Schriftstellerin möchte in ihren Vorträgen alles auf einmal sagen. Sie versucht, mit ruhigen und logischen Argumenten zu operieren. Doch ihre Wahrheit ist größer als jedes Argument, sie lässt sich nicht in den akademischen Rahmen einschließen. Ihre Ausführungen können das in akademischen Debatten geschulte Universitätspublikum nicht überzeugen, sie lassen sich leicht widerlegen, verlachen, anzweifeln oder – wie es Norma tut, die Schwiegertochter der Schriftstellerin – als Ego-Spielchen deuten. Und doch wird diese persönliche Verweigerung der Mitwirkung an dem fortwährenden, von der Mehrheit unbemerkten Auschwitz zu einem heroischen Akt, und zwar umso mehr, als Elizabeth Costello offenbar scheitert. Sie vermag niemanden zu überzeugen. Die Zuhörer fühlen sich peinlich berührt.

      Costello ist, wie wir alle, Teil einer Welt, die genüsslich alle möglichen Tabus auf die Probe stellt und für nichtig erklärt. Doch dieses eine, letzte, hält uns mit aller Macht auf Distanz. Über Tiere und ihr Leiden zu sprechen, löst Verlegenheit aus, es ist »abgehoben« – wie der Vegetarianismus oder die Forderung nach Tierrechten. Es gilt als Wunderlichkeit, als peinliche Idiosynkrasie.

      Das mehrdeutige Ende des Buches eröffnet überraschend eine weitere Interpretationsmöglichkeit. Der Sohn flüstert der Schriftstellerin zu: »Na na. Bald ist es vorbei«[8], und diese tröstenden Worte lassen sich als Schuldbekenntnis deuten, vor allem aber als Eingeständnis dessen, dass wir alle uns der eigenen Grausamkeit bewusst sind und sie als integrales Merkmal der menschlichen Existenz, als Eigenschaft der Welt betrachten. Wir wissen, aber wir schweigen. In dieser Lesart erhält Coetzees Werk eine ganz andere, düstere Bedeutung, es wird zur manichäischen Diagnose der existenziellen Verstrickung des Menschen in die Finsternis, aus der einzig der Tod hinausführt.

      In der Originalausgabe von The Lives of Animals wurden Costellos Quasi-Vorträge vom Verlag durch Kommentare renommierter Wissenschaftler ergänzt. Indem nun die von Coetzee verfassten Vorträge Elizabeth Costellos von anderen kommentiert werden, wiederholt sich das Schema der Erzählung. Dabei wird erkennbar, wie gehaltvoll der Text des Schriftstellers ist, welche unterschiedlichen Reaktionen er hervorruft, in wie viele Richtungen die Lektüre gehen kann. Sollte man Bücher nicht immer so lesen – in guter Gesellschaft? Zumal die Bücher von Coetzee. Seine ernsthafte, scheinbar überaus konkrete und transparente Prosa wirkt nur auf den ersten Blick intellektuell oder gar didaktisch. Im Grunde arbeitet er mit Situationen und Bildern, die offenbleiben und die sich sowohl auf die Emotionen und den gesunden Menschenverstand als auch auf den intellektuellen Diskurs beziehen.

      Costellos Vorträge stützen sich auf andere kognitive Instrumente, und die Form von Coetzees Vortrag – die literarische Fiktion – bietet keine Anknüpfungspunkte für eine sachliche philosophische Diskussion. »Coetzee muss sich nicht einmal groß bemühen, den Vortrag zu strukturieren«, klagt Peter Singer in seinem Kommentar zu Das Leben der Tiere. »Wenn er bemerkt, dass Costello anfängt, wirres Zeug zu reden, genügt es, dass er Norma feststellen lässt, dass sie wirres Zeug redet.«[9] Als subjektive und damit auch »vollständige« Person, muss Costello in ihren Ansichten radikal sein, und es ist auch verständlich, dass sie sich einer anderen Argumentation bedient (wenn man die Forderung nach einer »mitfühlenden Vorstellungskraft« für einen Philosophen überzeugend nennen kann). Für seine Auseinandersetzung mit Costellos Argumenten nutzt Singer raffiniert die Form eines fiktiven Dialogs mit seiner Tochter, in dem er die Philosophie gegen die Angriffe СКАЧАТЬ