Übungen im Fremdsein. Olga Tokarczuk
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Название: Übungen im Fremdsein

Автор: Olga Tokarczuk

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783311703044

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СКАЧАТЬ Vernunft bedienen. Seine Argumente lassen sich so darlegen, dass sie von Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung und unterschiedlichen Alters verstanden werden. Vorstellbar ist auch eine Version für Kinder, für den Ethikunterricht in der Schule.

      Costellos Weg ist schmaler, was ihr selbst absolut bewusst ist. Warum lässt etwas, das für die einen abscheulich und entsetzlich ist, die anderen völlig kalt? Vielleicht sind wir psychologisch unterschiedlich konstruiert, vielleicht erfahren wir die Welt auf unterschiedlichen Ebenen, vielleicht ist Sensibilität angeboren und lässt sich nicht antrainieren. Vielleicht besitzt am Ende nicht jeder die Begabung zur Empathie, und viele Menschen begreifen ganz einfach nicht, wovon diese alte, nicht einmal real existierende Schriftstellerin spricht.

      Und dann Jane Goodall – ein ganz schmaler Pfad, reserviert für diejenigen, die über ausreichend Sensibilität, Sinne, Verstand und Aufrichtigkeit verfügen, um Vorurteile und Illusionen zu überwinden. Um durch diese seltsamen Masken zu schauen und hinter ihnen jene anderen, unbegreiflichen und uns so nahen Wesen zu erblicken – die Tiere.

      Deutsch von Bernhard Hartmann

      Die Londoner Alchemisten des Films oder Der unheimliche Tiegel der Brothers Quay

      Der erste Film der Brothers Quay, den ich sah, löste in mir einen visuellen Schock aus und gleich darauf, nachdem ich mich ein wenig erholt hatte, ein irritierendes Gefühl von Déjà-vu, das bis heute anhält und auflebt, wann immer ich einen ihrer Filme anschaue. Allerdings besteht dieses Déjà-vu weniger im Eindruck, etwas schon gesehen zu haben, sondern vielmehr in der Ahnung, dass ich mich auf vertrautem Grund befinde, in einem Land, dessen Sprache ich verstehe, dessen Sitten ich kenne und dessen spezifischer Sinn für Humor mir nicht fremd ist. Intuitiv spüre ich eine Bedeutungstiefe, etwas, was nicht durch einfaches Skizzieren von Bezügen, Verweise auf Namen oder das Anführen von Zitaten erfasst werden kann. Vielmehr handelt es sich um den Grenzraum der verschwommenen, bruchstückhaften Erinnerung an Kindheit und Jugend, an die Cover geliebter Schallplatten, an Traumbilder. Um sie herum kreisen spontane Visualisierungen der Geschichten aus einst gelesenen Büchern oder aus einst gehörter Musik gesponnene Phantasien.

      Was ist das für ein Land? Was für ein Raum, den die Alchemisten-Brüder vor mir entfalten? Alles hier ist mir vertraut und wird doch so gezeigt, dass ich immer wieder ins Staunen gerate. Im Meinigen steckt etwas Nicht-Meiniges, das mich in Alarmbereitschaft versetzt und mich hypnotisch auf das Bild starren lässt, dessen Wirkung sehr rasch auch zu einer sinnlichen Empfindung wird. Die Fingerkuppen machen sich zum Anfassen bereit, die Nase schnuppert schon, im Mund sammelt sich der Speichel. Wo bin ich?

      In dem alchemistischen Tiegel, in dem die Brothers Quay schwungvoll rühren, befinden sich neben Zutaten aus alten traditionellen Rezepten auch Substanzen, deren Verwendung nur den beiden in den Sinn kommen konnte. (Haben kreative Alchemisten nicht immer versucht, Rezepte zu ändern, indem sie einer Tinktur einen Eidechsenschwanz, ein Spinnenbein, ein Fledermausauge oder Spuren von Mäusefüßen beimischten?) Sie bedienen sich hier und da, sie zitieren, wiederholen, knüpfen an, kopieren und fügen ein. Und mit jeder Bewegung des Rührlöffels mischen und überlagern sich die Sprachen und Bilder, die Tinktur wird immer eigentümlicher und homogener, unverwechselbarer – Quayiger. Bei genauerem Hinsehen aber zeigen sich an der Oberfläche für einen Augenblick charakteristische Streifen: Murnau, E.T.A. Hoffmann, Buñuel, Schulz, Kafka; eine Prise Dick, ein paar Tropfen surrealistische Malerei und die wunderschöne Ästhetik des Zerfalls, die melancholische und düstere Seelen so sehr anzieht. Und das alles opalisiert um ein paar Kristallisationsachsen.

      Das Unheimliche[11] oder Was Freud sagte

      Sigmund Freud lieferte kühn eine Definition des Unheimlichen, ohne sich von dessen nebulöser Ungreifbarkeit groß beeindrucken zu lassen. Das Unheimliche verbindet sich immer mit etwas, was wir zunächst kannten und was uns vertraut war, doch mit der Zeit verdrängt und ins Unbewusste abgeschoben wurde. Es erwächst aus kindlichen Komplexen sowie aus archaischen animistischen Glaubensvorstellungen, die wir als zivilisierte Menschen in uns überwinden mussten. Das Gefühl des Unheimlichen empfinden wir deshalb immer dann, wenn ein in der Kindheit erworbener Komplex aktiviert wird oder wenn in unserer Erfahrung plötzlich etwas Archaisches zutage kommt. Das Verwischen der Grenze zwischen Lebendem und Totem, das Beleben von Gegenständen, das Abtrennen von Gliedmaßen – das sind Beispiele, die Freud nannte und die wir in den Filmen der Brothers Quay sogleich wiederentdecken. Unwillkürlich prägen sich uns die Hände einer Figur ein, die eine Leiter halten und sich plötzlich mit natürlicher Anmut vom Rest des Körpers lösen, um sich der Leiter ganz zu bemächtigen. Oder die Vivisektion einer Puppe, deren Porzellankopf von schmutzigem Werg entleert und mit neuem Inhalt gefüllt wird.

      Als raffinierte Film-Alchemisten erweitern die Brothers Quay die Freud’sche Rezeptur des Unheimlichen um eine Menge neuer Zutaten. Viele davon wären Freud nicht einmal im Traum in den Sinn gekommen.

      Panoptikum oder Durch das Schlüsselloch

      Das Panoptikum verkörpert das Unheimliche der Soziologie. Das von einem Philosophen erdachte ideale Gefängnis, in dem jeder Häftling unter ständiger Überwachung steht. Zugleich ist es die beste soziologische Gottesmetapher. Die Brothers Quay plagt der böse Traum von der Welt als Käfig, als abgeschlossener Raum, in den man hineinschauen und den Menschen beobachten kann. Die Figuren ihrer Filme sind häufig in solchen Räumen gefangen. Mit tragischer Entschlossenheit versuchen sie, ihre Lage zu erfassen und die Grenzen ihres Gefängnisses zu erforschen. Denken wir an Nocturna Artificialia oder The Epic of Gilgamesh, or This Unnameable Little Broom und die Bewegung der Hand, die durch ein Loch in der Wand nach draußen gelangt und blind zu entdecken versucht, was außerhalb ist. Beide Szenen erinnern an die alte Radierung mit dem Wanderer, der am Ende der Welt angekommen ist und nun, nachdem er den Kopf durch das halbrunde Himmelsfirmament hinausgesteckt hat, den Bau und die Mechanik der Sphären bewundert. Doch bei den Brothers Quay ist alles ganz anders – die Hand irrt im Nichts umher. Wir verfolgen ihre Anstrengung mit Mitgefühl und Trauer; wir wissen, dass es außerhalb des Gefängnisses, außerhalb der kantigen Box der Welt, nichts Interessantes gibt. Allenfalls findet sich dort das Auge eines namenlosen Beobachters, dessen gleichgültige Position wir, die Zuschauer, übernehmen.

      Artificial oder Das Künstliche ist das Schöne

      Diese künstliche Welt, ins Leben gerufen von einem unfähigen, schlampigen Demiurgen, wird überdies im letzten Stadium ihrer Existenz erfasst, wenn schon allein Zerfall, Zerstörung und Staub herrschen. Es gibt hier nichts Frisches mehr. Alle Mechanismen und Gegenstände wirken, als wären sie als alt geschaffen worden. Man will nicht glauben, dass sie einst vor Neuheit glänzten und die Getriebe ausreichend geölt waren.

      Doch gerade deshalb scheint diese Welt ewig. Nur das Junge und Frische kann altern, sich abnutzen. Das Alte und Unvollkommene dagegen erlangt den Zustand des Seins über allem Seienden, der sicheren Dauer jenseits aller Bemächtigungsversuche der Zeit. In dieser künstlichen Welt ereignen sich freilich Akte der Spontanzeugung, jenes geheimnisvollen Phänomens, das die Grenzen unserer wissenschaftlichen Erkenntnis überschreitet. Erinnern wir uns, wie eindrucksvoll Bruno Schulz diese Erscheinung beschreibt. Um sie zu beobachten, braucht man ein gerüttelt Maß an Scharfsinn und Achtsamkeit: Konzentration auf die kleinsten Details, die Ritzen in einem Brett, die Unebenheiten eines Steins, winzige Brechungen, Müllknäuel, Löcher, Kratzer … Denn gerade dort, in den Mikroabgründen, sprießt der Keim des Lebens. Stimmt das wirklich? Es wäre falsch, so zu fragen. Wir haben nämlich teil an den Phänomenen, und wann immer wir anfangen, einen Weg in die Tiefe zu suchen, verlieren wir unsere besondere Perspektive – und dann wird der Krümel Leben zum Staubkorn, zum Eisenspan. Im Übrigen lässt sich hier nie genau sagen, wo die höchst fragwürdige Grenze zwischen dem Lebenden und dem Toten verläuft. Die Weisen würden uns auslachen, wenn wir ihnen erklären wollten, dass eine solche Grenze überhaupt existiert. Die СКАЧАТЬ