Название: Übungen im Fremdsein
Автор: Olga Tokarczuk
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311703044
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Die Empathie ist in der Geschichte der Menschheit eine recht junge Erscheinung. Erstmals zeigte sie sich vermutlich mehr als sechs Jahrhunderte vor Christus im Fernen Osten, in der buddhistischen Lehre. Jedenfalls benannte und würdigte niemand zuvor diese neue Haltung: den anderen so zu betrachten, als wäre man es selbst; der scheinbaren Grenze zu misstrauen, die uns von anderen trennt, denn sie ist eine Täuschung. Was immer dir geschieht, geschieht mir. »Fremdes Leiden« gibt es nicht. Die illusorische Grenze trennt nicht nur die Menschen voneinander, sondern auch die Menschen von den Tieren. In diesem buddhistischen Sinne versteht Costello die Empathie. Zwischen den Zeilen klingen atheistische Aspekte des Buddhismus an: Die Erkenntnis der Lage, in der wir uns alle befinden, treibt uns in die Enge, denn es gibt keine Hoffnung, und es sieht so aus, als wäre die Welt nicht als gut geschaffen worden, als gründete sie auf Leiden, das sich nicht vermeiden lässt. Und obwohl wir nicht wissen, warum dem so ist, müssen wir uns in diesem Ozean der Hoffnungslosigkeit anständig verhalten – das macht uns zu Menschen, nicht unsere DNA. Uns so verhalten, als hätte es eine Bedeutung, als gäbe es Prinzipien und Normen, als existierte ein erlösendes und rettendes Gutes, das unserem Handeln einen Sinn verleiht.
Der Verstand steht kopf oder Die Umkehrung der Perspektive. Michel Faber, Die Weltenwanderin
In diesem Roman findet die Forderung nach dem Einsatz von Empathie als Mittel der Erkenntnis ihre volle literarische Umsetzung. Der Kunstgriff ist einfach. Die gewohnte und von uns fraglos hingenommene Struktur der Bedeutungen wird plötzlich auf den Kopf gestellt. Faber kehrt die Perspektive radikal um.
Die Ausgangssituation ist folgende: Wir werden Zeugen einer Jagd. Ein Exemplar einer Gattung jagt Exemplare einer anderen Gattung. Nach dem Fang werden sie einer speziellen Mast unterzogen, der gefangene Körper wird als Objekt behandelt, als potenziell wertvolle, gefragte Nahrung. Wenn die gewünschte Fleischqualität erreicht ist, wird das gemästete Exemplar getötet, sein Fleisch portioniert und verkauft.
Eine banale Geschichte. Was ist so schockierend daran? Das Mästen von Exemplaren anderer Gattungen ist eine Tatsache, niemand stört sich daran. Es handelt sich um eine vertraute Situation in der Natur – eine Gattung beutet die andere aus.
Doch Die Weltenwanderin füllt das Schema »A mästet und frisst B« mit anderen Daten. Ein scheinbar kleiner Kniff macht das Buch zu etwas Entsetzlichem, zu einem Albtraum: Das Mastvieh ist hier der Mensch, der Homo sapiens, und gemästet wird er von einer anderen, nichtmenschlichen (aber auch nicht tierischen) Gattung. Diese Wesen erinnern an Hunde oder Wölfe; ihr Verständnis vom Unterschied zwischen ihnen selbst und den Menschen (die sie »Wotzel« nennen) ist im Grunde oberflächlich – aber uns nur allzu gut bekannt. Weil sie selbst Vierbeiner sind, fühlen sie sich den Schafen näher als den zweibeinigen, felllosen Menschen. Sie würden niemals Schaffleisch verzehren; sie hätten dann das Gefühl, Schafe seien ihnen »zu nah«. Die äußeren Merkmale des Menschen machen ihn »essbar«.
Eigentlich kennen wir dieses Gefühl. Wir essen keine Affen – sie sind uns zu ähnlich.
Den Kern von Die Weltenwanderin bildet die Infragestellung der einfachsten, atavistischen Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Der Autor lenkt die Erzählung so, dass wir uns unwillkürlich mit dem Fremden identifizieren. Er manipuliert unseren Verstand und unser Empfinden (einschließlich der Fähigkeit zur Empathie), damit wir der Logik des Fremden folgen. Er desorientiert und täuscht uns, sodass wir alle perzeptiven Gewohnheiten aufgeben und die eigene Gattung verraten. Faber relativiert damit unsere moralischen Gepflogenheiten und demonstriert, wie leicht es uns fiele, den größten Albtraum und das größte Verbrechen als Normalität zu akzeptieren. Dazu genügt ihm das typische menschliche Instrumentarium: Verstand, Gewohnheit, Identifikation und Rationalisierung.
Faber zeigt das größte Paradoxon der Empathie: Uns selbst aufzugeben, ist vielleicht unsere einzige Chance, etwas zu werden, was unser Gegenteil ist. Wenn die Fremdheit nicht, wie man erwartet hätte, radikal ist, verliert sie ihre magische, bedrohliche Macht. Das Fremde wird zu etwas, was sich begreifen und verstehen lässt. Eigentlich hört es auf, fremd zu sein. Es gibt kein Eigen und kein Fremd. Wir sind alle eigen, und alles Böse, das wir anderen zufügen, fügen wir deshalb uns selbst zu.
Masken. Jenseits des Verstandes oder Was wir nicht wissen, aber ahnen
In einer Stadt im Fernen Osten steht ein von Mönchen und Nonnen errichtetes Museum der Religionen. Frappierend ultramodern und elektronisch so weit fortgeschritten, dass die üblicherweise sehr selbstzufriedenen Europäer plötzlich ihr Überlegenheitsgefühl verlieren. Es ist das ungewöhnlichste Museum, das ich in meinem Leben gesehen habe. Jede der großen Weltreligionen hat dort einen eigenen Saal, aber es gibt auch viel Raum für außerinstitutionelle Manifestationen menschlicher Religiosität. Bei meinem Besuch gelangte ich schließlich in einen Raum voller Bildschirme, auf denen Interviews mit Menschen aus unterschiedlichen Gegenden und Kulturen der Welt gezeigt wurden. Unter den Interviewten waren Wissenschaftler, Künstler, Ingenieure. Jeder erzählte von einem tiefen Erlebnis, das ihn verändert hatte, von einer Grenz- oder – wie die humanistische Psychologie es nennen würde – Gipfelerfahrung (peak experience).
Zutiefst beeindruckt war ich vom Beitrag Jane Goodalls. Sie schilderte, wie sie einst Schimpansen beobachtet habe, die unter einem kleinen Waldwasserfall badeten. Sie habe gesehen, wie sie spielten, schwammen, kommunizierten. Aber auch, wie sie dasaßen und die Strömung des Wassers betrachteten, wie sie sich die fallenden Tropfen anschauten, wie sie reglos und stumm den Blick über die Wellen schweifen ließen.
Goodall sprach tief bewegt von einer Ahnung, die sie damals empfunden habe. Ihr sei es nämlich vorgekommen, als ob in den in die Betrachtung des Wassers versunkenen Tieren etwas profund Wichtiges vorginge. Als ob sie an der Erfahrung der Veränderung und damit am Vergehen der Zeit teilhätten. Und auch wenn sich Worte wie »kontemplieren«, »denken« oder »überlegen« hier von selbst aufdrängen und man arg lavieren muss, um sie zu vermeiden, muss ich natürlich vorsichtig bleiben und mich an Lloyd Morgans denkwürdige Maxime vom Vorrang der einfachsten Mechanismen in der Interpretation tierischen Verhaltens halten. Jane Goodall freilich kümmerte sich nicht um die Gebote dieses Ockhams der Ethologie und formulierte ihre Vermutung klar und deutlich: Bei der Beobachtung der Schimpansen habe sie gesehen, dass ihrem Verhalten eine Art Nachsinnen über die Bewegung innewohnte, dass auch sie die Fähigkeit zur Reflexion, zu einem tieferen, ergreifenden Sein-in-der-Zeit besitzen. Dass womöglich auch sie etwas wie unsere religiöse Erfahrung erleben.
Die ethologische Forschung liefert uns immer neue Erkenntnisse über die Psychologie der Tiere.
Die jüngsten mir bekannten betreffen ihre Fähigkeit zur Antizipation von Ereignissen. Ich habe auch Studien gelesen, die Tieren eine Art Humor zuschreiben – eine Veranlagung zum spielerischen Täuschen.
Als Kind hatte ich den Eindruck, die Tiere wären eine Art Kostüm, eine Art Maske, und hinter den behaarten Schnauzen oder Schnäbeln verbärge sich ein anderes »Gesicht«. Jemand anderes. Ich entdeckte das an Saba, einer heimatlosen Hündin, die ganz gut lebte, indem sie sich in der Schulküche bediente. Sie war einzigartig und schlau und in sich irgendwie klar. Später sah ich das nicht mehr so scharf, aber der Verdacht ist mir bis heute geblieben.
Ist es euch nie vorgekommen, als hätten die Tiere Masken, als wären irgendwo hinter ihren Ohren Schnüre oder Reißverschlüsse versteckt, die sie festhalten, und als wären diese Masken ebenso rätselhaft, enigmatisch und gleichsam emblematisch wie die Masken der Menschen? Wer also verbirgt sich hinter der Katze des Nachbarn, und wer ist die fröhliche Yorkshire-Hündin, die ich jeden Tag im Treppenhaus sehe? Wer ist das Schwein, das Huhn und die Kuh?
Darf ich so fragen?
Singer СКАЧАТЬ