Название: Carl Schmitts Gegenrevolution
Автор: Reinhard Mehring
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783863935771
isbn:
Schmitt verwirft also Binders „Rechtsidee“ insgesamt und betrachtet das ganze Werk als Rückfall in den Positivismus. Er erörtert das insbesondere an zwei Aspekten: am psychologistisch-intuitionistischen Fehlschluss, die Anerkennung von Rechtsnormen für „apriorisch“ zu halten, sowie an der Absorption jedes ethischen Verständnisses von Personalität durch das positive Recht. Beide Aspekte waren schon für die Habilitationsschrift zentral. Dort attestierte Schmitt der neukantianischen Debatte eine mangelnde Klärung des Verhältnisses von Recht und Ethik, und er deutete die positive „Bewertung“ des Rechtssystems und damit gegebene Unterscheidung von Macht und Recht als ein soziologisches und religionsphänomenologisches Faktum.
Während Schmitt eine eigene philosophische Grundlegung der Ethik jenseits des Rechtsdenkens niemals unternahm, ist seine Ablehnung von Binders Kurzschluss von Rechtsbejahung auf Apriorismus vielleicht schon deshalb so vehement, weil seiner eigenen Antwort, mit dem Verweis auf die Antworten des Kirchenrechts, ihrerseits ein Odium des Soziologismus und Psychologismus anhaftete. Das zeigt sich im Wert des Staates schon in der hegelianisierende Rede vom Umschlag von „Quantität in die Qualität“, von der Quantität als „Symbol oder Indiz einer Qualität“ (WdS 35): gemeint ist das soziologische Faktum einer Anerkennung des Rechtssystems durch die Unterworfenen. Dass Schmitt diese Anerkennung voraussetzt und religionsphänomenologisch verklärt, ließe sich als Kniefall vor der Macht und Sakralisierung von „Autorität“ deuten: als Forderung eines „autoritären Charakters“ und Konstruktion des Bürgers als „Untertan“. Diese Legitimation von Herrschaft drapiert sich mit einem überkonfessionellen Begriff von Religiosität, wie er damals etwa von Rudolf Otto (1869–1937) mit der Rede vom „Numinosen“ entwickelt wurde.19 Schmitt ärgert es, dass Binder das „Apriorische“ naiv reklamiert und Rechtspositivismus mit Rechtsphilosophie verwechselt; er sieht Stammler wie Binder „auf dem schmalen Weg des Transzendentalismus“ scheitern, macht mit seinen eigenen Überlegungen aber selbst nicht ganz klar, wie er die Unterscheidung von Macht und Recht sichern und den Transzendentalismus gegen die Gebildeten unter seinen Beschwörern retten möchte. Sein phänomenologischer Hinweis auf die faktische Anerkennung verbleibt eigentlich seinerseits im Horizont der „Machttheorie“.
4. Positionierung zu Kaufmanns Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie
An einer Stelle seiner Binder-Rezension deutet Schmitt an, dass Kelsen der naiven Verwechselung von Macht und Recht, Sein und Sollen entgangen sei. Schmitt lobt die „Konsequenz, mit der z.B. Kelsen die Jurisprudenz als normative Wissenschaft den soziologisch explikativen Wissenschaften gegenüberstellt“ (SS 178). Stammler wie Binder verwechselten ihren Rechtspositivismus dagegen mit transzendentaler Rechtsphilosophie. Schon früh sieht Schmitt also Kelsens Schritt vom Positivismus zum Normativismus als solchen, während er Jellinek als Ausgangspunkt nicht weiter erwähnt. Er nimmt die Theoriedynamik mit eigenem Impetus innovativ wahr und betrachtet Kelsen als Erben Jellineks. Kelsen legte das selbst nahe, obgleich er keinen persönlichen Zugang zu Jellinek fand.20 Für Schmitt lag eine Weiterführung seiner Kritik der neukantianischen Rechtslehre durch Auseinandersetzung mit Kelsen also akademisch schon früh nahe; 1922 knüpfte er in seiner Politischen Theologie auch explizit an Kelsen an. Dazwischen liegt aber das Erscheinen von Erich Kaufmanns (1880–1972) Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie von 1921, das für Schmitt schon deshalb wichtig war, weil er damals als Nachfolger Smends in Bonn Kaufmanns direkter Kollege wurde. Smend war mit Kaufmann seit Studientagen spannungsvoll befreundet; er betrieb Schmitts Berufung, die ohne Kaufmanns unterstützendes Plazet gewiss nicht erfolgt wäre. Kaufmann zitierte in seiner Kritik der neukantianischen Rechtslehre Schmitts Binder-Kritik zustimmend, nahm dessen verwandte Kritik zur Kenntnis. Für Schmitt lag es 1922 also akademisch nahe, seine Auseinandersetzung mit der neukantianischen Rechtslehre mit Kelsen weiterzuführen und sich hier zu Kaufmanns exponierter Kritik zu positionieren.
Die Schrift Politische Theologie wird heute selten in der Erstausgabe von 1922, mehr in der Ausgabe von 1934 gelesen, der alle neueren Ausgaben folgten. Es ist deshalb kaum bekannt, dass Schmitt 1933 seitenlange Ausführungen21 zu Kaufmann strich, mit dem er sich Mitte der 1920er Jahre verfeindet hatte. Schmitt tilgte alle früheren positiven Referenzen, aus persönlicher Feindschaft, Opportunismus und Kampf gegen „jüdischen“ Geist. Das ohnehin schwierige wissenschaftsgeschichtliche zweite Kapitel seiner Programmschrift wurde dadurch im Gedankengang fast unverständlich; es gewann seine Gliederung aber gerade durch seinen aktuellen Bezug auf Kaufmanns Kritik der neukantianischen Rechtslehre. Schmitt positionierte sich, gerade in Bonn angekommen, eingehend zu seinem Bonner Kollegen. Das Kapitel beginnt 1922, laut Inhaltsübersicht, mit neueren Schriften zur Staatslehre: „Kelsen, Krabbe, Wolzendorff, Erich Kaufmann“. Die Ausführungen zu Kaufmann, über drei Seiten lang, sind später dann vollständig gestrichen.
Kaufmanns 1921 erschienene Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie22 geht von einer Stammler- und Kelsen-Kritik aus und schlägt vehement auf den „Formalismus“ und „Positivismus“ von Stammler, Binder und anderen ein. Sie zitiert Schmitts Binder-Kritik zustimmend,23 klagt aber, anders als Schmitt, „Metaphysik“ ein und ruft gegen den Neukantianismus zum „wahren“ Kant zurück. Kaufmann grenzt sich scharf von Stammler, Kelsen und dessen Wirkungen ab, konzediert aber ähnlich wie Schmitt:
„Konnte nach alledem der südwestdeutsche Neukantianismus eine eigentliche Rechtsphilosophie nicht begründen, so konnte er auf der anderen Seite durch sein Einmünden in den Rechtspositivismus und seine Tendenz, philosophische Fragen in methodologische Fragen aufzulösen, die Methodenlehre der positiven Rechtswissenschaft fördern und anregen.“24
„Der metaphysikfreie Neukantianismus ist substanzloser Rationalismus“,25 meint Kaufmann; Kelsen habe als „Meister des Rechtsformalismus“ immerhin einige „Reinigungsarbeiten“ erledigt. Kaufmann macht den Neukantianismus für eine gegenwärtige „Krisis“ des „deutschen Geistes“ verantwortlich und meint am Ende:
„Aushöhlung und Entleerung alles Lebendigen ist das letzte Wort. Erkenntnistheorie ohne Wahrheitsbegriff, Psychologie ohne Seele, Rechtswissenschaft ohne Rechtsidee, formale Gesinnungsethik ohne Sittlichkeitsbegriff, Geisteswissenschaft ohne Gefühl für konkrete Geistigkeiten sind die Kinder der Zeit. Nirgends ein leerer Halt in den uferlosen Meeren der leeren Formen und der vom Denken nun einmal nicht auflösbaren empirischen Tatsächlichkeit. So wurde der Neukantianismus, ohne es selbst zu ahnen, das Gegenteil dessen, was er wollte: der unmittelbare Wegbereiter jener an sich selbst verzweifelnden Spengler-Stimmung, der jüngsten Erkrankung unserer, einer Metaphysik des Geistes beraubten Volksseele.“26
Es ist hilfreich, Kaufmanns Ton von 1921 zu hören, um Schmitts Krisis-Ton besser einzuordnen. Schmitts Schrift Politische Theologie beginnt im ersten Kapitel mit einer „Definition der Souveränität“ und schließt mit dem zweiten Kapitel eine akademische Auseinandersetzung mit neueren Staatslehren an, die die frühere Neukantianismus-Kritik weiterführt und eine idealtypische Kontrastierung von Normativismus und Dezisionismus skizziert. Im titelgebenden Kapitel „Politische Theologie“ ordnet Schmitt diese Alternativen dann in eine metaphysikgeschichtliche Skizze ein. Was zunächst als einfache Alternative erscheint, wird damit im „Übergang von Transzendenzvorstellungen zur Immanenz“ als geschichtliche Entwicklung fatal und СКАЧАТЬ