Название: Carl Schmitts Gegenrevolution
Автор: Reinhard Mehring
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783863935771
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3. Schmitts Binder-Kritik
Kommen wir damit zur Binder-Rezension von 1916. Es lag damals akademisch nahe, dass der junge Autor des Werts des Staates sich für eine grundlegende Monographie über die „Rechtsidee“ interessierte und sich zu Stammler und Binder positionieren wollte. Der allgemeine philosophiegeschichtliche Rahmen ist der angedeutete Übergang vom „Neukantianismus“ zum „Neuhegelianismus“. Larenz, als Binder-Schüler einer der Erben dieser Debatte, skizzierte ihn rückblickend in seiner Methodenlehre der Rechtswissenschaft folgendermaßen:
„Die Erneuerung der deutschen Rechtsphilosophie zu Beginn unseres Jahrhunderts ist in erster Linie das Werk Rudolf Stammlers. Durch ihn wurde eine rechtsphilosophische Bewegung eingeleitet, die, so vielfältig und verschlungen ihre Wege im einzelnen auch sind, im ganzen durch die Abkehr vom Positivismus gekennzeichnet ist. Die Abkehr vom Positivismus verband sie durchweg mit der Bejahung der Geschichtlichkeit des Rechts; so strebte sie einer Synthese der beiden großen Geistesströmungen: des ‚Naturrechts‘ und des ‚Historismus‘, zu. Etwa zu Beginn der zwanziger Jahre hatte die vom Neukantianismus ausgehende Bewegung – mit ersten Werken, mit Lask, Radbruch, Max Ernst Mayer, mit Emge, Laun u.a. – ihren Höhepunkt erreicht; Sie setzte sich teilweise im Neuhegelianismus (Binder, Schönfeld, Dulckeit) fort.“11
Stammler wie Binder sind heute als Autoren kaum noch bekannt. Während Stammlers Name wissenschaftsgeschichtlich fast nur noch in der Weber-Forschung fortlebt, durch den Vernichtungsschlag, den Weber12 gegen Stammlers „‚Überwindung‘ der materialistische[n] Geschichtsauffassung“ führte, diskredierte sich der juristische Rechtshegelianismus der Binder-Schule durch seine Apologie des Nationalsozialismus selbst. Wie Larenz andeutet, ist die rechtsphilosophische Diskussionslage vor und nach 1918 durch die Namen Stammler und Binder und die Aufgabe einer „Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie“ zwar nicht hinreichend bezeichnet. So wäre bspw. auch auf die sog. „Lebensphilosophie“ nach Dilthey und Nietzsche sowie die stärker „katholisch“ geprägte Rechtsphänomenologie zu verweisen. Wichtig ist aber, dass Schmitt sich mit seinem Frühwerk und seinen akademischen Qualifikationsschriften in dieser Diskussionslage verortete.
Seine Binder-Besprechung steht in einer Reihe kleinerer Rezensionen und Miszellen, in denen Schmitt sich mit zeitgenössischen Autoren auseinandersetzte. Die Erträge gehen in die frühen Monographien ein. Neben Miszellen zu Schopenhauer und Wagner sind hier vor allem Rezensionen zu Fritz Mauthner (1849–1923) und Walther Rathenau (1867–1922), Hans Vaihinger (1852–1933) und eben Binder (1870–1939) zu nennen. Vaihinger, der Begründer der Kant-Studien, Autor einer frühen Nietzsche-Studie, lehrte lange in Halle, wo auch Stammler in der Rechtswissenschaft wirkte. Seine Philosophie des Als-Ob modernisierte Kant mit Nietzsche.13 Schmitts frühe Vaihinger-Rezeption ist bleibend wichtig, was von der Forschung vielfach bemerkt wurde, wogegen die Mauthner-Rezeption und die Binder-Kritik bislang fast keinerlei Beachtung fanden. Die Mauthner-Rezension14 zeigt Schmitts frühes Interesse an Sprachkritik und Begriffsgeschichte, das in der Dissertation bereits im Untertitel als „terminologische Untersuchung“ anklingt. Die längere Binder-Rezension argumentiert stärker philosophisch und steht im engen Zusammenhang mit der Habilitationsschrift. Fragte Der Wert des Staates nach der neukantianischen Antwort über Stammler hinaus, so fragt die Binder-Rezension, ob es Binder gelungen sei, den neukantischen „Rechtsbegriff“ durch eine andere transzendentale Auslegung der „Rechtsidee“ zu überbieten.
Binder, deutlich jünger als Stammler (1856–1938), lehrte damals in Würzburg und wechselte 1919 nach Göttingen, wo er schulbildend wirkte. Sein offenes Bekenntnis zum Neuhegelianismus wird meist erst mit der Göttinger Zeit und der Philosophie des Rechts verbunden. Im Vorwort von Rechtsbegriff und Rechtsidee deutet Binder politische Motive an, wenn er von der „Erhebung des deutschen Volkes“ spricht: „Ist es nicht Hegels metaphysischer Geschichtsidealismus, nach dem unser die großen Ereignisse des Jahres 1914 erlebendes Gemüt verlangt, um den Sinn dieses Erlebens zu verstehen“?15 Schon 1915 klingt ein scharfer Nationalismus an, der Binder nach 1918 zur Ablehnung von Versailles16 wie der Weimarer Republik, später zur emphatischen Bejahung des Nationalsozialismus17 führen wird. Für die philosophische Grundlegung beruft sich Binder 1915 dennoch auf Kant. Wie Stammler ist er allerdings der Auffassung, dass Kant Sein und Sollen nicht strikt genug getrennt habe und „bei aller grundsätzlichen Gegnerschaft gegen das Naturrecht im Grunde doch in denselben Fehler wie dieses verfallen ist, nämlich das Seiende mit dem Seinsollenden zu identifizieren.“18
Schmitt liest Rechtsbegriff und Rechtsidee nun nicht als Übergang zum Neuhegelianismus, sondern als Rückfall in den Positivismus. Binders umfangreiches Werk heißt im Untertitel: Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Rudolf Stammlers. Binders Analyse geht Stammlers Werk spröde, kleinteilig und ermüdend durch und entwickelt noch keine alternative Rechtsphilosophie. Es ist hier nicht zu erörtern, ob Schmitt Binders Werk angemessen dargestellt und kritisiert hat. Seine Rezension liest sich wie eine Replik auf Binders Stammler-Kritik. Schmitt verteidigt Stammler aber nicht eingehend gegen Binder, sondern interessiert sich schon früh, Jahre vor Binders Systematisierung seiner Rechtsphilosophie, mehr für dessen Anspruch auf idealistische Revision und Überbietung des neukantianischen Rahmens durch eine neue „Rechtsidee“; Schmitt fragt danach, ob Binder über Stammler hinausgelangt oder nicht vielmehr hinter dessen Transzendentalismus zurückgefallen sei. Es ließe sich dafür Webers höhnische Wendung von „Stammlers ‚Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ adaptieren: Schmitt polemisiert gegen Binders idealistische „Überwindung“ von Stammlers Rechtsbegriff.
Binder bekennt sich 1915 noch zur Transzendentalphilosophie und nicht zur „Hegelschen Rechtsmetaphysik“ (SS 174). Schmitt führt aus, dass Binder zutreffend kritisiert, dass Stammlers Rechtsbegriff nur ein „System abstrakter Rechtsbegriffe“ und keine „reinen“ bzw. „transzendentalen“ Kategorien erfasst habe; er selbst hatte die rechtsphilosophische Aufgabe im Wert des Staatesähnlich beschrieben und zwischen „transzendentaler“ Rechtsphilosophie und „allgemeiner“ Rechtslehre (analytischer Rechtstheorie) strikt unterschieden. Als Zwischenergebnis formuliert Schmitt:
„Nach dem Ergebnis von Binders Kritik ist demnach selbst dem heißen Bemühen eines Gelehrten wie Stammler das mit den tauglichsten Mitteln begonnene Unternehmen einer reinen Rechtslehre misslungen. So wächst die Erwartung, auf welche Weise wohl Binder selbst den schmalen Weg des Transzendentalismus einschlagen wird, ohne von ihm nach der Seite einer transzendenten Metaphysik oder nach der eines empirischen Positivismus abzuweichen.“ (SS 176)
Der Leser ahnt bereits, dass Schmitt zu einem negativen Befund gelangen wird. Er führt ätzend aus, dass Binder hinter Stammlers Autonomisierung des Rechtssystems zurückgefallen sei, weil seine Überhöhung des Rechtsbegriffs durch eine apriorische „Rechtsidee“ – man ist versucht, von „Grundnorm“ zu sprechen – gänzlich bedeutungslos СКАЧАТЬ