Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book). Thomas Balmer
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СКАЧАТЬ und die Reaktion darauf durch die einzelne Lehrperson. Der Forschungsansatz der Educational Governance spricht von den sozialen Prozessen der Handlungskoordination im Mehrebenensystem der Bildung (vgl. Altrichter & Maag Merki, 2009). Sie sind eine Erklärung, warum bei einer Reform nicht von einem linearen Durchgriff von oben gegen unten gesprochen werden kann. Auch gelten traditionelle Normen und Regelungen zu Struktur und Organisation von Schule und Unterricht, die von Tyack und Tobin (1994) als die «Grammatik der Schule» bezeichnet wurden und als rahmende Faktoren für die Unterrichtsgestaltung grundsätzlich wirken. Sie sind gerade auch für eine unterrichtsbezogene Reformumsetzung wie im vorliegenden Fall präsent. Dazu werden etwa die Aufteilung der Schülerinnen und Schüler (traditionell in Jahrgangsklassen) und der Zeit (Lektionen und Pausen), die Durchführung des Unterrichts in Fächern, Lektionentafeln und die Notengebung gezählt.

      Mit Kennedy (2006, S. 12ff.) lassen sich aus der Perspektive der Lehrperson weitere Gründe für Reformhindernisse vermuten:

      1 Lehrpersonen brauchen mehr Wissen oder Anleitung, um ihre Praxis zu verändern (vgl. auch Penuel, Fishman, Gallagher, Korbak & Lopez-Prado, 2009). Am Beispiel der Bildungsstandards wird etwa eine «Technologielücke» zwischen den Standards und ihrer Nutzung durch die Lehrpersonen für die Gestaltung des Unterrichts festgestellt (Specht & Freudenthaler, 2008, S. 300). Das häufige Fehlen von adäquaten Lehrmitteln beziehungsweise Schulbüchern kann aufgrund ihrer Funktion als Leitmedium der Unterrichtsplanung und -durchführung (Hofmann & Astleitner, 2010; Oelkers, 2009a) ebenfalls dieser Kategorie von Schwierigkeiten zugerechnet werden, weil gerade ihre Kohärenz mit der Reformabsicht wichtig wäre (Fortus & Krajcik, 2012). Ihr Beitrag zum Gelingen einer Reform ist jedoch nicht eindeutig, weil er sowohl von der Qualität des Materials als auch von dessen Nutzung durch die Lehrperson und die Schülerinnen und Schüler abhängt (Ball & Cohen, 1996; Marco-Bujosa, McNeill, González-Howard & Loper, 2017).

      2 Lehrpersonen haben Überzeugungen und Werte, die sich von denjenigen der Reformer unterscheiden. Jedoch rechtfertigen sie damit ihre eigene Praxis (vgl. auch Gräsel, Jäger & Wilke, 2006b). Beispielsweise haben sie vielleicht eher transmissive Überzeugungen, die Lernen als eine Vermittlung verstehen, und nicht konstruktivistische, die im Lernen eine eigentätige Konstruktion sehen, wie sie hinter dem Lehr-Lern-Verständnis des Lehrplans 21 stehen und die sich «tendenziell positiv (vs. transmissive negativ) auf lern- und motivationsrelevante Merkmale der Unterrichtsgestaltung auswirken» (Reusser, Pauli & Elmer, 2011, S. 483). Je grösser der Unterschied zwischen den Absichten einer Reform und den Überzeugungen der Lehrperson ist, desto mehr Zeit und Unterstützung sind für ihre Veränderung notwendig (Levin & Nevo, 2009).

      3 Lehrpersonen haben Einstellungen und Erwartungen, die mit der Fähigkeit, die Reform umzusetzen, interferieren. So wurden etwa die Erwartungen von Lehrpersonen an die Klarheit und Orientierungshilfe von Bildungsstandards und Kompetenzmodellen im Hinblick auf das eigene Unterrichten eher enttäuscht (Neuweg, 2005; Specht & Freudenthaler, 2008; Wacker, 2008).

      4 Die Umstände des Unterrichtens verhindern das Lernen der Lehrpersonen beziehungsweise die Veränderung ihrer Praxis, etwa bürokratische und organisationale Bedingungen des Arbeitsplatzes Schule (ebd.; Clement & Vandenberghe, 2000; Rosenholtz, Bassler & Hoover-Dempsey, 1986). Aber auch sozialpsychologische Umstände, wie sie beispielsweise mit den Termini «Schulkultur» (Eraut, 2014; Hargreaves & Braun, 2012; Claudet, 1998; Louis, Marks & Kruse, 1994; Postholm & Wæge, 2016) oder «powerful discourse communities» (Putnam & Borko, 2000) gefasst werden: Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler wachsen in eine bestehende Kultur von Aktivitäten und Denkweisen einer Schule hinein, die für die Unterrichtsentwicklung mehr oder weniger förderlich sind.

      5 Reformziele selbst sind unerreichbar oder können die Praxis behindern, sind also nicht realistisch. So wird zum Beispiel kritisch gefragt, ob Reformkonzepte der Deregulierung und Dezentralisation, die mit dem Ansatz «Schulen als lernende Organisationen» operieren, nicht tatsächlich höchstens Organisationsprobleme zu lösen vermögen, aber nicht unterrichtliche beziehungsweise solche, die mit dem Bildungsauftrag der Lehrpersonen zu tun haben (Böttcher, 2009; Tacke, 2004). Diese Frage stellt sich im Kanton Bern zum Beispiel beim Reformkonzept bezüglich der Integration (siehe Beitrag 2, Kapitel 7).

      Diese Schwierigkeiten lassen sich auch als «Problem der Implementation» bezeichnen (Oelkers & Reusser, 2008, S. 49), eine politikwissenschaftliche «Entdeckung» der 1980er-Jahre (McLaughlin, 1987); ihm kann nur mit kohärenten Massnahmen auf allen Systemebenen erfolgreich begegnet werden. Implementationsstrategien müssen nicht nur die Lehrpersonen, Schulleitungen und die Bildungsverwaltung, sondern auch die Eltern, Schülerinnen und Schüler, Medien und die lokale Öffentlichkeit adressieren (Oelkers & Reusser, 2008). Erfolgreicher sind Kombinationen von unterstützenden Massnahmen zur gleichen Zeit und über längere Zeit (Lieberman & Miller, 1990; Levin, 2010; Fullan, 1994) sowie von Top-down- und Bottom-up-Strategien (Fullan, 1994), wobei die Forschungslage zur «richtigen» Implementationsstrategie nicht eindeutig ist (Gräsel et al., 2006b). Deutlich ist zumindest, dass bei einer Schulreform wie der Einführung eines neuen Lehrplans externe Anforderungen individuell und kollektiv bearbeitet werden müssen. Deshalb auch sind schulinterne Entwicklungsarbeiten unbedingt erforderlich. Mit Blick auf die einzelne Schule sind es hauptsächlich psychologische und sozialpsychologische Faktoren auf Individualebene der Lehrpersonen und der Schulebene, die Veränderungen unterstützen oder behindern (Edelstein, 2002). Levin postuliert: «The problem is not one of resistance to change, but of making the right changes in the right ways» (2008, S. 66; vgl. auch Bereiter, 2002: Nicht Widerstand, sondern nicht «rechtzeitig» erfahrener Mehrwert lässt Reformen scheitern). Er bezieht sich damit auf einen Grundsatz der von ihm als Vize-Bildungsminister (2004–2007) mitverantworteten und auch von dritter Seite als erfolgreich beschriebenen systemweiten Bildungsreform in Ontario, Kanada, dass eine Implementationsstrategie bei den alltäglichen Realitäten der Lehrpersonen anzusetzen und dabei auf wenige Ziele zu fokussieren habe und nicht zu viele Änderungen auf einmal anzustreben sind. Genügend Zeit für die Unterrichtentwicklung und die Unterstützung der Lehrpersonen ist ein zentrales Mittel, verbunden mit einer starken «leadership» über alle Systemebenen hinweg, die am gleichen Strang zieht und dem fokussierten Unterstützen der Lehrpersonen dient, aber auch dort Druck ausübt, wo Lehrstandards nicht erreicht werden (Levin, 2010; Fullan & Levin, 2009). Dazu gehört auch ein gezielter Ressourceneinsatz und die Einbindung der Eltern und der weiteren Gesellschaft.

      Die Herausforderung für eine Reform besteht allgemein gesagt in der Realisierung einer pädagogischen Qualitätsentwicklung der einzelnen Schule (Oelkers & Reusser, 2008, S. 46ff.), der es gelingt, fokussiert Reformziele einzubinden. Von Vorteil ist es selbstverständlich, wenn die Ziele und Mittel durch das Bildungssystem als Ganzes unterstützt werden. Das ist eine Absage an eine Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung, die Lehrpersonen als gelegentliche Empfänger von Injektionen sieht, «to pep them up, calm them down, or ease their pain» (Hargreaves, 1994, S. 430) und entspricht eher, um Hargreaves Metapher zu gebrauchen, einer regelmässigen und ausbalancierten Diät (ebd.). Die Diät ist eingebunden in die alltäglichen Prozesse der schulischen Qualitätsentwicklung. Das alltägliche Essen verändert sich idealerweise nur in Bezug auf die Zubereitung und die Zutaten, nicht auch in Umfang und Dauer. Allerdings bedarf die neue Zubereitungsart unter Umständen auch eines Lernprozesses, der über die alltägliche Kochzeit hinausgeht: Unterrichtsentwicklung in einem breiten Sinn (siehe Kapitel 3) zur Reformimplementation braucht eine «Episode» (Quesel, 2019) der besonderen und fokussierten Anstrengung. Der Unterstützung durch die Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung durch Angebote beziehungsweise bestimmte Formen von Lerngelegenheiten fällt dabei eine bedeutende Funktion zu (Penuel et al., 2009).

      5 Gestaltung von Lerngelegenheiten

      Lernen ist kontextuell situiert und hoch individuell. Gerade angesichts von Reformen sind kognitiv-affektive Reaktionen eine bedeutsame Ausgangsgrösse für Lernprozesse und können СКАЧАТЬ