Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book). Thomas Balmer
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      3.4 Lehrpersonenlernen

      Aus der empirischen Tatsache, dass Lehrpersonen unterschiedlich effektiv unterrichten und über unterschiedliches fachliches und fachdidaktisches Wissen verfügen, kann geschlossen werden, dass sie unterschiedlich und Unterschiedliches lernen. Das Lernen der Lehrpersonen ist ein komplexer Prozess, der sowohl individuell wie kollektiv die kognitive, motivationale und emotionale Beteiligung erfordert, um geeignete Alternativen für die Verbesserung oder Veränderung innerhalb bestimmter bildungspolitischer Umgebungen oder Schulkulturen zu prüfen und umzusetzen (Durksen, Klassen & Daniels, 2017). Soziokulturelle Theorien, von denen es viele Varianten gibt (situiert, sozialkonstruktivistisch, sozialkognitiv, aktivitätstheoretisch), verstehen Lernen nicht nur als individuelle Informationsverarbeitung, sondern als einen sozial und kulturell eingebetteten Prozess, in dem kognitive, motivationale und emotionale Faktoren zusammenwirken. Lernen von Lehrpersonen ist kontextuell, also durch den Arbeitskontext mitbeeinflusst (Lohman & Woolf, 2010; Webster-Wright, 2009; Geijsel, Sleegers, Stoel & Krüger, 2009; Ropo, 2004; Lohman, 2000). Das heisst, auch die Arbeitsbedingungen, die Schulleitung, die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern sowie die Kolleginnen und Kollegen haben Einfluss darauf, wie und was gelernt wird. Für den individuellen beruflichen Lernprozess spielt es also eine Rolle, in welcher Schule man unterrichtet. Einerseits bestimmt dieser externe Interaktionsprozess mit der sozialen und materiellen Umgebung, was Lehrpersonen lernen. Andererseits ist es der interne Prozess der Aneignung und Verarbeitung. Das heisst, dass die Art, wie Lehrpersonen eine Situation wahrnehmen und verarbeiten, sowie ihre Interaktionen mit der Umgebung bestimmen, ob und wie Situationen genutzt werden und Lernaktivitäten entstehen, welche das professionelle Wissen und Können erweitern oder vertiefen und in der Folge zu verändertem Verhalten und Ergebnissen führen können (Hoekstra, Korthagen, Brekelmans, Beijaard & Imants, 2009; Illeris, 2006).

      Diese Vorstellung des Lernens entspricht der ökologischen Sicht, dass Verhalten aus den laufenden Interaktionen des Individuums mit seiner näheren und weiteren Umgebung, seinen Zielen und Aufgaben entspringt (Keay, Carse & Jess, 2019; Bronfenbrenner, 1979). Expertise, lässt sich daraus folgern, entwickelt sich durch die dynamische Interaktion von persönlichen Faktoren, der Beziehung zwischen der Lehrperson (mit einer bestimmten Geschichte in lokalen und weiteren Kontexten) mit ihrer beruflichen Praxis sowie der soziokulturellen Umgebung (Dall'Alba & Sandberg, 2006). Lernprozesse sind dabei nicht als geradlinige Prozesse und gestuft vorzustellen, sie verlaufen nichtlinear, «messy and recursive» und beinhalten Phasen der Konsolidierung, Herausforderung und Fehler (Keay et al., 2019, S. 133) in wiederholten Zyklen der Überprüfung des Unterrichts und des Experimentierens im Unterricht (Goldsmith, Doerr & Lewis, 2014).

      Die Lernergebnisse sind eher als Verfeinerungen oder Reorganisation bestehenden Wissens und Handelns denn einer umfassenden Transformation zu komplexerem Verstehen der Praxis oder vollständig verändertem Unterricht zu sehen (Dall'Alba & Sandberg, 2006, S. 396; Caravita & Halldén, 1994; Balmer, 2018a). Sie können auch erst verzögert sichtbar werden. Evans (2019) meint, es sei zu vereinfachend, wenn angenommen wird, dass Wirkungen einer Weiterbildung unmittelbar danach evident werden. Neue Ideen oder Denkweisen brauchen Zeit, um in der Praxis assimiliert zu werden, können dabei auch durch die Vielzahl weiterer Einflussgrössen verändert worden sein (ebd., S. 7). Das gilt auch für den umgekehrten Prozess: Die Praxis kann sich verändern, zum Beispiel aufgrund von neuen Aufgabenstellungen im Unterricht durch ein neues Lehrmittel, was aber nicht von selbst und unmittelbar zu neuen Denkweisen und Vorstellungen über den Unterricht führt (Balmer, 2018a).

      Unterrichtsentwicklung als Bezeichnung für diese Lernprozesse darf aber nicht missverstanden werden: Expertise oder Kompetenz wird nicht passiv oder durch Reifung oder einfach durch die Tatsache, dass man unterrichtet, erworben. Auch wenn implizite oder unbewusste Lernprozesse bedeutsam sind (Evans, 2019), erfordert die Entwicklung von Expertise auch einen aktiven, gewollten Prozess, der auch bewusstes individuelles und kooperatives Denken, Problemlösen sowie Reflexionen zur Analyse praktischer Fragen beinhaltet (Lehtinen, Hakkarainen & Palonen, 2014)6. Der Erwerb von Expertise geschieht deshalb nicht allein in der Praxis und durch die Praxis, sondern braucht auch Distanz durch die überprüfende Reflexion, um ein vertieftes Wissen und neues Können zu erwerben (Neuweg, 2010). Erst die Distanz ermöglicht eine kritische Reflexion und eine Überprüfung oder Untersuchung der (eigenen) Praxis. Neu organisiertes Wissen oder neue Konzepte müssen dann wiederum in die Praxis übertragen werden. «Gelerntes wird letztlich immer nur dann gelernt, wenn es an der Praxis erprobt ist» (Nuissl, 2006, S. 226).

      4 Lernen angesichts einer Reform

      4.1 Unterschiedliche Reaktions- oder Einstellungstypen

      Lehrpersonen nutzen also die verschiedenen Lerngelegenheiten am Arbeitsplatz oder in der Weiterbildung grundsätzlich unterschiedlich. Was passiert nun angesichts einer Reform? Es gibt empirische Hinweise auf unterschiedliche Einstellungen zu Erneuerungsprozessen, die auch deren Erfolg beeinflussen können. In einer Studie konnten bei Lehrpersonen drei Gruppen unterschieden werden: Befürworter, Skeptiker und Unentschlossene, wobei die Gruppenzugehörigkeit den Umsetzungsgrad von Innovationen in einer Schule signifikant erklärt (Zlatkin-Troitschanskaia & Buske, 2009). Bitan-Friedlander et al. (2004) bildeten fünf Typen von Lehrpersonen im Rahmen einer Weiterbildung zu einer Unterrichtsinnovation: 1. der/die Opponent/-in, 2. der/die Besorgte, 3. der/die gelehrig Leistende, 4. der/die Kooperierende und 5. der/die Verbessernde. Varga-Atkins et al. (2009) identifizierten auf der Basis eines Fragebogens fünf Typen von Lehrpersonen aufgrund ihrer Einstellung zu einer Weiterbildung: 1. die Gläubigen, die an die Relevanz und Effektivität der Weiterbildung glauben; 2. die Suchenden, die grundsätzlich positiv eingestellt sind, aber individuellen Support vermissen; 3. die Agnostiker, welche die Weiterbildung grundsätzlich billigen, aber weniger von ihrem Wert überzeugt sind als die Gläubigen und die Suchenden; 4. die Skeptiker, für die die Weiterbildung wenig Wert hat, weil sie ihnen für die Praxis nicht hilft; und 5. die Lieferanten, die aufgrund spezifischer Expertise gefragte Partner von Lehrpersonen sind und eine Art Gläubige auf höherem Niveau darstellen.

      Bei einer Reform dürfte der Umgang mit Unsicherheit angesichts des Neuen eine zentrale Herausforderung für den Unterrichtsentwicklungsprozess darstellen. Im Rahmen des Pilotversuchs zum Weiterbildungsformat, wie es für die Lehrplaneinführung entwickelt werden sollte, wurde deshalb unter anderem die aktuelle emotionale Lernverfassung (vgl. Greder-Specht, 2009) der teilnehmenden Lehrpersonen erfasst. Dabei konnte ebenfalls eine Typologie von Lehrpersonen eruiert werden. Die verschiedenen Beschreibungen der Lehrpersonen liessen bei einem Teil aufgrund von «(zu) viel Neuem» eine Verunsicherung erkennen (Balmer & Zürcher, 2015). Einige sprachen sogar von Überforderung. Andere wiederum scheinen zwar Neues zu erkennen, aber können es zuversichtlich mit dem eigenen Unterricht in Beziehung setzen. Damit sind zwei Typen unterschieden, welche die Art der Auseinandersetzung mit dem Neuen, dem kompetenzorientierten Unterricht, und die damit zusammenhängende Emotion verbinden: Der erste Typ ist der verunsicherte «Geforderte», der zweite der «Anknüpfende». Es finden sich auch Lehrpersonen, die angeben, wenig Neues erfahren zu haben, aber zumindest die Zusammenarbeit oder den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen als gewinnbringend zu schätzen. Diesen Typ bezeichnen wir als die «Wissenden». Nicht alle offenen Antworten lassen eine klare Zuordnung zu. Erläuterungen positiver und negativer Emotionen, die keine eindeutige Art der Auseinandersetzung erkennen lassen, bezeichnen wir als «indifferent». Als letzten Typ finden sich solche Lehrpersonen, die dem Neuen mit «Desinteresse» begegnen, weil sie etwa aktuell mit anderen Sachverhalten oder Tätigkeiten beschäftigt waren und sich deshalb kaum mit dem kompetenzorientierten Unterricht auseinandersetzten.

      Diese Typologien dienen der Reduktion der unterschiedlichen Einstellungen, die Lehrpersonen angesichts einer Reform haben können. Sie unterscheiden sich in der Datengrundlage und methodischen Ausarbeitung, deuten aber alle darauf hin, dass Emotionen in dieser Situation eine Rolle spielen.

      4.2 СКАЧАТЬ