Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book). Thomas Balmer
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СКАЧАТЬ Fokus auf die Emotionen angesichts des Zieles des Pilotversuchs, den eigenen Unterricht in Richtung Kompetenzorientierung weiterzuentwickeln, erklärt sich aus der Rolle, die sie bei der Ausbildung von Überzeugungen, bei Reformen und damit für den Lernprozess spielen. Emotionen haben grossen Einfluss auf die Bildung neuer oder die Modifizierung bestehender Überzeugungen (Cross & Hong, 2009). Diese werden als mächtige Determinanten dessen, was Menschen für wahr halten, beschrieben. Die fachdidaktische Forschung besonders in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften hat gezeigt, dass erkenntnistheoretische, inhalts- und schülerbezogene Überzeugungen die Art der Begegnung mit der Welt stark beeinflussen und bedeutsam sind für das Unterrichten – also für das Handeln der Lehrpersonen wie auch für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler (z.B. Hartinger, Kleickmann & Hawelka, 2006; Decker, Kunter & Voss, 2015). Gerade bei Reformen spielen Emotionen eine nicht zu überschätzende Rolle, vor allem wenn es um den eigenen Unterricht geht, weniger wenn es die Ebene der Schule betrifft (Schmidt & Datnow, 2005). Sie stehen in einem Zusammenhang mit den erwarteten Wirkungen der Reform auf den Unterricht (Scott & Sutton, 2009). Der Anspruch zu erneuern löst ein Zusammenwirken von individuellen beruflichen Zielen, die in der Regel eng mit dem Unterrichten verbunden sind, der Selbsteinschätzung professioneller Kompetenz und letztlich der beruflichen Identität aus. Wie passt der Erneuerungsanspruch zu meinen beruflichen Zielen und meinem Unterricht? Wie schätze ich meine Kompetenz ein, dem Anspruch zu genügen? Die Beschäftigung mit solchen Fragen kann sich in positiven oder negativen Emotionen äussern (Cross & Hong, 2009). Da jede Reform implizit die Nachricht enthält, dass die aktuelle Praxis zumindest nicht als die bestmögliche oder sogar als nicht oder nicht mehr genügend angesehen wird (Kelchtermans, Ballet & Piot, 2009), sind unterschiedlich starke Emotionen wie Verunsicherung, Ablehnung oder sogar Bedrohung wahrscheinlich. Sie wirken über die Überzeugungen auf die Wahrnehmung und damit vermutlich auch auf die Umsetzung einer Reform. In einer niederländischen Studie wurde nachgewiesen, dass Unsicherheitsgefühle die (selbsteingeschätzte) Umsetzung einer Innovation, die Häufigkeit von Lernaktivitäten und Meinungen zu den Reformprinzipien negativ beeinflussten (Geijsel, Sleegers, van den Berg & Kelchtermans, 2001). Allerdings können negative Emotionen auch starke Antreiber sein und Lernen kommt vielleicht gar nicht ohne sie aus, wenn man an die Bedeutung von Fehlern und des negativen Wissens für den Lernprozess denkt (Oser & Spychiger, 2005). Unsicherheiten können zum Beispiel als Mittel gesehen werden, «by which we may see beyond what we think we know» (McDonald, 1992, S. 7; zitiert nach Helsing, 2007, S. 1322). Sie stellen also eine Möglichkeit dar, Fragen zu stellen und neue Antworten zu suchen. In der Lernpsychologie finden sich denn auch Konzepte, bei denen (eher) negative Emotionen eine Facette eines einsetzenden Lernprozesses sind, zum Beispiel die «kognitive Dissonanz» (Festinger & Irle, 2012) oder im Rahmen von Theorien des Conceptual Change die «Unzufriedenheit» mit Aspekten des eigenen Unterrichts oder allgemeiner einem bestehenden Konzept (Thorley & Stofflett, 1996; Gess-Newsome et al., 2003).

      Im Lehrberuf kommt hinzu, dass er grundsätzlich durch Unsicherheitsfaktoren gekennzeichnet ist. Häufig genannt werden etwa der Mangel an standardisiertem beruflichem Wissen, die hohe Variabilität und Unvorhersehbarkeit von Unterrichtsstunden und die Unsicherheit, welchen Anteil man am Erfolg oder Misserfolg der eigenen Schülerinnen und Schüler hat, weil man ihn im Verhältnis zum Einfluss des Kontextes (Eltern, Freundeskreis, soziale Lage etc.) kaum verlässlich einschätzen kann (Soltau & Mienert, 2010). Balanceakte wie das Abwägen von Bedürfnissen einzelner Schülerinnen und Schüler gegenüber den Bedürfnissen der grösseren Gruppe sind ein weiterer berufsimmanenter Unsicherheitsfaktor (Helsing, 2007). Wenn Unsicherheit eine berufliche Konstante ist, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass mit Unsicherheit auf die Nachricht reagiert wird, dass nun mit dem Lehrplan 21 ein entsprechender Unterricht angeboten werden soll, der den Schülerinnen und Schülern die darin beschriebenen Kompetenzen erwerben lässt.

      4.3 Modell zur Erklärung von Reaktionen auf die Reformnachricht und Folgen für das Lernen

      Gregoire (2003) liefert ein in seinen Grundzügen empirisch bestätigtes Modell, wie man sich das Zusammenspiel kognitiver, motivationaler und emotionaler Voraussetzungen bei der Lehrperson angesichts einer Reform vorstellen kann und welche Folgen sie zeitigen können (siehe Abbildung 1.2). Je nach Einschätzung der eigenen Betroffenheit von dieser Reform kann eine Lehrperson bei einem Nein dazu freundlich-positiv oder neutral, bei einem Ja mit Stress, Unsicherheit oder zumindest mit offenen Fragen reagieren. Im Fall eines freundlich-positiven oder neutralen Neins auf die Frage nach der eigenen Betroffenheit ist es wahrscheinlich, dass die Reformfolgen eher oberflächlich bearbeitet werden, weil die Motivation für eine vertiefte Auseinandersetzung fehlt. Weil man sich als nicht betroffen ansieht, verbleibt der Fokus auf anderem. Die in Kapitel 4.1 genannten Typen der «Wissenden» – die im vorliegenden Fall bereits behaupten, kompetenzorientiert zu unterrichten – und der «Desinteressierten» dürften die eigene Betroffenheit von der Reform als gering eingeschätzt und mit einer eher oberflächlichen Auseinandersetzung reagiert haben.

      Den Stress im Fall der Betroffenheit sieht Gregoire (2003) in Anlehnung an Lazarus und Folkman (1984) als ein Ungleichgewicht zwischen personenseitigen Ressourcen und Anforderungen der Umwelt. Ob nun dieser Stress motiviert bewältigt wird, hängt von der Selbstwirksamkeitserwartung gegenüber den Reformanliegen ab, also dem Grad der subjektiven Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungen aufgrund eigener Kompetenzen bewältigen zu können (Jerusalem, 2005). Wenn Lehrpersonen starkes Vertrauen in ihre Fähigkeit haben, kompetenzorientierten Unterricht umsetzen zu können, dann postuliert das Modell, dass sie die Situation als eine Herausforderung wahrnehmen. Bei schwach ausgeprägter Selbstwirksamkeitserwartung erscheint das Reformanliegen als Bedrohung. Gregoire (2003) meint aber, dass die Überzeugung, die Anforderungen der Reform bewältigen zu können, allein nicht reicht, um sie nicht als Bedrohung zu empfinden. Zusätzlich muss auch die Fähigkeit vorhanden sein, sie umzusetzen. Die professionelle Kompetenz (z.B. fachdidaktisches, fachliches und pädagogisch-psychologisches Wissen und Können), aber auch externe Ressourcen (Zeit, unterstützende Rahmenbedingungen in der Schule) müssen in genügendem Ausmass vorliegen, um die Reform als Herausforderung ansehen zu können. Der emotionale Zustand einer Lehrperson entsteht aus dem hoch individuellen Zusammenwirken dieser internen und externen Ressourcen.

      Wenn das Reformanliegen als Bedrohung empfunden wird, folgen Vermeidungsstrategien, die höchstens zu einer oberflächlichen Auseinandersetzung damit und im besten Fall zu oberflächlichen Überzeugungsveränderungen führen. Wenn hingegen eine Herausforderung gesehen werden kann, findet wahrscheinlich eine Annäherung statt, die ein systematisches Bearbeiten ermöglicht. Sofern dieser Prozess einen Ertrag für die Lehrperson abwirft, kann er zu einer Konzeptänderung («Conceptual Change») und damit wahrscheinlich auch zu Handlungsveränderungen führen.

      Abbildung 1.2: Das kognitiv-affektive Modell von Konzeptänderungen (Gregoire, 2003)

      Das Modell und die Bedingungen für eine Unterrichtsentwicklung beziehungsweise das Lernen von Lehrpersonen verweisen darauf, dass ein gewisses Mass an «Stress», das heisst Unsicherheiten, lern- oder innovationsförderlich sein kann. In Anlehnung an Schüsslers These zu nachhaltigem Lernen Erwachsener kann gefolgert werden, dass dadurch notwendige Irritationen vorhanden sein dürften und ein Weiterbildungsangebot sie reflexiv verarbeiten sollte mit dem Ziel, «biografische Kohärenz» wiederzugewinnen (Schüssler, 2008). Der Lernprozess mit den gewünschten Effekten stellt aber nicht automatisch einen Selbstläufer dar. Im Gegenteil, Reformen scheitern auch oder werden zumindest nicht genau gemäss der Reformabsicht umgesetzt (Tyack & Tobin, 1994).

      4.4 Reformhindernisse

      Ein neuer Lehrplan wie letztlich «alle Schulreformen stellen einen bildungspolitischen Versuch dar, gezielt Änderungen des Lehrer/-innenhandelns hervorzurufen» (Bosche & Lehmann, 2014, S. 246).

      Die Handlungsbedingungen, -koordinationen und -ergebnisse auf den СКАЧАТЬ