Briefgeschichte(n) Band 1. Gottfried Senf
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Название: Briefgeschichte(n) Band 1

Автор: Gottfried Senf

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783961450442

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СКАЧАТЬ Urlaub. Es blieb etwas Zeit, um auch Ihre Briefe noch einmal zu lesen. Mir wurde bewusst, dass ich wohl Ihren sehr langen Brief vom 7.2.91 gar nicht beantwortet hatte. Sie schilderten dort ausführlich das Schicksal Ihrer Eltern im Sommer 1945, aber auch die Vorgeschichte des Herbert Kopp! Ich weiß zwar noch nicht, wann Kopp gestorben ist, fest steht aber, dass er nur kurze Zeit in Geithain sein Unwesen treiben konnte. Die noch jetzt in Geithain existierende Familie Kopp hat mit Herbert Kopp nichts zu tun. Sie stammt aus Ostpreußen und ist erst kurz nach 1945 nach Geithain gekommen.

      Ihre Erinnerungen an die Monate nach Ende des Krieges, die Tatsachen über Ereignisse auf dem Sommerhof und hier in Geithain würden uns als Heimatverein bei der Aufarbeitung der Regionalgeschichte viel nützen. Es war ja vor der Wende alles weitgehend tabu bzw. es wurde verzerrt und einseitig dargestellt. Ich habe bisher Ihre Schilderungen auch als persönliche und vertrauliche Sache angesehen. Bitte teilen Sie mir einmal mit, ob Sie selbst – etwa über unsere Zeitung LVZ oder den Sachsentelegraf – etwas veröffentlichen wollen oder ob ich, und wenn ja, in welcher Weise, offiziell von Ihren Berichten Gebrauch machen kann.

      Es ist schon ein Kreuz mit der Vergangenheitsbewältigung. Und Verdrängungsprozesse – wie nach 1945, „Lasst mich endlich in Ruhe damit“ – nehmen meiner Ansicht nach zu. Dass nur wenige bewusst auf Karriere verzichtet haben und die meisten mehr oder weniger Mitläufer waren, wollen wiederum die meisten nicht wahrhaben. Und dann ist die Entwicklung des Verhältnisses zwischen „Ossis“ und „Wessis“ im letzten Jahr. Ich finde, es ist von der gesamtdeutschen Euphorie vom 3.10.90 nicht mehr viel da. In diesem Zusammenhang zwängt sich mir folgende Analogie immer wieder auf:

      In DDR-Zeiten wurde die Nazizeit, der Alltag im 3. Reich, nie richtig dargestellt. Schwarz-Weiß-Malerei, Verzerrungen und Einseitigkeit – eben „klassenmäßige“ Geschichtsbetrachtung – bestimmten das Bild. Kein Wunder, dass sich junge Menschen immer fragten, warum nur so viele dem „Führer“ zugejubelt hatten. Analog dazu machen sich viele Westdeutsche ein zu einfaches Bild vom Leben der Menschen in der DDR. Die Bonzen, Stasimänner auf der einen Seite, und die in Unfreiheit gehaltenen, nach materiellen Gütern lechzenden Menschen auf der anderen Seite. Wieder entsteht bei so undifferenziertem, ja primitivem Herangehen die Frage: Wie konntet Ihr denn nur so lange das aushalten? Warum haben bei Euch so viele an das Märchen vom Sozialismus geglaubt? Aber: So wie in der Nazizeit ganze Legionen von sehr intelligenten Menschen, Wissenschaftler, Ärzte und Philosophen Theorien wie etwa die Rassentheorie höchst wissenschaftlich begründeten – wer merkte in der Zeit selbst, dass es kein Begründen, sondern ein Verbrämen war? – gab es Tausende, die die Politik der SED wissenschaftlich garnierten. Einschlägige Professoren wurden zitiert und der „kleine Mann auf der Straße“ berief sich auf sie. Ich erinnere mich noch sehr an ein geflügeltes Wort etwa in den Monaten vor 1945, meine Mutter sagte es oft: „Wenn das der Führer wüsste!“ Schuld waren die Bonzen der unmittelbaren Umgebung. Analog dachten bei uns, und ich schließe mich da ein, viele in der Richtung: Die Theorie stimmt schon, aber die Praxis wird falsch gehandhabt. Man schimpfte auf die Kreisfunktionäre der Partei, man verachtete ihre Unfähigkeit, ihre Dummheit! Das Ziel wurde von vielen Menschen durchaus anerkannt, aber der Weg zum Ziel wurde nicht mitgetragen. Die ganze Theorie vom historischen Materialismus, von den sozialistischen Produktionsverhältnissen hat sich als totale Utopie herausgestellt. Grenze und Berliner Mauer wurden natürlich als verbrecherisch und völlig anachronistisch erkannt. Aber wer war denn schon täglich damit konfrontiert? Wer wagte es, das laut und öffentlich zu sagen?

      Ich glaube, es dauert noch lange, bis die Bewusstseinseinheit der Deutschen erreicht sein wird. Und es wird wohl ein Rätsel bleiben, warum Diktaturen, offensichtliche Ungerechtigkeiten, ja Verbrechen von Staats wegen immer wieder von intelligenten Menschen wissenschaftlich, künstlerisch und philosophisch den Massen schmackhaft gemacht werden können. Haben sich Apologeten des Marxismus/Leninismus ganz primitiv nur verkauft an die Machthaber oder inwieweit haben sie das in dicken Wälzern Dargestellte denn wirklich selbst geglaubt? Aber nun bin ich wohl selbst etwas ins Philosophieren geraten. Mitschuld hat der Dauerregen, der die eigentlich geplante Heuernte in Tautenhain verhinderte.

      Nochmals herzlichen Dank für die fleißige Sammlungsarbeit. Vielleicht wird es mir einmal möglich sein, selbst nach Dover zu kommen. Es ist ja jetzt „nur noch“ eine Frage der Zeit und des Geldes!

      Mit herzlichen Grüßen auch an Ihre Frau

      verbleibe ich Ihr G. Senf

       Georgetown, 26.August 1991

      Lieber Herr Dr. Senf, wir waren einige Zeit auf Cape Breton, einer wunderbaren Insel, die zur Provinz Nova Scotia gehört. Als wir zurück kamen, wartete Ihr langer Brief vom 28. Juni auf uns, mit allen Beilagen. Unterdessen traf auch Ihre Karte aus Ochsenfurt bei uns ein. Ich danke Ihnen sehr herzlich. Nun haben wir hier einen Streik der Post und ich weiß nicht, wann dieser Brief abgehen wird. Ich will die Zeit nutzen, etwas ausführlicher auf Ihren Brief einzugehen.

      Wir bekommen jede Woche die Hamburger Wochenzeitschrift „Die Zeit“, meiner Ansicht nach die beste aller westdeutschen Zeitungen. Es gibt davon eine nordamerikanische Ausgabe, die wir abonniert haben. Die hält uns auf dem Laufenden über die Ereignisse in der früheren DDR. So können wir uns ein Bild machen von den unsagbaren Schwierigkeiten, unter denen Sie jetzt leben müssen. Als Verantwortlicher für Gesundheit und Soziales waren Sie ganz sicherlich nicht zu beneiden und sind nun sicherlich froh, in Chemnitz beginnen zu können. Die Lage ist mit den ersten Nachkriegsjahren im Westen nicht zu vergleichen. Damals waren alle Länder Europas am Nullpunkt, diesmal muss das ausgepowerte Osteuropa auf den wirtschaftlichen Stand Westeuropas angehoben werden. Doch setzt die sogenannte freie Marktwirtschaft ein politisches Rahmenwerk voraus, das bisher in Osteuropa noch nicht oder nur in Ansätzen besteht. So wunderbar ist die Konsumwirtschaft aber auch nicht, dass man dafür alles und jedes opfern sollte. Sie bringt zahllose Waren, nötige und unnötige, in die Läden, doch kann ich mir nicht vorstellen, wie 10 Milliarden Menschen (die vorhergesehene Bevölkerung der Erde im Jahr 2030) diesen verschwenderischen Lebensstil weiterführen wollen, wenn die Rohstoffe immer knapper und die Böden wegen Überdüngung schließlich nicht mehr wachsen lassen. Der Kapitalismus ist eine tolle Sache, doch werde ich den Verdacht nicht los, dass wir so ewig nicht leben können. Bisher ist der Kapitalismus eine Ausbeuterphilosophie. Nach uns die Sintflut. Wenn wir diesen schönen Planeten für unsere Nachkommen erhalten wollen, dann müssen wir zu Dienern und Verwaltern dieses Planeten werden. Vielleicht gelingt es uns, die Konsumphase hinter uns zu lassen und eine Lebensart zu entwickeln, die gütiger ist als die jetzige. Es scheint doch so, als hätten wir etwas gelernt in diesem verrückten Jahrhundert. Die Ereignisse der gerade vergangenen Jahre lassen hoffen. Zum Beispiel am letzten Montag: Als die Nachricht vom Staatsstreich in Moskau durchkam, war mein erster Gedanke „nun geht der kalte Krieg von vorne los“. Glücklicherweise lag ich falsch. Die viel geprüften Russen machten diesmal nicht mit. Und der große Gorbatschow hat sich nun endlich dazu durchgerungen, der Partei den Garaus zu machen. Bravo!

      Die Nachkommen von Paul Guenther habe ich bisher noch nicht finden können, obwohl ich einige Briefe auf den Weg schickte. Doch hat mir Herr Coulthard in Dover die alten Fotos der Fabrik nachfotografieren lassen, von denen ich Ihnen nur sehr schlechte Kopien geschickt hatte. Auch fand er einen anderen Paragraphen in einem Buch. Diese Sachen lege ich bei. Wahrscheinlich werden wir in etwa einem Jahr wieder nach Deutschland kommen, da bringen wir den Paul Guenther-Becher mit. Sie sind uns natürlich jeder Zeit hier willkommen.

      Das Verhalten der Menschen in einer Diktatur, darüber sind Bände geschrieben worden, doch ist das Thema wohl unerschöpflich. Es ist wohl gar nicht unbedingt eine Frage der Intelligenz, ob man einer Diktatur widersteht oder nicht. Wie Sie ganz richtig feststellen, haben sich sehr intelligente Leute sowohl Hitler als auch Stalin und seinen Nachfolgern zur Verfügung gestellt. Es ist eine Frage des inneren Anstands. Viele, sogenannte einfache Leute, haben den Versuchungen, Böses zu tun, auf bewunderungswerte Weise widerstanden. Es hat natürlich oft auch etwas mit Religion zu tun, obwohl die Religion СКАЧАТЬ