Название: Briefgeschichte(n) Band 1
Автор: Gottfried Senf
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783961450442
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Das ganze Leben ist wesentlich hektischer – oder sagen wir es positiver – dynamischer geworden. Die Kriminalität steigt in erschreckendem Maße. Von den Großstädten mal abgesehen, hier in unserer mehr oder weniger verträumten Gegend sind Einbrüche in Verkaufsstellen und Autodiebstahl leider an der Tagesordnung. Die Jagd nach dem Geld hat alle irgendwie gepackt. Dass es nun alles in Hülle und Fülle, in feinster Qualität bei größten Auswahlmöglichkeiten zu kaufen gibt, verkraften viele Menschen nur schwer! Und die Werbung, an allen Orten und zu allen Zeiten! Die verschwenderische Verpackung, eben die ganze Konsummentalität, die Sie ja auch in Ihren Briefen immer ansprechen. Gar zu vieles ist neu für die Menschen hier und manche gebärden sich wie kleine Kinder, die alles sofort haben möchten.
Was mich eigentlich am meisten beunruhigt, ist die Entwicklung in der Sowjetunion. Ich fürchte, Jugoslawien, so schlimm es ist, wird in absehbarer Zeit als harmlos und provinziell gegen das erscheinen, was sich in Russland, der Ukraine und in den Südregionen abspielen wird. Gorbatschow wird wohl einmal in den Geschichtsbüchern als eine der tragischsten Figuren der Weltgeschichte beschrieben werden.
Lieber Herr Sommer, es gäbe sicher noch viele, viele Themen, die einem so in ruhigen Stunden durch den Kopf gehen. Vielleicht muss man sich auch dazu zwingen, alles etwas gelassener zu betrachten. Im Übrigen sorgt die tägliche Arbeit, die vielen aktuell zu lösenden Aufgaben schon dafür, das eine oder andere erst einmal gedanklich beiseite zu legen.
So hätte ich natürlich Lust, die vielen Materialien zu Paul Guenther einmal systematisch in einer kleinen Broschüre zusammenzustellen. Bisher blieb es bei Zeitungsartikeln und Vorträgen in den Veranstaltungen des Geithainer Heimatvereins. Ich kann Ihnen versichern, dass ich Ihre Mithilfe bei der Vervollständigung des Bildes von Guenther, aber auch Ihre Berichte und Erinnerungen zur Zeit um 1945 den Geithainer Heimatfreunden bekannt mache. Sie stoßen stets auf reges Interesse. Neulich schrieb mir eine Frau aus Kohren-Sahlis, die aus Plauen stammt und sich noch gut erinnerte, dass Robert Reiner nach 1945 enge Beziehungen zu ihrer Familie unterhielt und sie in den schlimmen Zeiten tatkräftig unterstützt hat.
Die drei Teile Ihrer „Erinnerungen 1945“ wären es auch wert, in schriftlicher Form einmal publik gemacht zu werden. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich über Weihnachten eine Artikelserie (ähnlich im Umfang wie die über Paul Guenther im vorigen Jahr) erarbeiten und dabei auch Ihre Materialien als Quelle verwenden. Zu dieser Zeit in Geithain übergab mir kürzlich eine Frau ein vollständig geführtes Tagebuch (Sommer 44 bis Sommer 45). Vielleicht kennen Sie die Frau. Es ist die Tochter von Tischlermeister Zille in der Nikolaistraße in Geithain. Sie heiratete nach 1945 Herrn Neubert, der die Tischlerei weiterführte.
…
Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau ein frohes und gesundes Weihnachtsfest und viel Glück im Jahr 1992.
Ihr
Geithain, 04.01.92
Lieber Herr Sommer,
die ruhigen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr sind nun vorbei, vorgestern begann für mich wieder die Arbeit. Wenn auch nachträglich, wünsche ich Ihnen und Ihrer Frau alles Gute für 1992, Gesundheit vor allem und Freude an vielem! Den 4. Teil Ihrer „Erinnerungen 1945“ erhielt ich vor einigen Tagen. Herzlichen Dank dafür! Meine Frau und ich, aber auch die Schwiegermutter (als alte Geithainerin) haben alles nicht nur mit Interesse, sondern auch mit großer Anteilnahme gelesen.
Ich hoffe, dass Sie inzwischen auch meinen Brief vom 1.12.91 erhalten haben. Dort deutete ich an, dass Ihre ersten drei Teile in einer Artikelserie in der LVZ publik gemacht werden sollten. Ich habe 5 Artikel fertig, gab sie aber noch nicht bei der Redaktion ab. Mir wäre es schon lieber, Sie würden alles vor der Veröffentlichung erst noch einmal selbst lesen. Deshalb lege ich sie diesem Brief bei.
Man ist bei solchen Zeitungsartikeln natürlich an bestimmte technische Bedingungen gebunden. Die Serie darf nicht „unendlich“ lang sein, der Einzelartikel soll 1 Seite, einzeilig geschrieben, nicht überschreiten. Hält man sich nicht daran, läuft man Gefahr, dass der Redakteur kürzt oder umstellt und u. U. die Sache so verändert, dass eine Verzerrung entsteht. Er kennt das Original ja nicht! Aber mir ging es zumindest ähnlich. Ihr Original umfasst inzwischen bald 30 Seiten. Ich war gezwungen, manches wegzulassen. Wieder anderes wurde zusammengefasst. In ganz seltenen Fällen habe ich Eigenes hinzugefügt: Teil II letzte 2 Sätze, Teil IV erste Sätze, Teil V Mitte „Die Konfrontation…“ Sie glauben nicht, wie aktuell einige Ihrer Ausführungen sind! Umbruchsituationen damals wie heute!
Ein zweites Problem taucht für mich auf. Sie schildern sehr beeindruckend auch ganz persönliche Dinge. Im Brief ist das möglich und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Für einen Zeitungsartikel liegen die Dinge anders. Bitte sagen Sie mir, ob Sie mit meinen Darstellungen einverstanden sind.
Lieber Herr Sommer, es ist noch eine Sache, mit der ich die ganze Zeit schon persönlich nicht klarkomme. Sie informieren sich sehr intensiv über die Entwicklung in den neuen Bundesländern, speziell auch in Sachsen. Sie wissen, dass die Eigentumsfrage die Frage aller Fragen zur Zeit hier ist. Rückgabe vor Entschädigung oder umgekehrt? Was damals mit Ihnen und Ihrer Familie, mit Angers und Münsters gemacht wurde, war natürlich, gelinde gesagt, ungerecht. Heute sind draußen auf dem Sommerhofgelände mindestens hundert Kleingärten mit Bungalows, etliche haben ein Einfamilienhaus dort gebaut. Die meisten haben nicht die geringste Ahnung von den Einzelheiten um 1945/46 da draußen. Sie sind in der Mehrzahl so jung, dass 1945 für sie so weit zurückliegt wie sonst ein Ereignis der tiefsten Geschichte. Wie kann eine neue Ungerechtigkeit verhindert werden? Man liest schlimme Dinge über Berlin und Umgebung, wo Leute aus ihrem Haus („ihrem“, ja oder nein?) hinausgeekelt werden durch die ehemaligen Eigentümer des Grund und Bodens, meist sind es aber deren Kinder oder Enkel. Ich bin letztens mal in aller Ruhe durch das Gelände draußen auf dem Sommerhof, aber auch in Königsfeld spazieren gegangen, dabei stets Ihre Schilderungen „im Hinterkopf“! Von Schloss Königsfeld ist praktisch nichts mehr zu sehen. Und Angers Wohnhaus hatte man 1946 regelrecht zersägt in zwei Teile. Der „Sommerhof“ ist für Geithain und die Geithainer ein feststehender Begriff, aber eben als eine Geländebezeichnung, nicht als Hof der Familie Sommer. Eine Veröffentlichung in der Artikelserie führt bei den heutigen Bewohnern des Geithainer Ortsteiles mit Sicherheit zu den Fragen: „Was wird?“, „Wird Herr Sommer das Land wieder zurückhaben wollen? Müssen wir weichen oder `blechen`?“
Wie könnte eine gerechte Lösung, hier und allgemein, aussehen? Schon melden die ehemaligen Schlesier aus der DDR ihre Ansprüche an! Voriges Jahr, als ich noch auf dem Landratsamt arbeitete, erzählte ein Mitarbeiter von einem schriftlichen Antrag auf Entschädigung für ein Einfamilienhaus mit 2 ha Land, einigen Kühen und Schweinen. Der Antrag ging tatsächlich von der Tochter eines Kleinbauern aus Liegnitz in Schlesien beim Landratsamt ein. Eine Kuriosität? Wo beginnen Entschädigungsansprüche, wann werden sie anachronistisch?
Fragen über Fragen! Wie gesagt, durch Ihre Schilderungen bin ich auch selbst erst richtig mit der Problematik konfrontiert worden. Ob solche Gremien wie das Bundesverfassungsgericht jemals gerechte Lösungen finden werden, ist zu bezweifeln. Wird die Zeit Wunden heilen oder hatte sie schon Wunden geheilt, die nun wieder neu aufbrechen (oder aufgebrochen werden)?
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir bald mitteilen könnten, ob Sie der Veröffentlichung der 5 Artikel zustimmen und wie eventuell folgende Teile für die Öffentlichkeit dargestellt werden könnten.
Mit den besten Grüßen
Ihr