Название: Briefgeschichte(n) Band 1
Автор: Gottfried Senf
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783961450442
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Der Ausspruch Ihrer Mutter: „Wenn das der Führer wüsste!“, den habe ich oft gehört, im Kriege und auch vorher. Für mindestens 60 oder 70 % der Deutschen damals war Hitler so etwas wie ein Gott. Warum die Nazis die Ergebnisse ihrer Wahlen gefälscht haben, erstaunt mich jetzt. Sie hätten sowieso alle Wahlen nach 1933 gewonnen, selbst noch im Kriege. 1938 kam er zur Einweihung einer Autobahn in der Nähe von Chemnitz. Da strömte das Volk zusammen und schrie sich die Hälse wund, ich natürlich auch, als er schließlich kam, aufrecht im Wagen stehend, mit erhobenem Arm und dem durchdringenden Blick seiner stahlharten Augen. Dass das einer war, der sich an der Macht vollsoff wie normale Leute am Bier oder Wein, das hätten wir eigentlich merken sollen.
Sie fragten mich, ob Sie meine Briefe als Unterlagen zur Geschichte der Nachkriegszeit in Geithain verwenden können. Ja, natürlich. Doch muss ich Sie warnen. Meine Erinnerungen machen nicht den Anspruch objektiv zu sein. Ich habe viel über die dreißiger Jahre und danach aufgeschrieben. Wenn es Sie interessiert, schicke ich Ihnen diese Erinnerungen nach und nach. Wenn der Streik lange genug dauert, lege ich Ihnen schon diesmal etwas bei. Anbei etwas zur „Vergangenheitsbewältigung“. Das nächste Mal mehr.
Meine Frau und ich grüßen Sie sehr herzlich. Hoffentlich ist Chemnitz von der Art, dass Ihnen Zeit zur Heimatforschung bleibt. Ihnen und Ihrer Familie wünschen wir alles Gute.
Ihr Ulrich J. Sommer
Georgetown, 18. Oktober 1991
Lieber Dr. Senf,
ihr Anruf war eine Überraschung, und wir freuten uns, dass Sie nun mit der Welt in Verbindung sind. In ein paar Jahren wird es zum täglichen Leben gehören. Haben Sie unterdessen die Photographien von Dover erhalten? Die Schwarz-Weiß-Photos der wachsenden Guenther-Fabrik? Sowie den ersten Teil meines 1945-Berichts?
Heute schicke ich Ihnen den zweiten Teil. Der Bruder meiner Frau war mit seiner Frau hier aus Hamburg für einige Wochen und wir unternahmen kleine Reisen mit ihnen in Kanada und den Staaten. Dadurch bin ich zu nichts gekommen und schreibe Ihnen erst heute.
Alles Gute Ihnen und Ihrer Familie
von Ulrich J. Und Gisela Sommer
Georgetown, 20. November 1991
Lieber Dr. Senf,
beiliegend eine weitere Fortsetzung meiner Nachkriegserinnerungen. Das Original habe ich vor einiger Zeit in der englischen Sprache verfasst, für unsere Freunde hier. Nun übersetze ich es ins Deutsche, was nicht ohne Schwierigkeiten abgeht. Haben Sie die zwei vorhergehenden Kapitel erhalten?
Wie geht es Ihnen in Ihrer neuen Arbeit? Ich erhielt einen Brief von Sybille und Wolfgang Martin (Sybille ist die jüngste Tochter meiner Patentante Jutta von Einsiedel). Dieser Brief war recht munter und optimistisch. Bisher leider keine Neuigkeiten aus Dover oder New York.
Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie ein frohes Weihnachten und ein, hoffentlich, gutes neues Jahr.
Ihr Ulrich und Gisela Sommer
Geithain, 01.12.91
Lieber Herr Sommer,
gestern erhielt ich Ihren Brief vom 20.11. d. M., zusammen mit den „Erinnerungen 1945“. Ich habe alles mit größtem Interesse gelesen. Das kurze Telefongespräch war ein echtes Erlebnis für mich. Nach Toronto! Und alles so einfach! Leider hatte ich die Zeitverschiebung nicht richtig beachtet, ich wollte Sie natürlich nicht zu nachtschlafener Zeit stören!
In meinem letzten Brief vom Juni teilte ich Ihnen mit, dass ich ab Juli beim Oberschulamt in Chemnitz eine neue Arbeit aufnehmen würde. Inzwischen habe ich mich dort gut eingearbeitet. Am Landratsamt Geithain entwickelte sich die Verwaltungsstruktur im Lauf des vergangenen Jahres, insbesondere auf den Gebieten Bildung, Kultur und Soziales in einer Weise, dass ich mit meinem eigentlichen Fachgebiet fast keine Berührung mehr gehabt hätte. Inzwischen ist auch die Strukturreform für das Land Sachsen in vollem Gange. Viele kleine Landkreise werden bis 1994 zu größeren Verwaltungseinheiten zusammengefasst. Der Kreis Geithain und Teile des Landkreises Leipzig kommen zum großen Kreis Borna mit zusammen ca. 130.000 Einwohnern.
Das Oberschulamt Chemnitz bildet mit den entsprechenden Ämtern in Leipzig und Dresden sozusagen die Mittelebene zwischen dem Sächsischen Kultusministerium und den Staatlichen Schulämtern in den Kreisen. Vieles ist auch hier noch im Fluss. So arbeiten wir gegenwärtig mit Hochdruck an der Schulnetzplanung für den Regierungsbezirk Chemnitz. Statt der bisherigen Schulen (im Wesentlichen die Polytechnischen Oberschulen mit den Klassenstufen 1 bis 10, die sog. Erweiterten Oberschulen, die zum Abitur führen und die Berufsschulen) wird es ab dem nächsten Schuljahr Grundschulen (Kl. 1 – 4), Mittelschulen (Kl. 5 – 10) und Gymnasien (Kl. 5 – 12) geben. Das System der Berufsschulen wird sehr viel differenzierter sein als bisher. Nun geht es im Prinzip darum, welche Schulart wo mit wieviel Klassen eingerichtet wird. Sie können sich denken, dass Interessen von Eltern (kleiner Schulweg, vielseitiges Bildungsangebot) mit Staatsinteressen (Bildung muss finanzierbar sein) nicht selten kollidieren. Ich bin in der Abteilung II unseres Amtes als Referent für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht an den Gymnasien tätig. Man könnte alles mit den Begriffen Schulaufsicht und Schulberatung umreißen. Weil dieses Schuljahr ein ausgesprochenes Übergangsschuljahr ist, lassen sich z. Z. die Aufgaben noch nicht genau abgrenzen. Es gibt nicht nur strukturell zahlreiche Veränderungen, sondern personell tut sich mehr als genug! Wir erwarten demnächst die Ausschreibungen für die Schulleiterstellen sowie die Stellvertreter an den neu sich etablierenden Schulen. Unser Amt wird an dem Verfahren der Stellenbesetzung wesentlich beteiligt sein. Es gibt jedenfalls vollauf zu tun. Ich fahre 6.15 Uhr am Morgen los und komme in der Regel nach 17.00 Uhr abends nach Hause. Es gefällt mir eigentlich, da die Arbeit die Begegnung mit sehr vielen Menschen und das Herumkommen im ganzen Regierungsbezirk Chemnitz (von Freiberg bis Plauen im Vogtland, von Rochlitz und Hainichen im Norden bis Annaberg im Süden) erfordert. Die Arbeitszeit ist nun keineswegs mehr vergleichbar mit der des Lehrers. Zeit und Muße für das Hobby Heimatgeschichte sind doch sehr beschränkt.
Sie wollen sicher wieder etwas zur allgemeinen Entwicklung in Sachsen erfahren. Natürlich kann ich nur sagen, wie ich es zur Zeit empfinde. Ich glaube, man kann im Wesentlichen die Einschätzungen von Experten (z.B. der bekannten Wirtschaftsinstitute) bestätigen. Die Wirtschaft kommt in Gang. Der Straßenbau geht in geradezu atemberaubendem Tempo vonstatten. Ich kann das durch die vielen notwendigen Dienstfahrten wirklich sagen. Mit den Telefonanschlüssen wird es merklich besser. Nach СКАЧАТЬ