Название: Reiten wir!
Автор: Tommy Krappweis
Издательство: Автор
Жанр: Языкознание
isbn: 9783944180885
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Als »werter Herr« war ich noch nie betitelt worden. Mein Meister im Forst nannte mich selten seinen Gehilfen, wie es eigentlich mein Titel war; selbst vor anderen Menschen stellte er mich als Handlanger oder als nützliche, weitere Hände vor. Zu einem vollen Namen hatte ich es im Forst noch nicht gebracht. Gerufen wurde ich mit einer Kurzform meines Familiennamens, fast schon eine Beleidung, wenn man darüber nachdachte. Nur meine engsten Freunde benutzten die intime Form eines meiner Vornamen und riefen mich einfach Ede. Das war auf jeden Fall weniger entwürdigend als die wenigen Unterhaltungen im Wald – wobei man, um im Wald zu arbeiten, sicher nicht wortgewandt werden muss. Die meisten Bäume beginnen keine Unterhaltung.
»Wöh bin isch?«, wandte ich mich an den Fremden.
»Formal befindet ihr euch auf dem Boden eines Schachtes, durch den ihr gefallen seid, als ihr ein wenig zu hektisch zur Helle vordringen wolltet. Das nasse Herbstlaub, eine kurze Unaufmerksamkeit, das trügerische Spätabendlicht. All diese Faktoren haben eine Rolle gespielt, um diesen Unfall zu provozieren.«
»Sic transit gloria mundi. Die Wahrheit der Wält sprischt durch oiren Mund.«
Der Fremde lachte leise.
Ich errötete, denn offensichtlich hatte ich das lateinische Zitat laut ausgesprochen, anstatt es nur bei mir zu denken. »Gefälld eusch mein Laddein nisch?«
»Doch, doch«, antwortete der Fremde, wobei er sich danach länger räuspern musste und verstohlen versuchte, ein paar Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen.
Ich schaute mich um. Wenn das hier der Boden eines Schachtes war, dann gab es im Untergrund der Moritzburg Räumlichkeiten, die eher einer römischen Kasematte denn einem banalen Schacht glichen.
Der Fremde schien meine neugierigen Blicke richtig einzuordnen. »Wie gesagt, ihr befindet euch formal auf dem Boden eines Schachtes. Spirituell oder einfach metaphorisch würde ich sagen, dass ihr euch am Beginn eines Scheideweges befindet. Ich weiß, dass dies hier nicht danach aussieht. Aber das ist der Ort, wo ihr euch wirklich befindet. Ihr habt die seltene Gelegenheit, kurz innezuhalten und darüber nachzugrübeln, was die Zukunft bringen könnte – und bringen kann.«
»Wie meind öhr das?«
Der Fremde setzte sich vor die Laterne auf den Boden, sodass sein Gesicht auf derselben Höhe war wie mein Gesicht. »Lasst es mich einmal so sagen. Manche Menschen haben eine Fee, eine gute Frau, eine Holde, die ihnen bei der Geburt etwas mitgibt für ihr Leben. Und wenn diese Holde es gut mit einem meint, dann erhält man ein Geschenk, eine Gabe, oft verbunden mit einem Namen, den man trägt. Bei eurer Geburt … ist etwas schief gelaufen. Ihr hattet drei gute Frauen, die an eurer Wiege standen.«
»Wie bidde?«
Der Fremde überlegte einen Moment. »Nun, nehmt es einfach als Märchen, als eine Mär aus einer vergangenen Zeit. Als eine gute Geschichte, die ich euch erzähle, bis ihr euch gut genug fühlt, um mit mir gemeinsam aus diesem Graben zu klettern. Bis dahin … nehmt meine Geschichte für das, was sie ist: Eine Geschichte.«
Ich musste kurz nachgrübeln. Wenn ich das meinem Vetter erzählen würde … Aber dazu musste ich wirklich erst aus diesem eigenartigen Ort hinausgelangen. Und das war – da hatte der Fremde recht – im Moment nicht zu erwarten, wenn ich in meine Glieder hineinfühlte. Mithilfe meiner beiden Hände setzte ich mich ein wenig bequemer auf und ruckelte ein wenig zur Seite, sodass ichmeinen Rücken an die Höhlenwand lehnen konnte. »Gud, isch wäre dann soweid.«
»Also«, begann der Fremde, »durch einen Wink des Schicksals oder eine Gunst der Nornen habt ihr drei Frauen gehabt, die bei eurer Geburt unsichtbar und unhörbar an eurer Wiege Wünsche und Hoffnungen an euer Leben banden. Jeder eurer Vornamen ist mit einer jener Frauen verbunden. Und jede hat andere Dinge für euch vorhergesagt. Diese drei Wege, die eure Zukunft gehen könnte, gabeln sich heute hier an dieser Stelle. Daher müsst ihr eine Entscheidung treffen, welchem Weg ihr folgen wollt. Und ich bin der Führer, der euch die Wege zeigen kann. Aber ich darf euch nicht bei der Entscheidung helfen oder eine vor den anderen der drei Frauen bevorzugen. Sonst ziehe ich ein Schicksal auf mich, das schrecklicher ist als jenes in den Sagen des Altertums.«
Ich kannte einige dieser Geschichten. Die Tage in der Leihbibliothek und die ganzen abonnierten Lieferungswerke mussten sich auch irgendwann mal auszahlen.
»Gud. Fangt an.«
Der Fremde räusperte sich erneut. »Euer erster Name ist der Name des Sonnengottes. Er wurde vor langer Zeit in einem Tempel verehrt, dessen Herz ein heiliger Stein war. Nein, es ist nicht der Gott der Muselmanen, den ich hier erwähne. Elagabal – denn so lautet euer erster Name, wenn man ihn korrekt schreibt und ausspricht – stammte aus dem Vorderen Orient. Marc Aurel Antonius, dem später dieser Name gegeben wurde, hat sich nie selbst so genannt. Es ist eine schöne Idee des gelehrsamen Pfarrers gewesen, diesen Namen auf einen römischen Kaiser zurückzuführen – auch wenn sein Leben nicht gerade ein Ruhmesblatt für die römische Geschichte war. Die Dame, die diesen Namen mit einem Wunsch verknüpfte, versprach euch Reichtum und ein gutes Leben.«
Das Licht der Laterne schien zu flackern. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, dass ich ein Bild sehen konnte. Da war ein erwachsener Frank zu sehen, der in einer schönen Behausung stand. Neben ihm stand eine schöne Frau mit langem, blondem Haar, die an der Hand einen Knaben führte. Dieses Kind hatte wenig von seiner eigenen, vom Schicksal mit ein wenig zu geringer Größe ausgestatteter Statur, sondern er schien die schönen Anteile seiner Mutter mit den Augen und den Gesichtszügen seiner selbst zu vereinen. Dann drehte mein älteres Ich sich um. Liebevoll schaute er auf seine Frau und das Kind. Aber sein Blick enthielt noch mehr … eine Sehnsucht, ein Verlangen, eine Traurigkeit – alles Dinge, die ich an mir selbst nur zu gut kannte.
»Ihr habt es gesehen?«, fragte der Fremde.
»Ja«, antworte ich kleinlaut.
»Dieses Leben wäre das Geschenk der ersten Dame.«
»Aber warum schaue ich so traurig?«
Der Fremde zuckte die Schultern. »Das darf ich euch nicht sagen. Ihr müsst es selbst erraten, es ist eure Zukunft, nicht die meine.«
»Gut.« Ich überlegte einen Moment. Ein schönes Leben, sicherlich. Aber würde ich glücklich werden mit einer Familie, einer Arbeit, einem Haus? Wo würden dann meine ganzen Träume enden, die ich in mir selbst verbarg in einem Schatzkasten, den anzurühren ich nur selten wagte? »Was sünd die anderen beiden Wünsche, die man mir mitgegeben had?«
Der Fremde lächelte. »Gut. Die zweite Portion guter Wünsche ist für euren dritten Vornamen abgegeben worden.« Ich wollte nachfragen, doch er hob abwehrend die Hand. »Ich weiß, das ist nicht die richtige Reihenfolge, in der die Namen in das Taufbuch eingetragen worden sind. Aber ich kann nur wiedergeben, in welcher Reihenfolge die Wünsche ausgesprochen worden sind. Und dann kommt jetzt Edeward.«
»Gut.« Gebannt schaute ich wieder in seine Richtung, ob erneut Bilder aus den Flammen aufsteigen würden.
»Edeward oder Edward, das ist ein alter angelsächsischer Name, uralt und in vielen Versionen von England über Deutschland bis nach Frankreich verbreitet. Er bedeutet so viel wie Wächter des Wohlstands. Ich will euch nicht mit langen Ableitungen langweilen, aber der Name klingt gut für jemanden, der das Angelsächsische versteht.«
Ich schaute ihn an, doch er ließ offen, ob er zu jenen Menschen gehörte, welche diese alte Sprache beherrschten. Dann wurde mein Blick zur Seite gezogen, denn wieder erschien ein Bild in den flackernden Lichtern der Laterne. Wieder war ich zu sehen, doch СКАЧАТЬ