Название: Traumzeit für Millionäre
Автор: Roman Sandgruber
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783990401842
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Die Industrie ist das Kernstück der Ringstraßengesellschaft. Sie stellte mehr als ein Drittel der Millionäre. Diese produzierten jene Güter, die den Reichtum des Wiener Fin de Siècle möglich machten und seine Modernität begründeten: von Rübenzucker und Lagerbier über Textilien, Seifen und Chemikalien bis zu Tafelgeschirr, Essbesteck, Fahrrädern, Automobilen, Aufzügen und Elektrogeräten. 351 Millionäre sind der Industrie zuzuordnen. Es sind bis heute bekannte Namen darunter: Böhler, Krupp, Wittgenstein, Heller, Manner und Mautner-Markhof, aber auch Namen, die längst vergessen sind oder die von der Geschichtsforschung völlig übersehen wurden. Millionär konnte man in nahezu jeder Branche werden, ob als Sargfabrikant (Otomar Maschner als Inhaber der Nobelmarken Beschorner und Maschner & Söhne), als Erfinder der öffentlichen Bedürfnisanstalten (Wilhelm Beetz), als Zündholzerzeuger (Bernhard Fürth, mit dessen Familie Bruno Kreisky mütterlicherseits verwandt war) oder als Insektenpulverfabrikant (Johann Zacherl). Weltgeltung konnte man in Nischen wie der Schreibfedernerzeugung erreichen, aber auch im neuen Feld der Gas- und Elektrizitätswirtschaft. Österreicher standen um 1900 an vorderster Linie in der Automobiltechnik, aber auch der Lochkartentechnik oder Telefonautomatisierung, in der Hefe-, Malz- und Bierindustrie und in der Zuckererzeugung. Man musste nur eine gewinnbringende Idee haben. Und man musste immer wieder neue Ideen haben. Wo sie ausblieben, war das oft mit dem Ende des Unternehmens verbunden. Untergegangen sind die Huterzeuger, die Kutschenbauer, die Sättel- und Zaumzeughersteller, die Sensenherren, die alle 1910 noch große Herren waren. Es gibt kaum noch Familien aus der Millionärsliste von 1910, die sich bis heute als Industrielle erfolgreich behaupten konnten: Häufig glänzen noch die Namen, der Reichtum hingegen ist längst verblasst oder ganz untergegangen.
Zwischen 1870 und 1910 wuchs Österreichs Wirtschaft stärker als die der westeuropäischen Industriestaaten, vornehmlich in den beiden letzten Dekaden.129 Der Abstand zu Großbritannien, Frankreich und Belgien verringerte sich. De Industrie war das Herz der wirtschaftlichen Dynamik der späten Habsburgermonarchie. Die innovatorische Dynamik war groß. Man begann auf die Weltmärkte vorzustoßen, mit neuen Produkten und Niederlassungen, von England bis Russland. Um die Jahrhundertwende bot sich für die Habsburgermonarchie die letzte Chance, auf wirtschaftlichem Gebiet aufzuholen. Ab 1896 begann ein langer wirtschaftlicher Aufschwung, der häufig auch als „Zweite Gründerzeit“ bezeichnet wird. Neue Produktionszweige, die Großchemie, der Fahrzeugbau und die Elektroindustrie gaben Impulse. Die letzten großen Eisenbahnen wurden gebaut, die ersten Strecken elektrifiziert, das Wiener Straßenbahnnetz seit 1898/99 von Pferdebetrieb auf elektrischen Antrieb umgestellt. Man diskutierte über ein großes Kanalnetz, das Rhein und Donau, Donau und Oder und Donau und Weichsel verbinden sollte. 1909 erhielt Österreich die erste Seilbahn. Erstmals schienen um die Jahrhundertwende auch die Massen etwas von den Früchten der industriellen Revolution ernten zu können. Zucker und Schokolade begannen zu Massenprodukten zu werden. Man konnte sich ein Fahrrad leisten, Inbegriff individueller Fortbewegung und weiblicher Emanzipation.130
Die Liste der Industriemillionäre gibt einen erstaunlich guten Aufschluss über Stand und Struktur der österreichischen Industrie vor dem Kriege. Die Industriellen stellten zwar die größte Gruppe unter den Millionären des Jahres 1910. Doch verglichen zu Deutschland waren sie viel weniger reich. Das Ansehen der österreichischen Industriellen war geringer als das der Händler oder Bankiers oder gar der Großgrundbesitzer. Die Bankiers und Handelsleute besetzten hier die Spitze der Einkommenspyramide. In Deutschland waren es die Schwerindustriellen: Krupp, Henckel-Donnersmarck, Henschel, Thyssen, Haniel … Die Spitzenverdiener unter den österreichischen Industriellen finden sich in der Lebensmittelindustrie: die Bierbrauer und Zuckerindustriellen, Spirituserzeuger und Hefeproduzenten. Während in Österreich der Bankier Rothschild die Liste der Spitzeneinkommen anführt, ist das in Deutschland die Industriellenfamilie Krupp.
Millionäre in der Industrie 1910
Eigene Auszählung
Das letzte Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg war die Zeit der großen Börsengänge und Industrieaktiengesellschaften. Es war auch die große Zeit der Kartelle. Ihre Zahl wuchs rasch an. 225 Industriekartelle zählt man im Jahr 1912, die meisten in der Textilindustrie, die mächtigsten in der Eisenindustrie und die stabilsten im Nahrungs- und Genussmittelsektor: das Zuckerkartell, das Bierkartell und das Spirituskartell.131 Die Zahl der Kartelle sagt allerdings noch nicht viel aus. Entscheidend waren Zutrittsbarrieren, Organisationsmacht und von der Politik bereitgestellte Rahmenbedingungen. Das industrielle Rentseeking war dort am erfolgreichsten, wo es vom Staat mit einer entsprechenden Schutzpolitik unterstützt wurde. Instabil hingegen waren die Kartelle im Maschinenbau. Nicht erfolgreich waren sie im Erdölbereich. Mit hohen Schutzzöllen und institutionellen Auflagen wurden Eintrittsbarrieren geschaffen. Hohe Exportsubventionen, die aus der Zuckersteuer finanziert wurden, begünstigten die Zuckerindustrie ebenso wie das Saccharinverbot, das nicht nur den Markt der Zuckerindustriellen schützte, sondern auch die Etablierung von Chemieunternehmen behinderte, wie sie zum Beispiel in Basel aus der Saccharinherstellung sich herausentwickelt hatten. Die Öffentlichkeit war sich durchaus bewusst, dass hier Extraprofite geschaffen und der allgemeine Wohlstand durch die Mengenbeschränkungen zugunsten einiger weniger reduziert wurde.132
Obwohl die Aktiengesellschaften so stark im Vormarsch waren, dominierten immer noch die großen Familiengesellschaften. Sieben Eissler sind unter den Millionären, drei Mautner Markhof, sechs Pollack von Parnau bzw. Parnegg, vier Eisler von Terramare, zwei Popper-Podhrágy. Zahlreiche Brüderpaare und Familienclans bestimmten das industrielle Geschehen: Böhler, Duschnitz, Friedmann, Habig, Hardy, Heller, Kupelwieser, Lieser, Medinger, Mendl, Salcher, Schrantz, Seybel, Thonet, Trebitsch, Wagenmann, Weinberger, Wittgenstein. Eine der letzten großen Familienkonstellationen in der österreichischen Industrie bildeten zwischen den beiden Kriegen die sechs Brüder Bunzl, in den 1930er Jahren Österreichs dominierende Industriellenfamilie und heute noch erfolgreich am internationalen Parkett, wenn auch nicht mehr in Österreich.133
Die Berndorfer Metallwarenfabrik war Teil des gewaltigen Firmenimperiums, das Alexander Ritter von Schoeller innerhalb weniger Jahrzehnte aufbauen konnte.
Riesige Mischkonzerne hatten die Schoeller und die Miller-Aichholz aufgebaut: eigentlich Industrieverwaltungen. Sechs Mitglieder der Familie Miller-Aichholz befanden sich 1910 unter den Superreichen, fünf Mitglieder der Familie Schoeller. Beide Familien gehören zu den bekanntesten der Ringstraßenepoche. 1910 zählte der Familienverband Miller-Aichholz zu den größten Industrieaktionären der Habsburgermonarchie. Der Compass nennt für August II., Vinzenz und Heinrich Miller-Aichholz insgesamt 28 Stellen als Verwaltungsrat, Präsident oder Direktor diverser Unternehmen recht verschiedener Branchen. Der österreichische Volkswirt stellte 1911 fest, dass die Familie Miller-Aichholz, obwohl sie zu den größten Industriefirmen des Reiches gehöre, schon seit langem mehr als Großaktionär denn als Privatfirma und Unternehmer handle.134 Sie hatte Einfluss bei den Perlmooser Zementwerken, der Neusiedler Papierfabrik, der Fabrikation vegetabilischer Öle in Triest, der Galizischen Naphta Produktion, der Brünner Kammgarnspinnerei, der Liesinger Brauerei, der Neugedeiner Schafwollwarenfabrik und den Baumwollspinnereien und Webereien in Trumau und Marienthal. Ihnen gehörte auch die Bossi Hutstumpenfabrik in Unter-Sankt Veit und das Antimonbergwerk in Schlaining, das zum Ausgangspunkt ihres wirtschaftlichen Absturzes wurde. Sie betätigten sich als Großhändler für Kolonialwaren und Chemikalien und als Privatbankiers. Das Kronjuwel aber war die Sodafabrik in Hruschau. 1911 wurde diese an den größten Konkurrenten, den Aussiger Verein für chemische und metallurgische Produktion, verkauft. СКАЧАТЬ