Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3
Автор: Rudolf Walther
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Essay-Reihe
isbn: 9783944369082
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Bei der Auswahl der Texte hielt ich mich an das Kriterium, dass sie sich über den Tag hinaus als haltbar erwiesen haben. Mehr oder weniger naturwüchsig hat sich in diesem Band bei den Essays und den Porträts ein Schwerpunkt mit Bezügen zur französischen Geschichte und Kultur hergestellt. Das erklärt sich einfach aus meinem intellektuellen Interesse und daraus, dass ich mich oft und intensiv mit der französischen Geschichte beschäftige und dabei auch – oft von Redaktionen angeregt – abgelegene Themen aufgreife, die im journalistischen Betrieb marginal geworden sind. Die Möglichkeiten, solche Themen unterzubringen, sind in letzter Zeit geringer geworden, was mit dem um sich greifenden Aktualitätskonformismus und -fetischismus und beschleunigten Produktionsrhythmen zu tun hat. Alle drei Faktoren schmälern das Format der heutigen Feuilletons, denen nichtige Events wichtiger sind als intellektuell anspruchsvolle Themen.
Thematische Überschneidungen zwischen Essays und Porträts sind nicht zu vermeiden, sie ergeben sich aus der Sache. Ich habe wiederum darauf verzichtet, die Texte nachträglich in starre Rahmen von kalendarisch oder thematisch geordneten Blöcken zu pressen, die noch gar nicht existierten, als die Texte geschrieben wurden. Die Texte entstanden aus ganz unterschiedlichen Anlässen, auch puren Zufällen. Die Anordnung trägt dem Moment von Spontaneität der Reflexion und der Reaktion, das ich auch mit dem Titel der Bände andeute, Rechnung.
Die politischen Kommentare für die Tages- und Wochenzeitungen beziehen sich auf die tagespolitische Aktualität und entstanden in der Zusammenarbeit mit den beteiligten Redakteuren, bei denen ich mich dafür herzlich bedanke.
Die kurzen Glossen sind zum größten Teil auf der Wahrheitsseite der »Tageszeitung« erstmals erschienen. Ich schätze diese Kurzform, weil sie von ihrem Umfang her zu sprachlicher und intellektueller Disziplin zwingt.
Ein großer Teil meiner Arbeiten besteht aus Besprechungen politischer, historischer und sozialwissenschaftlicher Bücher. Ich habe aus der Fülle der Rezensionen nur exemplarische Verrisse ausgewählt. Diese Auswahl beruht nicht auf einem atavistischen Willen, Autoren und ihren Büchern oder den Verlagen zu schaden. Selbst wenn ich das wollte, schaffte ich dies als Sachbuch-Rezensent nicht, denn alle diese Bücher werden von Vielen besprochen und bewertet. Verrisse sind mir deshalb wichtig, weil das redaktionelle Gewerbe sie nicht schätzt. Dabei nicht mitzuspielen, gehört zum Ethos von Kritik und Aufklärung.
Der journalistische Betrieb hat sich durch die Konkurrenz mit dem Internet in den letzten Jahren stark verändert. Überlebt haben jedoch auch ältere Usancen und Abhängigkeiten des – euphemistisch so genannten – »freien Mitarbeiters«. Ich reagiere darauf mit einem »offen Brief« in eigener Sache. Einige Texte sind mehrfach oder in gekürzten und redaktionell mehr oder weniger stilsicher bearbeiteten Versionen erschienen. In gravierenden Fällen habe ich deshalb meine ursprünglichen Textversionen den von fremder Hand zugerichteten vorgezogen und mache dies durch das Kürzel UTV (ursprüngliche Textversion) in der Liste der Erstdruckorte am Ende des Buches deutlich. Bloße Druckfehler und kleine Irrtümer oder stilistische Unebenheiten habe ich stillschweigend korrigiert.
Mein Dank gilt wiederum Michael Billmann, Britta Gerloff, Henrike Knopp und Roland Tauber vom Verlag für die sorgfältige Aufbereitung der Texte für den Druck. Ich widme das Buch Eva-Maria in Dankbarkeit und Bewunderung. Sie hat alle Texte als Erste gelesen, korrigiert, kritisiert und mich mit ihrem Veto vor Abwegen und Irrtümern bewahrt. Die verbliebenen gehen auf mein Konto.
Frankfurt, August 2013 | Rudolf Walther |
I Historische Essays
1 Von den Autobahn-Legenden bis zur Auto-Theologie
König Sisyphos von Korinth war berühmt für seine Schlauheit und berüchtigt für allerlei Verbrechen. Für beides straften ihn die Götter, und er musste im Hades einen riesigen Stein den Berg hochwälzen. Oben angekommen, rollte der Stein wieder den Berg hinunter.
Dem Sisyphos der Moderne bescherten die Götter das Automobil – »die uns schufen, sind Götter«. Der Automobiljournalist Martin Beheim-Schwarzbach meinte damit 1953 die »Volkswagen«. Deren Geschichte fällt zusammen mit dem Beginn des Autobahnbaus unter dem Hitler-Regime. Geschichte einer schönen Bescherung.
Der Traum, mit dem Auto die Mobilität ins Unendliche zu steigern, war ausgeträumt, bevor die Autowelle richtig Schwung kriegte. Seit 1936 steht in der Nähe des Hermsdorferkreuzes in Thüringen eine betonharte Strafe der Götter – die Teufelstalbrücke, vierspurig und 56 Meter über dem Erdboden. Für den Verkehr wurde sie nie freigegeben, und jetzt soll sie abgerissen oder als »bautechnische Spitzenleistung der Nazidiktatur (…) in letzter Sekunde« (FAZ 29.8.99) gerettet werden. Je dichter das Autobahnnetz wurde, desto mehr wuchs sich der automobile Traum zum Alptraum aus. Die freie Fahrt des freien Bürgers endet immer regelmäßiger im stockenden Verkehr oder im Stau. Deshalb bedürfen Autobahnbau und Autos wie keine anderen Einrichtungen der technischen Zivilisation fortlaufend neuer Legenden und Mythen.
Der Ursprung der Autobahnen ist umstritten. Je nach Definition liegt er in den USA, in Deutschland oder in Italien. In den USA ließen sich reiche Leute 1906 einen Parcours (»Motor Parkway«) für das Rennen um den »Vanderbilt Challenge Cup« bauen. Bis 1910 wuchs die Strecke bis auf rund 80 Kilometer, diente aber nicht als öffentliche Straße. Die erste kreuzungsfreie Straße mit getrennten Fahrspuren entstand zwischen 1913 und 1921 in Berlin. Die nichtöffentliche Rennstrecke AVUS (Automobilverkehrs- und Übungsstraße) führte über rund 10 Kilometer von Nikolassee bis Charlottenburg. Als Konrad Adenauer 1932 die öffentliche Autostraße Köln-Bonn eröffnete, nannte er diese anheimelnd »Kraftwagenbahn« – der Ausdruck passt wie zwanzig Jahre später der von der Atombombe als »verbesserter Artillerie«. Am 21.9.1924 schließlich wurde die erste richtige Autobahn Mailand-Varese eingeweiht, für die sich der »Straßenkönig« und Freund Mussolinis – Piero Puricelli – eingesetzt hatte.
In den zwanziger Jahren hatten dann überall die Projektemacher ihre große Zeit, aber verwirklicht wurden ihre Pläne nirgends. Besonders rührig waren die Deutschen. Die »Studiengesellschaft für Automobilstraßenbau« (STUFA) legte 1927 einen Plan für ein Fernstraßennetz von 22 500 Kilometern vor. Das heute bestehende Autobahnnetz umfasst etwa die halbe Länge! Zum Teil bis zur Projektreife gediehen waren die Pläne der HAFRABA-Gesellschaft (Hamburg-Frankfurt-Basel). Einen wichtigen Anstoß erhielten diese Projekte durch das Internationale Arbeitsamt in Genf und ihren Direktor Albert Thomas, der mit dem Plan eines europäischen Straßennetzes einen Beitrag sowohl zur Völkerverständigung als auch zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit leisten wollte. Alle diese Projekte hingen finanziell buchstäblich in der Luft.
Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, begannen Autobahnbau und Legendenbildung auf großer Stufenleiter. Hitler war vor 1933 kein Anhänger von Autobahnen. Mit dem Ökonomen Werner Sombart glaubte er, solche Straßen dienten »höchstens einer Steigerung der Bequemlichkeit oder der Befriedigung eines Luxusbedürfnisses«. Davon distanzierte sich Hitler, als er merkte, wie sich der Autobahnbau propagandistisch ausschlachten ließ. Autobahnen sind unübersehbare »Errungenschaften«. Der Legende nach verringerte der Autobahnbau die Zahl der Arbeitslosen. Tatsächlich waren dabei vor Kriegsbeginn nie mehr als 130 000 Mann beschäftigt. Ganze vier bis fünf Prozent der Arbeitslosen bekamen durch den Autobahnbau eine Stelle. Der konjunkturelle Aufschwung in anderen Branchen und die Wiederaufrüstung spielten eine beträchtlich größere Rolle. Aber die Legende der Goebbels-Trommler, der Autobahnbau beseitige die Arbeitslosigkeit, hält sich, seit das erste Teilstück am 19.5.1935 mit viel Pomp eröffnet wurde, bis heute.
Von den geplanten 9000 Kilometern Autobahnen waren bei Kriegsbeginn knapp 2200 fertig und genau 40 840 000 Quadratmeter Boden zubetoniert. Eine Mischung aus Keynesianismus und räuberischer Zweckentfremdung sorgte für die Finanzierung. Drei Viertel der Kosten von etwa fünf Milliarden wurden über die »Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung« – also über die Beiträge der Versicherten СКАЧАТЬ