Название: Die Stimme
Автор: Bernhard Richter
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783894878207
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Sänger passen den subglottischen Druck sowohl an die Tonhöhe als auch an die Lautstärke an, wie Sundberg zeigen konnte (Abb. 14). Dies ist bedeutsam für unterschiedliche Gesangsstile wie Klassik, Belting, Pop etc. Auch innerhalb des klassischen Gesangs gibt es jedoch deutliche Unterschiede des subglottischen Drucks bei lyrischen und dramatischen Stimmen, wie Messungen von Sundberg zeigen (Abb. 15). Wie wir aus Untersuchungen von Sundberg wissen, gibt es normalerweise einen klaren Zusammenhang zwischen Tonhöhe und subglottischem Druck: Je höher ein Ton ist, umso größer wird auch der subglottische Druck, der zu seiner Erzeugung notwendig ist (Abb. 16).
Abb. 13 a/b: a) forcierte Ein- und Ausatmung, b) kontrollierte Atmung beim Singen
Eine Verdopplung des subglottischen Drucks führt zu einer Zunahme des Schalldruckpegels um ca. 9 dB (Bouhuys et al. 1968). Diese Schalldruckpegelerhöhung entspricht in etwa einer Verdopplung der subjektiv empfundenen Lautheit, d. h. der Ton klingt für den Zuhörer etwa doppelt so laut.
Abb. 14: Subglottischer Druck in Abhängigkeit von Tonhöhe und Gesangsstil (die Tonhöhen sind in englischer Nomenklatur angegeben, vgl. Abb. 56, S. 64)
Anforderungen an die Sängeratmung
Als Zielparameter für eine funktionstüchtige Sängeratmung gibt es ein gemeinsames Ziel, welches musikalisch motiviert ist: den Ton. Dieser Ton kann recht präzise durch drei Parameter beschrieben werden: Tonhöhe, Tondauer sowie Tonstärke. Diese Parameter sind in der Regel auch durch die Notation und die Vortragsbezeichnungen im Notentext fixiert, wie in Abbildung 17 (S. 36) exemplarisch gezeigt. Das so in den Noten genannte musikalische Ziel ist jedoch nicht vollständig standardisierbar, sondern von der Interpretation und der Klangvorstellung jedes einzelnen Sängers abhängig. Als Beispiele – die jeder Gesangsinteressierte »im Ohr hat« – können die sehr unterschiedlichen Interpretationen der SCHÖNEN MÜLLERIN von Franz Schubert (1797–1828) durch die Sänger Fritz Wunderlich (1930–1966) mit Pianist Hubert Giesen (1898–1980), Christoph Prégardien mit Michael Gees sowie Jonas Kaufmann mit Helmut Deutsch dienen. Der gezeigte Notentext wird im Hinblick auf die genannten drei Parameter von den einzelnen Sängern – und auch Pianisten – sehr unterschiedlich ausgeführt. Dennoch hat jeder Sänger für sich genommen in seiner Atemführung eine klare Herangehensweise und – atemabhängig – eine überaus klare Klangvorstellung von jedem einzelnen Ton.
Abb. 15: Unterschiede des subglottischen Drucks bei lyrischen und dramatischen Sängerinnen (nach Sundberg 2003; die Tonhöhen sind in englischer Nomenklatur angegeben, vgl. Abb. 56, S. 64)
Abb. 16: Subglottischer Druck in Abhängigkeit von der Tonhöhe und Lautstärke (nach Sundberg 1987)
Abb. 17: Die SCHÖNE MÜLLERIN von Franz Schubert, Auszug aus dem Lied Nr. 6, »Der Neugierige« (Faksimile der bei A. Diabelli & Co. erschienenen Ausgabe von 1830)
Regulation der Sängeratmung
Der Atemregulationsvorgang beim Singen folgt im Prinzip der Systematik einer mathematischen Gleichung mit drei bekannten Variablen. Es sind dies, erstens, der Ton, zweitens, die Position des Tones in der musikalischen Phrase und, drittens, die Atemdynamik über die Zeit. Es gibt bei diesen drei Variablen eine klare Anforderungshierarchie wie in Abbildung 18 dargestellt.
An oberster Stelle steht der Ton. Der einzelne Ton ist jedoch nicht isoliert zu betrachten, sondern er ist in eine musikalische Phrase eingebunden. Zusätzlich ist zu beachten, dass auch die Atmung in sich selbst ein dynamischer Vorgang ist: Kurz nach der Einatmung steht am Anfang einer Phrase für die jeweilige Tonproduktion zu viel Luft zur Verfügung, so dass vom Sänger dafür Sorge getragen werden muss, nicht zu viel Luft herauszulassen. Häufig wird für diese regulatorische Notwendigkeit auch der Begriff der Einatmungstendenz verwendet. Am Ende einer langen Phrase ist genau das Gegenteil erforderlich, indem nach Überschreiten des REL zusätzlich Luft zur Verfügung gestellt werden muss.
Abb. 18: Anforderungshierarchie des Tones
Man kann den Atmungsvorgang – sehr prosaisch und wenig künstlerisch, aber dennoch instruktiv – mit einer Marktwirtschaft vergleichen und mit den aus der Ökonomie stammenden Begriffen Angebot und Nachfrage argumentieren. Am Beispiel der Arie »Ich freue mich auf meinen Tod« aus der Kantate ICH HABE GENUG (BWV 82) von Johann Sebastian Bach (1685–1750) lässt sich dieser Vergleich illustrieren (Abb. 19).
Die einzelnen Töne der Gesangslinie symbolisieren die Nachfrage, nach der sich das Angebot an Luft zu richten hat. Am Anfang einer Phrase herrscht ein Überangebot an Luft, die Luftzufuhr muss also gedrosselt werden. Nach einer gewissen Phonationsdauer und dem damit einhergehenden Luftverbrauch sind Angebot und Nachfrage ausgeglichen, der REL ist erreicht. Beim Autor ist dies (meist) in Takt 125 auf der dritten Zählzeit der Fall. Da dann die musikalische Linie ohne Zwischenatmung noch bis Takt 127 weitergesungen werden sollte, beginnt die dritte und letzte Phase des Atemzyklus, in welcher ein relativer Mangel an Luft besteht, so dass diese zur Aufrechterhaltung des erforderlichen subglottischen Drucks für die Tonproduktion durch aktive Ausatmungsvorgänge mobilisiert werden muss. Wie in einer Marktwirtschaft, in der weder Mangel noch Überfluss ideale Voraussetzungen darstellen, sollte zu jedem Zeitpunkt des Geschehens genau die richtige Menge an Luft bereitgestellt werden, welche für den jeweiligen Ton nach der interpretatorischen Vorstellung des Sängers im Kontext der musikalischen Phrase benötigt wird. Diese Gegensätzlichkeit der Anforderung an die Atemführung in einer musikalischen Gesangslinie – am Beginn Weghalten zur Vermeidung eines Überangebotes, am Ende Zuführung zur Bereitstellung der benötigten Luft – macht es fast unmöglich, den Atemvorgang in seiner Ausführung in einem einzigen Fachterminus begrifflich zu fassen.
Abb. 19: Bachkantate ICH HABE GENUG (BWV 82), Auszug aus der Arie Nr. 5, »Ich freue mich auf meinen Tod«
Eine weitere Schwierigkeit bei der Betrachtung der Atemphysiologie stellt die Tatsache dar, dass die Parameter wie Lungenvolumina, Flexibilität der Rippen, Tonhaltedauer und Atemregulation starken Veränderungen in der Lebenszeitperspektive unterworfen sind und im Alter nicht selten deutliche funktionelle Einschränkungen zu beobachten sind, die das Singen СКАЧАТЬ