Название: Verloren im Cyberspace
Автор: Joachim Köhler
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783374067602
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In den 1990er Jahren begann die Eroberung der Cyberwelt durch die Werbeagenturen mit simplen Anzeigen, die sich nicht von denen in den Printmedien unterschieden. Dann entwickelte man neue Methoden der Fremdbeeinflussung. Dazu gehören die unerwünschten Besuche der Pop-ups, die einem aus den Websites »ins Auge springen«. Hier zählt das Überraschungsmoment, das sich nicht durch die Botschaft, sondern durch die Plötzlichkeit einprägt. Noch bevor der User es bewusst ignorieren oder wegklicken kann, ist der Überrumpelungseffekt eingetreten. Man könnte dies als permanenten Blitzkrieg bezeichnen. Aber um der grenzenlosen Freiheit willen erträgt man ihn geduldig.
Dieses Eindringen der Kaufprovokation in die Privatsphäre wird vom User als notwendiges Übel eingepreist. Schließlich bleibt ihm die Freiheit, sie zu ignorieren. Diesen Eindruck zumindest weckt die Werbung. In Wahrheit umgeht sie diese Freiheit, indem sie sich auf andere Weise in den Nutzer einschmuggelt. Das Resultat ist dieselbe Art von Prägung, die der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bei den Graugänsen feststellte. An die Gänsemutter, die ihre Aufmerksamkeit zuerst weckt, bleiben die Graugansküken ewig gebunden. Dabei muss das Vor-Bild gar keine Gans sein. Auch Lorenz selbst wurde so zur Gänsemutter. Wie dem Forscher die Gänschen folgen Millionen ihren Führern, Filmstars, Popidolen oder Kultmarken, weil sie ihnen nach allen Regeln der Online-Kunst eingeprägt wurden.
Bei diesem Prägevorgang geht es nur scheinbar um Kommunikation. Durch einen kalkulierten Prozess wird der Mensch unmerklich in die passive Rolle gedrängt. Er muss schlucken, was ihm eingeschenkt wird. Er muss gucken, welches Produkt ihm unter die Nase gehalten wird. Auf jeder Website findet man die Werbung vor wie einen Überraschungsgast im Wohnzimmer. Meist handelt es sich um eine Kaufempfehlung, für die man den User empfänglich glaubt. Dank algorithmischer Ausbeutung gesammelter Persönlichkeitsdaten kennt man die Interessen, zumal die unbewussten, oft besser als der Kunde selbst. Wer auf die Verlockung hereinfällt und klickt, gerät in eine Abfolge immer neuer Links. An deren Ziel steht früher oder später der Kaufabschluss.
Jeder wählt sich die Website aus, die er will. Das ist die Freiheit im Netz. Und er kann dies, so oft er möchte, Tag und Nacht. Nur, was man in Wahrheit bekommt, zeigt sich erst, wenn die Seite auf dem Schirm erscheint. Sie bietet nämlich eine Wundertüte an, die teils das bringt, was man erwartete, teils, was einem die Werbung oktroyiert. Die Website kann sich aber auch schlicht als automatischer Durchgangspfad zu anderen Inhalten entpuppen. Der Surfer lenkt per Touchscreen, gewiss. Aber dass er umgelenkt wird, entzieht sich seiner Kontrolle.
Der Computer ist eine Art selbstfahrender Einkaufswagen. Er weiß genau, wo man selbst hinwill, führt einen aber so, wie er das für richtig hält. Seit der Jahrtausendwende sind sämtliche Websites mit Banners und Pop-ups, diesen Wegweisern zum Pseudoglück, gesättigt. Auch die Social Media kamen auf den Geschmack. Facebook begann seine Fangemeinde ab 2006 mit Anzeigen zu bombardieren. Da diese unter dem Dach von Meinungsfreiheit und Community Building liefen, erwiesen sie sich als besonders wirksam. Die dreiste Anzeigenflut konnte Facebooks guten Ruf nicht ruinieren, ganz im Gegenteil: Die Werbung profitierte von ihm. Wer Facebook-Follower war, erhielt auch das Recht, die Facebook-Werbung zu konsumieren. Diese wurde statt nach dem üblichen Gießkannenprinzip individuell verbreitet. Damit ließen sich Streuverluste vermeiden. »Facebook hat sich«, so der Branchendienst Hubspot 2019, »als Pionier der gezielten Werbeanzeigen erwiesen.« Gründer Zuckerberg will darin sogar eine gemeinnützige Errungenschaft erkennen. »Unsere Priorität«, so betonte er, »liegt nicht auf der Menge der Anzeigen, sondern darauf, wie wir die richtige Zielgruppe mit den richtigen Inhalten ansprechen.« Es ist das Credo jedes Werbefachmanns.
Um die Zielgruppe zu erreichen, muss man auch nicht länger zwischen redaktionellen und kommerziellen Beiträgen unterscheiden. Dann bietet sich an, was seit den 2010er Jahren von vielen Internetmedien praktiziert wird: Ein Redakteur schreibt den gewünschten Text im Auftrag von Werbeagenturen. Bewusst lässt man im Dunkeln, ob er der eigenen Überzeugung folgt oder den Wünschen der Industrie. Auch die »privaten« Empfehlungen in Form der begehrten Sterne, Herzchen oder gehobenen Daumen lassen sich kaufen. Der Werbung ist diese Schützenhilfe willkommen, da sie am liebsten vertuscht, dass sie Werbung ist.
Das Internet bietet sich als ebenso unermüdliche wie selbstlose Lebenshilfe an. Es lässt keinen Wunsch offen und keine Frage unbeantwortet. Dabei bildet die Auskunft nur den Vorwand für die damit verbundene Datenerhebung und -analyse, auf denen die Werbung basiert. Deren Schaltung wird nicht, wie beim Fernsehen, vorab gebucht, sondern, aufgrund des bisherigen Surfverhaltens des Anklickenden, in einer Echtzeitauktion verkauft. Der gesamte Biet- und Kaufvorgang läuft über sogenannte Ad Exchanges (Anzeigenbörsen). Bei großen Plattformen wie Google werden solche Transaktionen täglich milliardenfach getätigt. Pro Einblendung läuft der Bestellvorgang in der unvorstellbaren Geschwindigkeit von 100 Millisekunden ab. Der Surfende wird kaum ahnen, dass im Sekundenbruchteil zwischen seiner Eingabe und der Antwort eine gewaltige Maschinerie gearbeitet hat, und zwar speziell für ihn. Nicht als den tatsächlichen Menschen, sondern den potenziellen Kunden.
Wer in den Cyberspace eintritt, wird überwältigt vom unendlichen Angebot kostenfreier Informationen. Dass er zugleich von Verkaufsgenies überlistet wird, fällt dabei nicht auf. Keine Information kommt ohne diese dreiste Invasion aus. Jede Website dient sich dem Besucher als Auskunftsmittel an. Zugleich zieht sie über den Benutzer die eigenen Auskünfte ein. Dies wiederum erfolgt mittels Tracking (Spurenlesen). Der Begriff wird im Militärischen für die Feindaufklärung verwendet. Jedem Nutzer ist ein Verfolger auf der Spur. Er beobachtet ihn aus dem All, schaut ihm beim Texten über die Schulter und notiert alles mit, was sein Opfer schreibt und seinem Smartphone anvertraut. Und selbst was er ihm nicht explizit anvertraut, lässt sich implizit mittels Algorithmen erschließen. Wer verfolgt wird, fühlt immer auch den Doppelsinn des Wortes: Jemand folgt einem, und jemand ist hinter einem her. Was man online mit dem harmlosen Begriff Tracking bezeichnet, heißt im wirklichen Leben Stalking. Dieser Alptraum im wirklichen Leben gehört im Cyberspace zur Routine. Zum Glück merkt man es nicht.
Über jeden Nutzer oder vielmehr seinen digitalen Doppelgänger wird automatisch ein Protokoll erstellt. Hauptindizien sind dabei seine Mausklicks. Er selbst ist die Maus, mit der Verhaltensforschung betrieben wird. Der Lauf des Cursors (Mauszeigers) oder des Eingabefingers über den Bildschirm wird ebenso verfolgt wie die hin und her bewegten Augen des Versuchsobjekts. Denn wo eine Webcam lauert, wird auch Eye Tracking betrieben. Aus den Bewegungen der Augäpfel lassen sich die unterbewussten Prioritäten des Nutzers ablesen. Dasselbe gilt auch für die anderen Bewegungen und Lebensäußerungen. Sie alle liegen unter der digitalen Lupe.
Das beim Tracking gesammelte Wissen wird umgehend angewandt. Was der User zufällig im Netz entdeckt, ist für ihn dort platziert worden, damit er es zufällig entdeckt. Auch jene, die es wissen, vergessen im Eifer ihres täglichen Goldschürfens, dass es sich meist um Katzengold handelt. Gerade weil man immer wieder fündig zu werden glaubt, geht der Eifer in Sucht über. Der Cyberspace ist ein Nervengift, das abhängig macht. Entsprechende Entziehungskuren sind noch nicht erfunden. Sie hätten auch wenig Sinn. Der Rückfall würde schon am ersten Tag eintreten, wenn nämlich der Online-Kranke sein Smartphone einschaltet, um den Begriff »Smartphone-Entziehungskur« zu googeln.
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