Название: Verloren im Cyberspace
Автор: Joachim Köhler
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783374067602
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Der YouTube-Algorithmus etwa zieht alles ins Kalkül, was der Nutzer je hoch- und heruntergeladen hat. Daraus ergibt sich ein Profil, das bei jedem neuen Aufrufen einer Seite aktiviert wird: Es werden nur solche Videos angeboten, die den Nutzer interessieren müssen. Teils genau zum Thema, teils scheinbar abseitig, aber eben doch für ihn geeignet. So wird er »im Spiel« gehalten. Er muss nicht einmal aktiv werden, kann seinen Fingern einmal Ruhe gönnen. Denn die Clips spielen von selbst ab, einer nach dem anderen. Damit es nicht langweilig wird, gibt es Werbeunterbrechungen, die der jeweiligen Stimmungs- und Interessenlage angepasst sind. Denn YouTube weiß, was der YouTuber will. Und besser als er selbst.
2. Kapitel
Im Reich der Milliardäre
»Die Menschen, die uns konditionieren,
sind keine schlechten Menschen.
Sie sind gewissermaßen
Menschen, die ihren eigenen Anteil
an der traditionellen Menschheit
geopfert haben, um entscheiden zu
können, was ›Menschheit‹ in
Zukunft bedeuten soll.«15
C. S. Lewis, 1943
»Mit Ausnahme von biologischen
Viren gibt es nichts, was sich
mit derartiger Geschwindigkeit,
Effizienz und Aggressivität
ausbreitet wie diese Technologieplattformen.
Und dies verleiht
auch ihren Machern, Eigentümern
und Nutzern neue Macht.«16
Eric Schmidt, 2013
»Zerreißen, zerbrechen, zerschlagen«
Was im Internet geschieht, wirkt ebenso unwiderstehlich wie unverzichtbar. Unter anderem, weil es immer den attraktiven Stempel der Neuheit trägt. Es glänzt wie eine frisch geprägte Münze. Alles, was online auftaucht, wirkt so neu, dass man vergisst, was man zuvor als »neu« bezeichnet hatte. Das Alte kommt einem vor, als wäre es nie neu gewesen. Oder überhaupt nie gewesen. Denn der Übergang vom einen zum anderen findet in höchster Eile statt. Die Aufmerksamkeit, die man dem frisch Eingetroffenen zollt, überlagert die Erinnerung an das Entschwundene. Wer sich dieser Dynamik verschließt, ist bald selbst Vergangenheit.
Der Strom von Real News und Fake News, von Inventionen und Innovationen fliegt rasend schnell an ihm vorbei. Wer nicht mit rast, wird überrollt. Dem User kommt schon bald die Fähigkeit abhanden, auf Neues nicht zu reagieren. Es scheint ein Wert an sich zu sein. Alles, was auf dem Schirm erscheint, birgt eine offene oder versteckte Aufforderung, Stellung zu beziehen. Am besten durch eine schnelle Antwort. Dieses zwanghafte Reagieren-Müssen lässt sich auch bei überaktiven Kindern beobachten.
Nichts ist es selbst, sondern alles nur Trigger für Anderes. Die Trigger Function (Auslöserfunktion) des Cyberspace drückt sich auch im Startup aus. Dieser Begriff für »hippe« Firmengründungen bedeutet nicht nur, dass etwas Neues gestartet wird, denn das geschieht ständig. Sondern auch, dass man schneller als andere auf eine Marktlücke oder eine Neuentwicklung reagiert. Erfolgreiche Startups lassen sich häufig von einem der Silicon Valley-Giganten mit einem Milliardenscheck aufkaufen. Irgendwie ist es auch stimmig, denn die ursprüngliche Heimat der Hightech-Startups war nun einmal das liebliche Tal. Seitdem gilt auf der ganzen Welt die Devise: »schafft zwei, drei, viele Silicon Valleys«. Die Reaktionsschnelligkeit gleicht in gewisser Weise dem Klickverhalten im Netz. Alle sind vom Fomo (Fear of Missing Out) verfolgt, der Angst, etwas zu verpassen. Wer zu spät kommt, den bestraft der Markt. Kommt die Novität an, verwandelt sich die Garage in eine Corporation. Und die Geschäftsidee verbreitet sich wie das Coronavirus.
Internet rast, Heimat steht still. Internet zwingt einen zu reagieren, Heimat heißt, Genügen daran finden, so zu sein, wie man ist. Jemand sagte, Kontrolle sei besser als Vertrauen. Das gilt unter Maschinen. Menschlich aber ist es, zu vertrauen. Doch ohne Bodenständigkeit gibt es kein Vertrauen. Wer dem Netz traut, wird es irgendwann kennen lernen. Aber anders, als ihm lieb ist. Vertrauen hat hier keine Bedeutung. Man täuscht sich und wird getäuscht, und irgendwie gleicht sich das am Ende aus. Eine Schäbigkeit ist eine andere wert. Unter Datensätzen kann keine Liebe entstehen. Menschliche Zuneigung setzt körperliche Gegenwart und lebendige Beziehung voraus. Die Begegnung der Augen ist für Liebe und Vertrauen unverzichtbar. Webcam-Augen schauen auch, aber ihr Blick ist tot.
Das Internet vereint unzählige kommunikationswillige Menschen. In seinem Raum-Zeit-Kontinuum verbindet es Völker, schafft internationale Solidarität. So will es die Eigenwerbung. In Wahrheit bleiben die Völker und ihre Befindlichkeiten den Betreibern herzlich gleichgültig. Das lässt sich an der fehlenden Bereitschaft des Silicon Valley ablesen, Steuern zu zahlen. Nationen sind auf finanzielle Beiträge angewiesen. Steuern sind Solidarität, die sich in Zahlen ausdrückt. Die Cyberwelt kennt Zahlen, aber keine Solidarität. Sie lässt jeden Nutzer verdeckte Internetsteuern zahlen. Die ganze Welt muss diesen Tribut an das Silicon Valley entrichten. Aber selbst weigert sich das Weltbetriebssystem, zum Unterhalt seiner Kunden beizutragen. Will man es dazu per Gesetz zwingen, tritt das Weiße Haus auf den Plan und droht mit Repressalien. Man nutzt die Weltbevölkerung als Kundschaft, aber sträubt sich, sie als physische Existenz ernst zu nehmen.
Das hängt auch damit zusammen, dass die körperliche Realität für das Internet völlig uninteressant ist. Die Cyberindustrie, diese Reichste der Reichen, kultiviert den ordinären Geiz. Der gewaltige Riese verkriecht sich in ein Steuerschlupfloch. Das Silicon Valley kassiert alle ab, spendiert aber selbst nichts. Man steht über dem Gesetz, ja allen Gesetzen, weil man über den Menschen steht. Und diese, vom Datenangebot überwältigt, stellen keine weiteren Fragen. Hauptsache, sie finden auf alle Fragen eine Antwort, gegen jede Langeweile eine Zerstreuung und alle bestellten Waren vor der Haustür.
Das Internet gilt heute, so ein US-Magazin, als »größte Innovation aller Zeiten«. Innovation ist in diesem Fall kein harmloses Motto, sondern der Schlachtruf, mit dem allem Althergebrachten und Gegenwärtigen der Kampf angesagt wird. Erscheint das Neue am Horizont, hat das Alte seine Daseinsberechtigung verloren. Das technische Spitzenprodukt von heute ist der Elektroschrott von morgen.
Dasselbe kann für den Menschen gelten, der sich auf dieses Spiel einlässt. Nachdem er den Kampf um die Zukunft verloren hat, verliert er auch sich selbst. Dann verschwindet er nicht, aber muss sich eine Rundumerneuerung gefallen lassen. Vor allem in Amerika grassiert die Vorstellung, jedermann sei dringend innovationsbedürftig. Mittels Computer- und Gentechnik müsse er seine biologische Beschränktheit, am besten auch seine Sterblichkeit überwinden. Man nennt diese Denkrichtung »Transhumanismus«. Der Mensch muss nicht nur anders, sondern СКАЧАТЬ