Название: Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe
Автор: Levin Schücking
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075838650
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Er mochte eine Stunde so gelegen haben, als er sich von einem warmen Atem angehaucht fühlte. Als er emporfuhr, sah er eine Gestalt einige Schritte weit von ihm sich bewegen, die jetzt näher trat: »Herr Bernhard,« sagte sie, »die Mutter schickt mich, nachzusehen, wo Ihr so lange bleibt.«
»Lene, Mädchen, bist du da?«
»Es ist spät, Herr,« versetzte Lene mit einiger Bewegung in ihrer Stimme: »Eu'r Essen wird kalt.«
»Standest du eben nicht dicht neben mir?«
»Wer, ich?« sagte sie und sprang ohne weitere Antwort den Bergpfad hinab.
Bernhard folgte ihr schweigend. Als sie einige hundert Schritt gegangen waren, sahen sie am Eingange eines kleinen Fichtengehölzes, durch das der Fußweg führte, einen Menschen auf einem gefällten Stamme sitzen.
»O Gott!« schrie Lene leise auf und blieb stehen.
»Was ist dir, Lene? Fürchtest du dich?«
»O nichts, Herr,« sagte sie und schritt zögernd hinter Bernhard her. Der Fremde blieb ruhig sitzen, als sie an ihm vorüber gingen, und murmelte ein tonloses »guten Abend«. Soviel Bernhard erkennen konnte, war es eine etwas zigeunerhafte Figur.
»Wo bleibt ihr beide so lange draußen?« sagte Frau Margret, die in dem Gärtchen vor ihrem Hause auf einem Feuerstübchen hockte und in den mondhellen Abend hinaus schaute. »Mußtest du dich auch draußen umhertreiben in dieser Nachtstunde, Lene?«
»Ich sollte ja gehen und nachsuchen, wo Herr Bernhard so lange bleibe,« sagte Lene und ging rasch, ohne eine Antwort abzuwarten, ins Haus.
»So? Davon weiß ich nichts!«
»Aber, Mutter, denkt Ihr denn gar nicht an die kühle Nachtluft. Wir sind weit im Herbst, und der Mondschein hat Euch nie gut getan,« sagte Bernhard und faßte die Mutter am Arm, um ihr das Aufstehen zu erleichtern.
»Ich wollte sehen, wo ihr bliebet,« versetzte Margret; »es wurde mir auch so wunderlich zumute allein im Hause.«
Er nahm das Feuerstübchen auf und sie schritt, von ihm unter dem Arm gefaßt, der Haustür zu.
»Habt ein Aug' auf Lene, Mutter,« sagte Bernhard leise: »es saß unterwegs ein Mensch unter den Fichten, der mir wie ein Scherenschleifer vorkam; sie schien ihn zu kennen.«
»So, ist das Gesindel wieder da? Nun, ich will sie schon hüten.«
Lene war die Tochter eines Scherenschleifers, das heißt, sie gehörte einem Volksstamme an, der sich damals vagabundierend viel in Westfalen umhertrieb und denselben Erwerb hatte wie die Zigeuner, mit welchem Volke er verwandt schien, obwohl ein weniger schmutziges, auch minder fremdartiges und orientalisches Aeußere ihn vorteilhaft von denselben unterschied. Man nannte sie Scherenschleifer, weil die Männer, wenn sie wegen eines Diebstahls oder wegen unverschämter Bettelei zur Untersuchung gezogen wurden, behaupteten, in irgendeinem Winkel der Welt einen Scherenschleiferkarren stehen zu haben, mit dem sie ihren Unterhalt suchten und auch einige wenige in der Tat ein solches Gerät mit sich führten. Sie waren, wie gesagt, reinlicher und anständiger als die Zigeuner, ihre Gesichtsfarbe, wenn auch dunkler wie die der Landeseinwohner, doch weniger kupferbraun als die jener; ihre Tracht unterschied sich von der der Bauern durch größere Nettigkeit; die Männer waren kenntlich an Jacken mit zwei Reihen dicht aneinander gesetzter kugelrunder Silber- oder häufiger Zinnknöpfe. Sie lebten unter einem, ich weiß nicht, ob gewählten oder durch Erbfolge eingesetzten Oberhaupt, das die Bauern den Heidenküster nannten und der regelmäßig der pfiffigste und verschlagenste Bursche war, der je Handschellen getragen hat, verwegen und tollkühn, daß alle Bauern seinen Requisitionen an Lebensmitteln und Geld sich schweigend unterzogen, und die damals durch Armenvögte ausgeübte Polizei sich wohl hütete, ihm in den Weg zu kommen. Er war zugleich der Oberpriester des Stammes und gab zum Beispiel den nach Belieben wieder auflösbaren Ehen seine Sanktion, indem er das Brautpaar über seinen ausgestreckten Stab springen ließ. Jetzt ist dieser Stamm fast ausgestorben und niemand hat der Mühe wert gehalten, über ihre religiösen Ansichten und über ihre Sprache sichere Notizen zu sammeln. Ich erinnere mich nur noch, daß ihr letztes Oberhaupt den romantischen Namen Baromantho führte.
Lene war die Tochter eines solchen Scherenschleifers, der vor ihrer Geburt auf eine gewaltsame Art ums Leben gekommen war. Ihre Mutter hatte oft Wohltaten von Frau Fahrstein empfangen und, als sie auf dem Boden eines Schafstalls auf offener Heide im Sterben lag, einem Paar vorübergehender Bauersleute aufgetragen, ihr achtjähriges verlassenes Kind der Frau Fahrstein zu bringen; die werde sich ja wohl seiner erbarmen. Frau Fahrstein mußte sich nun freilich der Waise erbarmen, auch wenn sie keine Lust dazu gehabt hätte. Aber das Mädchen war hübsch, anstellig und versprach eine geschickte und tätige Gehilfin zu werden. So zog Margret sie denn groß, hatte nun und dann auch wohl einen kleinen Aerger an ihr, wenn Lene zum Beispiel laut aufjauchzend jeder Vagabundenschar entgegenlief, die sie von fern über Land ziehen sah, oder wenn sie über irgendeinen Anlaß so in Zorn geriet, daß die kleine Heidenrange blau und rot im Gesicht ward, war aber im ganzen mit ihrer Adoption sehr zufrieden. Margret führte eine strenge und scharfe Zucht; doch als sie heranwuchs, bedurfte Lene dieser nicht mehr; sie ward stille und in sich gekehrt, machte mit einer großen Leichtigkeit und Raschheit ihre Geschäfte ab, wie sie auch in der Schule allen andern Kindern zuvorgekommen war, und gab Margret nie den geringsten Anlaß zur Klage mehr. Sie mochte jetzt zwanzig Jahre alt sein und war nicht sehr groß geworden, aber so hübsch, daß alle Dorfschönheiten mit großer Befriedigung sahen, wie sie sich nie in ihre Kreise mischte und von allen Tänzereien, Hochzeiten und andern Zusammenkünften fern blieb. Die jungen Burschen machten still ein Spalier, wenn sie aus der Kirche kam, um geradeswegs wieder nach Hause zu gehen. Keiner hatte recht den Mut, sie anzureden; sie konnte so verzweifelt stolz mit ihren kohlschwarzen, schmalgeschlitzten Augen drein funkeln; erst wenn sie die Klinke des Kirchhofpförtchens schon in der Hand hatte, ließen sie ihren witzig sein sollenden Bemerkungen über jene freien Lauf. Woher sie den großen, zigeunerhaften Mann kennen könne, der am Eingänge des Fichtenwäldchens saß, begriff Bernhard nicht; freilich, er konnte sich auch geirrt haben und ihr leiser Schrei nur der einer unwillkürlichen Furcht gewesen sein. Aber einige Tage nachher, als er noch sehr spät in seinem Zimmer über seinen Büchern saß, sah er plötzlich einen langen Schatten an der Wand ihm gegenüber auftauchen und rasch entlang gleiten. Er fuhr auf, öffnete das Fenster und steckte den Kopf ins Freie; an der andern Seite des Hauses klirrte ebenfalls ein Fenster, nur Lenes Kammer lag dort hinaus. Bernhard sprang nun über die niedere Brüstung in den Baumhof und schritt um die Hausecke; aber alles war still hier, und das Geräusch, das er vernommen, schienen die Aeste der Apfelbäume gemacht zu haben, die dicht am Hause standen und sich im Nachtwinde bewegten; sie waren wahrscheinlich mit den Spitzen der Zweige an die Scheiben gefahren.
Zwölftes Kapitel
Wunderbare Stimmungen, welche früher noch nie berührte Saiten in uns anschlagen und uns selbst zum erstenmal deren Dasein ankündigen; Träume, Launen, Einfälle und Eindrücke paradoxer Art – wer hat, wer kennt sie nicht, in wem bilden sie nicht die leichten Truppen, die um den Kern seiner Gedanken schwärmen, die Schmetterlinge, die Maikäfer oder »Grillen«, welche um die eigentlichen fruchtbringenden Blüten seiner Seele flattern? Auch Bernhard hatte sie; aber mit dem Unterschiede СКАЧАТЬ