Название: Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe
Автор: Levin Schücking
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075838650
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»Also wir standen bei dem Kapitel von den Halswirbeln,« begann der Professor. »Es gibt derselben sieben, und ihr Charakteristikon liegt in dem Loche ihrer Querfortsätze – foramen transversium. Durchbohrte Querfortsätze zeigen sich bei andern Wirbeln nicht. Ihre Gestalt« – der Zeigefinger des Professors fuhr deutend auf die Tafelabbildung, wo sich die Gestalt präsentierte – »ihre Gestalt ist niedrig aber breit, der horizontale Dornfortsatz ist an seiner Spitze in zwei Zacken gespalten. An den gelöcherten Querfortsätzen findet sich ein vorderer und hinterer Höcker – tuberculum...«
Draußen klingelte die Tür, und dann erhob sich eine helle weibliche Stimme mit dem stürmischen Begehren: »Gitt meer enß ä Pund Labberdohn un en Appeltaat.«
»Waat, ehr Lück, ich kumme glich eruus!« schrie der aus seiner Gelehrsamkeit aufgeschreckte Dozent, und nachdem er seinem Zuhörer weiter diktiert hatte: tuberculum genannt; der Dornfortsatz heißt processus spinosus; die Querfortsätze processus transversi – womit das nächste Alinea erreicht war, sprang er auf und eilte in den Laden, wo er eine kleine schwarzäugige Magd vorfand, ihres Laberdans harrend.
»Wat brucht ehr Lück dann dis'en Ovend Fesch zo esse?« sagte der Professor verdrießlich zu der kleinen Magd, während er nach der Wagschale und dem Pfundgewicht griff. »Künnt ehr nit Kaffee drinken – ich hän ä Veedelpund avgewog he lige!«
»Ich bruche keine Kaffee, ich bruche Labberdohn,« antwortete schnippisch die Magd.
Der Professor befriedigte ihren Wunsch; währenddessen traten wieder neue Kunden ein, zwei zumal, und die Vorlesung schien von einer langen Unterbrechung bedroht. Da klingelte es aufs neue, und bald darauf ließ sich ein leiser Tritt auf der Treppenschwelle vor dem Auditorium vernehmen; Bender aber sah durch die halb offengebliebene Tür ein Paar sehr muntere hellblitzende Mädchenaugen blicken.
»Ah, Jungfer Traud,« rief der Student, offenbar erfreut über diesen Wechsel der Dekoration, der ihm, nachdem er so lange ein ödes knöchernes Halswirbelsystem angeschaut, den Anblick eines so hübschen lieblichen Okularsystems gewährte, »Jungfer Traud – kommen Sie nur herein, es ist niemand da außer mir!«
»Warten Sie, Herr Bender,« antwortete eine wohltönende, etwas tiefe, aber sehr angenehme Stimme, »ich will erst hier dem armen Professor helfen, mit den Kunden fertig zu werden.
Damit verschwand Jungfer Traud aus der Türöffnung und schlüpfte in den Laden, aus dem sie den Professor zu seiner unsäglichen Genugtuung in seinen Hörsaal zurücksandte, um die Theorie von den Wirbeln wieder aufzunehmen und jetzt zum Atlas und zum Epistropheus überzugehen, wahrend Jungfer Traud die Kunden befriedigte. Als sie damit fertig war, kam sie leise und geräuschlos in das Zimmer, setzte sich auf einen neben dem Ofen im Hintergrunde stehenden Stuhl – sie wandte den Rücken dem unfern hinter ihr ausgestellten Gerippe zu – und holte dann ein Strickzeug hervor, an dem sie emsig arbeitete.
Die Stunde der Vorlesung verging nun ohne weitere Störungen. Wenn draußen die Haustür klingelte, sprang Jungfer Traud auf und befriedigte das Verlangen der Kinder, Mägde, Handwerkerfrauen und Madamen, welche vor und nach eintraten. Der Professor analysierte ruhig seinen Epistropheus mit dem daransitzenden processus odontoideus – und der Student hörte zu, wenn auch nicht mit ungeteilter Aufmerksamkeit. Denn sehr oft glitten seine Blicke über seine Schreibmappe und die Tafeln fort auf das junge Mädchen hinüber, wenn sie aus dem Laden zurückkam und für eine Weile wieder in dem Halbdunkeln Hintergrunde saß, wo ihre Züge in einem eigentümlichen rosigen Lichte strahlten, so oft sie sich niederbeugte, um eine gefallene Masche beim Schein der Flamme, der aus dem Ofentürchen hervordrang, wieder aufzunehmen. Jungfer Traud war freilich auch wohl danach geschaffen, die Blicke eines Studenten zu fesseln. Sie war ein schönes schlankes Kind von höchstens 20 bis 22 Jahren mit prächtigen großen Augen, einem ovalen Gesicht, dessen Farbe mehr frisch und gesund als gerade rosig blühend zu nennen war, einem seinen, etwas gebogenen Näschen und einem kleinen Munde mit keck aufgeworfenen Lippen. Ihr dichtes schwarzes Haar trug sie zu einem Nest aufgebunden über dem Scheitel, der schlanke Oberkörper war mit einem eng ihn umspannenden und hoch bis zum Halse hinauf schließenden Jäckchen mit Schößen bekleidet, aus schwarzem Stoffe mit oben engen, an den Ellenbogen weit offenen Ärmeln. Ein weiter Rock von grüner Serge vollendete das Kostüm eines Kölner Bürgerkindes aus den neunziger Jahren – von der schauderhaft geschmacklosen Modetracht von damals war der ehrsame Bürgerstand von Köln noch nicht entstellt.
Traudchen Gymnich hatte eigentlich einige Ähnlichkeit mit dem einzigen Zuhörer des Professors Bracht. Auch er hatte solch eine offene kluge Stirn, solch helle Augen, auch er hatte einen Mund mit aufgeworfenen Lippen; dieses war aber bei ihm so stark der Fall, und harmonierte so mit dem ganzen kecken Ausdruck seiner Züge, daß in seinem von den dichten schwarzen Locken umschatteten Gesicht etwas Leidenschaftliches, fast Wildes lag, was aus den Zügen Traudchen's durchaus nicht hervortrat. Daß er stark und kräftig gebaut, haben wir schon gesagt. Man wurde dadurch verleitet, ihn für älter zu halten, als er in der Tat war. Auch er mochte höchstens 22 bis 23 Jahre haben.
Der Professor spann seine Vorlesung ab und schloß, als es auf der nahen Kirche von Groß-Sankt-Martin halb acht Uhr schlug. Während er ging, seine Tafeln an ihren alten Platz zu bringen, trat der Student sofort zum Ofen, als ob er schon lange danach verlangt, seine Füße an dem Untersatz zu wärmen.
»Traudchen, sind Sie denn gar nicht ängstlich?« fragte Bender, indem er »seine Blicke über sie fort auf den Gliedermann hinter ihr warf.
Traudchen blickte nachlässig nach rückwärts.
»Vor dem?« fragte sie gleichgültig.
»Und den Schädeln, die danebenstehen? Wissen Sie nicht, daß der eine, der große dicke Schädel dort, von einem blutdürstigen Räuberhauptmann herstammt?«
»Ein Räuberhauptmann?« fragte Traudchen – jetzt etwas scheu sich umblickend. »Ich habe das alles so oft hier gesehen, daß ich gar nicht daran denke.«
»Sie haben recht, Traudchen, daß Sie sich nicht fürchten. Es ist sehr töricht, sich vor Toten zu fürchten, die Lebenden sind viel schlimmer. Vor Gespenstern habe ich auch nie Angst gehabt, aber wissen Sie, wann ich mich fürchten würde?«
»Nun?«
»Wenn ich selber ein Geist wäre, und es begegnete mir ein lebender Mensch. Denken Sie sich einmal, Traudchen, Sie wären ein stiller, aus Duft und Luft gewobener, irgendeine verlassene Bergschlucht oder eine Klostermine bewohnender Geist, der da ruhig und von der Welt unbelästigt seit vielen Jahren sein angenehmes bedürfnisloses Dasein weiterspukt: und nun begegnete Ihnen ganz unerwartet und plötzlich ein lebender Mensch, den Sie mit Ihren Geisteraugen natürlich durch und durch schauten! Sie sähen dieses schnaubende Ungetüm auf sich loskommen, umgeben von einer Wolke von Dunst, die aus seinem Körper aufsteigt; sähen, wie die Lungen keuchend auf und ab arbeiten, das Herz zischend und gurgelnd die Blutwellen ausstößt und wieder aufnimmt und dann aufs neue fortstößt, wie dabei eine Klappe sich schließt und die andere Klappe aufklafft, und wie der Magen gärt und reibt und arbeitet, und wie die Nerven sich schwingen und zittern und die Sehnen sich spannen und wieder abspannen, daß die Glieder ruckweise bald so, bald so sich rühren und spreizen; und so denken Sie sich nun die Maschine auf sich zuschreiten, die Augen rollend, das Gehirn vibrierend und arbeitend, alle Muskelfasern in voller Bewegung, dabei die zischenden und gurgelnden Töne, die durch die Stimmritze fahren – sagen Sie, Traudchen, könnte ein armes Gespenst nicht verrückt werden vor Entsetzen und Abscheu bei einem solchen Anblick?«
»Hören СКАЧАТЬ