Название: Die Todesstrafe I
Автор: Jacques Derrida
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Passagen forum
isbn: 9783709250389
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Josef aus Arimathäa war ein Jünger Jesu, aber aus Furcht vor den Juden nur im Verborgenen. Er bat Pilatus, den Leichnam Jesu abnehmen zu dürfen, und Pilatus erlaubte es [Pilatus, der Repräsentant des römischen Staates, wird in diesem ganzen Prozess also die Rolle der Macht innegehabt haben, die es sich, trotz eines gewissen Widerwillens, der religiösen Forderung der Gemeinde und des Sanhedrin nachzukommen, zur Aufgabe macht, den Tod, die Vollstreckung der Strafe und die Behandlung des Leichnams, zu organisieren; der Text fährt fort]. Also kam er und nahm den Leichnam ab. Es kam auch Nikodemus, der früher einmal Jesus bei Nacht aufgesucht hatte. Er brachte eine Mischung aus Myrrhe und Aloe, etwa hundert Pfund. Sie nahmen den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben (elathon oun to sōma tou jesou kai edesan auto othoniois [othonion, das ist ein Wäschestück, zerzupfte Leinwand oder ein Schleier] meta tōn aromatōn; auf Lateinisch: Acceperunt ergo corpus Jesu, et ligaverunt illud linteis cum aromatibus [linteum, das ist ebenfalls Leinwand, ein Schleier, ein Stoff, ein Gewebe]) […].10
Othonion oder linteum also, was man meistens mit bandelettes („Leinenbinden“) übersetzt, weil man bei den Juden den Leichnam in der Tat damit umbindet, indem man ihn einwickelt, indem man ihn mit Binden umwickelt, die dem ähneln, was man bei Verletzten Druckverband [bandes velpeau] oder bei Säuglingen Windeln [langes] nennt. Indem er das Wort „bandelettes/Leinenbinden“ wählt, um Weidmanns Gesicht zu beschreiben, das ich also in den Zeitungen selber mit Leinenbinden umwickelt gesehen habe, scheint mir Jean (Genet diesmal) einen christologischen Wink zu geben in Richtung Jean/Johannes des Evangelisten (oder in Richtung Lukas, der sich für dieselbe Szene derselben Wörter bedient11), und das scheint in vielerlei Hinsicht bezeichnend zu sein. Nicht nur, weil sich das ganze Buch Notre-Dame-des-Fleurs (ja sogar die ganze Literatur von Genet) in allgemeiner, massiver, konstitutiver Weise von den Evangelien, vom Geist der Frohen Botschaft durchtränken lässt, und mit christlichen Notierungen und Konnotationen spielt, mögen sie auch pervers oder ikonoklastisch sein – das Werk ist eine Performance eines christlichen antichristlichen Ikonoklasmus, eines Eidbruchs und eines Abschwörens, das von eben dem fasziniert ist, was es zu Literatur wendet [tourne en littérature], wie man sagen würde, etwas ins Lächerliche zu ziehen [tourner en dérision] –, sondern genauer, lokaler gesehen, auch deshalb, weil das Buch Notre-Dame-des-Fleurs die Passion der zum Tode Verurteilten besingt (Sie wissen, dass es ein langes Gedicht von Genet gibt, das das den Titel Der zum Tode Verurteilte trägt und ebenfalls 1945 veröffentlicht wurde, und das in den Œuvres complètes auf Notre-Dame-des-Fleurs folgt, und das Genets Freund Maurice Pilorge gewidmet ist, der, wie Genet sagt, „dazu verurteilt wurde, den Kopf abgeschnitten zu bekommen. Er wurde am 17. März 1939 in Saint-Brieuc hingerichtet“; dieses Gedicht, Der zum Tode Verurteilte, nennt, in seinem poetisch-argothaften Wortgebrauch, auf zärtliche und verliebte Weise, in seiner vorletzten Strophe „mein[en] Jesus“:
Nicht heute Morgen werde ich geköpft.
Ich kann ruhig schlafen. Im Stockwerk über mir
Erwacht mein fauler Liebling, meine Perle,
Mein Jesus. Er wird mit seinem harten Stiefel
Meinen kahlen Schädel treten12).
Hinzu kommt auch, dass Notre-Dame-des-Fleurs (das ebenfalls Maurice Pilorge gewidmet ist: „Ohne Maurice Pilorge, dessen Tod nicht aufhört, mein Leben zu vergiften, hätte ich dieses Buch niemals geschrieben. Ich widme es seinem Andenken.“13), [dass also Notre-Dame-des-Fleurs] ernsthaft eine Art Gesang von Trauer und Wiederauferstehung spielt, mimt, simuliert, der die Erhöhung, die Himmelfahrt [ascension] der Opfer des Schafotts poetisch beschreibt, aber auch provoziert, produziert, performiert und glorifiziert (nicht den Fahrstuhl [Ascenseur] zum Schafott14, jenen berühmten Film, mit der Musik von Miles Davis – ich zitiere ihn, bevor wir beginnen, weil die amerikanischen Schwarzen heute bevorzugt Opfer dessen sind, was die Todesstrafe in der sogenannten westlichen, demokratischen Welt bleibt; nicht den Fahrstuhl zum Schafott also, sondern die an Christus gemahnende Himmelfahrt, die Erhöhung, nach dem Schafott, und eine poetisch-literarische Quasi-Wiederauferstehung, Quasi-Rettung [salut], Quasi-Erlösung nach dem Schafott).
Um uns besser davon zu überzeugen, müssen wir auch hier der Metonymie und dem Zitat der Leinenbinden nachgehen. Deshalb insistiere ich so darauf. Die Leinenbinden umwickeln, befestigen, sie verbinden, aber sie lösen sich auch: sie lösen sich vom Leib. Wenn wir nun aber, in den Evangelien, das Theater der Leinenbinden aufmerksam betrachten, so sehen wir, wie sie, in dem Moment, da sie für sich allein gesehen werden, entbunden, losgelöst, fern vom Körper, auf dem Boden liegend, außer Gebrauch, [wie sie also] mindestens zwei Mal das Ende des Todes bedeuten, wenn ich so sagen kann, die Wiederauferstehung des Leibes, der sich vom Tod erhoben hat und aufrecht, erhoben, wieder auf- und nach oben gerichtet im Leben stand. Die Leinenbinden bedeuten den Tod, die Verurteilung zum Tode, wenn sie jedoch wieder fallen, außer Gebrauch gekommen, abgemacht, entbunden, losgelöst, signalisieren sie, bedeuten sie [signifient], wie ein losgelöster Signifikant, dass der Tote wiederauferstanden ist [ressucité], sich erhoben hat [insurrectionné], sich erhebend wiederauferstanden ist [insurressucité15], wenn ich so sagen kann, von neuem erhoben, wiedererhoben und aufgerichtet durch ein Wunder, ein göttliches Wunder oder ein poetisches Wunder. Das Wunder der Rose (1946, unmittelbar nach Notre-Dame-des-Fleurs), Das Wunder der Rose, aus dem wir gleich ebenfalls die erste Seite lesen werden, ist im Übrigen auch ein Gesang an, ich zitiere, den „Tod auf dem Schafott, der unser Ruhm [gloire] ist“.16
Zwei Beispiele also, in den Evangelien, der Szene mit den Leinenbinden. Zunächst die Passion (Verurteilung zum Tode, Kreuzigung und Grablegung). Es handelt sich um jene Passage, die ich vorhin vorgelesen hatte (Joh 19,40): „Sie nahmen den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben, wie es beim jüdischen Begräbnis Sitte ist.“17 (Jesus wird wie/als [comme] ein Jude begraben, genau deshalb habe ich ihn neulich, so viel sei zur Erinnerung gesagt, bei meiner Klassifikation der paradigmatischen Figuren unseres Theaters der Todesstrafe, als eine Art Juden definiert18). Hier aber nun die zweite Zeit/Phase [temps] und das zweite Beispiel, die zweite Erscheinung der Leinenbinden. Die Leinenbinden erscheinen in der Tat, sie treten plötzlich in Erscheinung [apparition], sie tauchen im Licht auf: Es handelt sich um eine Erscheinung [phénomène], die zu bedeuten [signifier] scheint, die ein Zeichen gibt [fait signe], wie in einer Vision. Die Zeit dieser Erscheinung der Leinenbinden, ihr Augenblick in der Erzählung und im Prozess ist sehr bemerkenswert (und wenn wir die Muße dazu hätten, wenn das das Thema des Seminars wäre, würden wir hier tiefer nachsinnen über diese Zeit der Leinenbinden als Herberge, vorbereitet für die Literatur, für einen Aufstieg ohne Himmelfahrt, eine Erhebung ohne Erhöhung19, eine unmittelbar bevorstehende Wiederauferstehung, die aber noch nicht vollbracht ist, usw.). Und zwar deshalb, weil diese Leinenbinden, wie Sie hören werden, dieses zweite Erscheinen der Leinenbinden, der losgelösten, zurückgelassenen Leinenbinden am Grab Christi, bedeuten wird, dass Christus nicht tot ist, dass er nicht mehr tot ist: Er wird tot gewesen sein, gewiss, er starb, aber er ist noch nicht wiederauferstanden, noch nicht erhöht: Er ist immer noch da, unten auf Erden, um die anderen anzublicken, zuallererst Maria: Er betrachtet sie, wie sie seine Abwesenheit betrachtet, er СКАЧАТЬ