Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
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Название: Die Todesstrafe I

Автор: Jacques Derrida

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия: Passagen forum

isbn: 9783709250389

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СКАЧАТЬ der großen Gestalt des Theaters, der – soweit gehend, sie zu vermengen oder uns ihre tiefgründige Ähnlichkeit in Erinnerung zu rufen – sowohl von der Waffe des Verbrechens als auch von der Waffe der kapitalen Exekution fasziniert war, die für ihn ein weiteres Verbrechen, eine andere Art von Verbrechen wäre. Durch ihn werden wir uns hier tatsächlich unserem Anfang nähern, werden wir anfangen, anzufangen. Oder so zu tun, als ob wir anfingen.

      Aus mehreren Gründen. Gründen sehr verschiedener Art. Der erste zählt weniger, denn er ist nur persönlicher, autobiographischer Art, wie man so sagt. Beim ersten Mal, als ich, als Kind, vor dem letzten Weltkrieg, durch die algerische Presse davon erfuhr, dass es so etwas wie die Verurteilung zum Tode gibt, dass man den Verurteilten warten lässt, und dass man ihn auf den souveränen Gnadenerweis des Präsidenten warten und hoffen lässt, und dass man eines Morgens, in der Morgendämmerung, zu seiner Enthauptung schreitet, nun, da hieß der zum Tode Verurteilte Weidmann. Ich habe sein Bild noch vor Augen, das Bild seines Photos im Écho d’Alger. Nun ist Weidmann aber das erste Wort, das erste Wort und der erste Eigenname in Notre-Dame-des-Fleurs von Jean Genet, einem Buch, das unmittelbar nach dem letzten Weltkrieg veröffentlicht wurde – am Ende des Welt-kriegs [guerre mondiale], nach welchem eine breite, tendenziell weltweite Bewegung – deshalb hebe ich dieses Wort „mondial [Welt-/weltweit]“ stets hervor –, sowie zahlreiche weltweite Erklärungen mit universellem Anspruch gegen die Todesstrafe aufkamen, wir werden es noch sehen, Appelle, Erklärungen oder Beschlüsse, die die Verurteilung zum Tode verurteilen und die schließlich hier, zum Beispiel in Europa, Gehör fanden, nicht aber dort, in anderen Teilen der Welt, insbesondere in den USA. Ein Ausschnitt aus Notre-Dame-des-Fleurs war also unmittelbar nach dem Weltkrieg, 19442, veröffentlicht worden, das Ganze dann 1948, also an die vierzig Jahre vor der Abschaffung der Todesstrafe [peine de mort] in Frankreich: Notre-Dame-des-Fleurs, ein Buch, dessen imaginärer Held, Notre-Dame, zur Todesstrafe [peine capitale] verurteilt wurde; ich sage imaginärer Held, denn der erste Name und das erste Wort des Buches, eben Weidmann, dessen Namen und dessen Gesicht ich in den Zeitungen meiner Kindheit erscheinen sah, Weidmann benennt seinerseits eine reale Gestalt, wie man so sagt, die guillotiniert wurde und deren Name ganz Frankreich, bis nach Algerien hinein, das damals zu Frankreich gehörte, in den Ohren hallte.

      Ich werde diese Passage von Genet gleich vorlesen. Sie werden in ihr andere Motive bemerken, die andere Gründe darstellen werden, ebenso viele Gründe, sie zu zitieren. Der eine betrifft die Theatralität und die Faszination für das Spektakel, für das unmittelbare oder das durch die Presse (die Printmedien oder heute die kinematographischen Medien) aufgeschobene [différé] Spektakel; der andere betrifft die Allegorie oder Metonymie Christi, die in unserer abrahamitischen Kultur aus dem zum Tode Verurteilten eine Art Wiederholung oder Parodie oder Komödie der Passion Christi macht, eine Imitatio Jesu Christi.

      Bevor ich dieses incipit des Buches vorlese, lege ich einen anderen Grund dafür vor, so anzufangen, mit Literatur kurz gesagt. Warum, in Bezug auf die Todesstrafe, mit Literatur anfangen? Nicht nur, um erneut auf große Adern wie „die Literatur und der Tod“, „die Literatur und das Recht auf den Tod“3 zu stoßen, oder auf die Spur unzählbarer literarischer oder poetischer Werke, die Verbrechen und Strafe4 in Szene setzen, sowie jene Bestrafung, die man die Todesstrafe [peine de mort] nennt. All das gibt es natürlich, und wir werden daran denken, ich hätte jedoch eine zugespitztere Hypothese zu dem, was die Geschichte der Literatur und die Geschichte der Todesstrafe verbinden, assoziieren oder dissoziieren kann. Diese Hypothese wird langsam und auf diskontinuierliche, vorsichtige und sorgsame Weise der Prüfung unterzogen werden, zweifellos, in ihren gröbsten Zügen liefe sie jedoch auf Folgendes hinaus: Wenn die Geschichte der allgemeinen Möglichkeit, des weitesten Feldes der allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit epischer, poetischer oder belletristischer Produktionen im Allgemeinen (nicht der Literatur im strengen und modernen Sinne) die Legitimität oder die Legalität der Todesstrafe voraussetzt oder mit ihr Hand in Hand geht, nun, dann ist im Gegensatz dazu die kurze, strikte, moderne Geschichte der Institution namens Literatur im Europa der letzten drei oder vier Jahrhunderte zeitgenössisch mit und nicht zu trennen von einer Bestreitung der Todesstrafe, von einem Kampf um ihre Abschaffung, der zwar nicht überall gleich, der heterogen und diskontinuierlich ist, gewiss, aber auch irreversibel und tendenziell weltumspannend als einmal mehr verbundene Geschichte der Literatur und des Rechts, sowie des Rechts auf Literatur. Eine Entsakralisierung, die sich auf komplexe und widersprüchliche Weise, wie in der Geschichte der Vergebung, von der Szene und der Autorität des Exodus und der göttlichen Strafe freimacht. Ich überlasse diese Hypothese hier ihrer gröbsten und gewagtesten Formulierung, wir werden Gelegenheit haben, über sie zu diskutieren und auf sie zurückzukommen. Um diese Hypothese zu stützen, werde ich als Argument nicht die Tatsache anführen, dass zahlreiche der eloquentesten und überzeugtesten Reden/Diskurse [discours] zugunsten einer Abschaffung der Todesstrafe im Rahmen dessen, was ich die literarische Moderne nenne, das heißt in der Literatur im strikten Sinne, von Schriftstellern und Dichtern wie zum Beispiel Shelley, Hugo oder Camus geführt wurden. Das sind nur Indizien, die ich nicht als Argument anführen werde (umso mehr, als es auch Gegenbeispiele gibt, wie Wordsworth, der zugunsten der Todesstrafe schrieb). Aber diese Indizien haben es verdient, zunächst als Indizien angezeigt zu werden; anschließend werden wir versuchen, uns diesen Texten zu nähern.

      Hier nun die erste Seite von Notres-Dames-des-Fleurs, sie beginnt mit einem Eigennamen (das ist nicht das einzige Beispiel bei Genet: Die Wände begannen ohne Satz mit dem Ausruf eines Namens, der ein Eigenname und ein Gattungsname zugleich ist: „Rose! Warda“5). Hier ist es Weidmann. Das ist der erste Name einer Liste von berühmten zum Tode Verurteilten, die vom Erzähler besungen, gedenkend erinnert, man muss sogar sagen glorifiziert werden, glorifiziert, denn es geht dabei um eine „Glorie“ (Sie werden das Wort „Glorie“ erklingen hören, das heißt das Wort für ein leuchtendes Strahlen, einen Glanz [lustre], eine Aura, eine Aureole, einen Lichtschein über ihrem Haupt wie bei Christus, aufgrund ihrer Exekution, bisweilen ihrer Enthauptung6). Weidmann, das erste Wort, der erste Name des Buches, das ist auch der Moment einer Erscheinung, einer Vision. Genet oder der Erzähler hat eine Vision dieser zum Tode Verurteilten, und diese Vision ist die Vision eines spektakulären Spektakels, einer ebenso theatralischen wie gespenstischen [spectrale] Erscheinung – und Genet hat in seinem Theater bekanntlich viel mit Gespenstern gespielt („Weidmann vous apparut [Weidmann erschien euch]“, das sind die drei ersten Worte des Buches) –, und wenn ich diese Liste der Toten auf dem Feld der Ehre der Todesstrafe, dieser Märtyrer und dieser Heiligen vorlese, hebe ich gewisse an Christus gemahnende Züge hervor, die auf perverse Weise an Christus gemahnen, aber mit einer Perversität, die vielleicht eine alles durchdringende christliche Wahrheit [pervérité] sowohl offenbart, als auch verrät. „Ich bin die Wahrheit [vérité], Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“7 Hier zunächst der erste Satz:

      Weidmann, den Kopf umwickelt mit weißen Leinenbinden, Nonne oder verletzter, in Roggenfelder gefallener Flieger, erschien Euch in einer Fünf-Uhr-Ausgabe [also eine Erscheinung in den Medien, ein Sehen [vision], das bereits Fern-Sehen [télé-vision] ist, auf einem Zeitungsphoto, bei dieser Erscheinung, die auch das Erscheinen einer Zeitung im Moment eines Erscheinens vor Gericht ist, bilden das Theatralische und das Mediale eine Einheit: keine Todesstrafe ohne Phänomenalität eines Erscheinens] an einem Septembertag ähnlich dem, an dem der Name von Notre-Dame-des-Fleurs bekannt wurde.8

      Ich halte einen Augenblick bei diesem ersten Satz inne. Ich muss sagen, dass ich mich selber an diese Photographie erinnere. Das ist hier aber nicht wichtig. Was zählt, ist nicht nur das Wort „Nonne [réligieuse]“, das die verehrungswürdige Sakralität dieser Erscheinung, dieser Vision ohne Umweg erklärt, die Sakralisierung, die sich dieses zum Tode verurteilten Mörders in seinem öffentlichen, theatralischen und faszinierenden Bild unmittelbar bemächtigt. Man befindet sich unmittelbar [immédiatement] im sakralen Element eines Erscheinens, das vor Religiosität, religiöser Feierlichkeit erstarrt ist. Genauer gesagt geht es jedoch um die Analogie mit Christus, so als ob Notre-Dame-des-Fleurs, СКАЧАТЬ