Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
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Название: Die Todesstrafe I

Автор: Jacques Derrida

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия: Passagen forum

isbn: 9783709250389

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СКАЧАТЬ einzelnes Phänomen namens „Todesstrafe“ anzuwenden. Nein. Es gilt vielleicht genau das Gegenteil davon zu tun. Man muss vielleicht genau andersherum vorgehen, das heißt versuchen, das Theologisch-Politische in seiner Möglichkeit von der Todesstrafe her zu denken. Dann würde man fragen: „Was ist das Theologisch-Politische?“ Und die Antwort würde sich wie folgt ankündigen: Das Theologisch-Politische ist ein System, ein Dispositiv der Souveränität, dem die Todesstrafe notwendig eingeschrieben ist. Theologisch-Politisches gibt es überall da, wo es Todesstrafe gibt.

      Diese unendliche Analyse, diese Dekonstruktion könnte heute, zumindest in einem sehr präliminarischen Sinne, durch die Beschäftigung mit folgendem Zug, mit folgender Komplikation angeschnitten werden. In den vier betrachteten Fällen gibt es einen weiteren gemeinsamen Zug, den wir noch nicht hervorgehoben haben, einen gemeinsamen Zug, der umso bemerkenswerter ist, als die Kontexte, die Religionen und die staatlichen Strukturen in jedem von ihnen unähnlich und ziemlich weit voneinander entfernt sind (Athen, Jerusalem, Bagdad, Rouen). Es ging nämlich nicht darum, im Namen der Staatsräson, der Sicherheit der Stadt oder des Staates, die hier Verbündete oder Komplizen der religiösen Autorität sind, zu verurteilen oder hinzurichten [es ging also nicht darum], allem Anschein und allen Behauptungen oder Leugnungen zum Trotz, einen Feind des Staates und noch weniger einen Feind Gottes [zu töten]. In allen vier Fällen ging es darum, ein Sprechen zu töten, den Körper eines Sprechens [parole], das behauptete, nur die Präsentation einer göttlichen Rede [parole] zu sein, für die die staatlich-klerikalen Instanzen, die Doppelmacht der Kirchen und der Staaten, die Zwillingsmacht, die vereinigte Macht von Kirche und Staat taub blieb – und sich gut darauf verstand [entendait bien], nichts zu hören [ne rien entendre]. Alle vier, Sokrates, Jesus, Al-Halladsch und Jeanne d’Arc sagten im Grunde genommen, dass sie Stimmen hörten, die Stimme Gottes, und dass sie in dieser Hinsicht die Wahrheit seien. „Ich bin die Wahrheit“, sagten Jesus und Al-Halladsch wörtlich. Jeanne sagte wörtlich, dass sie Stimmen hören würde. Jesus und Al-Halladsch haben dasselbe Zeugnis dafür abgelegt, denn indem sie beide sagten „Ich bin die Wahrheit“, wollten sie, bisweilen wörtlich, sagen: Ich bin der Zeuge, ich kann von einer Wahrheit Zeugnis ablegen, die größer ist als ich und als ihr, die in mich kommt, aber in mich vom Jenseits her (ich unterstreiche diese Transzendenz, und insbesondere dieses Wort „Jenseits“ aus evidenten und allgemeinen Gründen, aber auch aus mehr buchstäblichen [littérales], ja literarischen Gründen, die sich später noch klären werden). Man tötet sie vielleicht deshalb, weil man Angst hat, die Stimme Gottes direkt, unmittelbar zu hören, wie die Söhne Israels, von denen ich vorhin sprach. Vielleicht tötet man sie auch deshalb, weil sie insofern als Bringer des Todes empfunden werden, als sie sagen, Träger der Stimme Gottes zu sein. Diese zeugenhafte, ja märtyrerhafte Beziehung zur Transzendenz einer vom Jenseits her sprechenden Stimme ist in den Fällen von Jesus, Al-Halladsch und Jeanne allzu evident, sie gilt jedoch auch schon für Sokrates, der nicht nur behauptete, nur im Namen der Wahrheit zu sprechen und Fragen zu stellen, sondern der auch sagte, dass er in sich einen daimon trage und von Gott Zeichen empfange. Dieses Wort „daimon“ ist für uns hier wichtig, mit all seiner griechisch-christlichen, zuallererst griechischen Ambivalenz, denn der daimon ist sowohl göttlich als auch dem Gott (theos) untergeordnet; er bezeichnet sowohl die Seele des Toten und den Wiedergänger, aber auch das Schicksal, das besondere Geschick, eine Art Erwählung, und häufig, im schlechten Sinne, das unglückliche Geschick, den Tod; und in christlicher Sprache, im Griechischen der Evangelien, bei Matthäus, Markus und Lukas, wird der daimon immer im schlechten Sinne genommen, als böser Geist, als das Dämonische, als Geist des Bösen. Bei diesem instabilen und zweideutigen Ausdruck daimon haben wir es also sowohl mit dem Motiv der transzendenten und heiligenden Gottheit als auch mit dem Motiv des dämonisch Verschlagenen [malin], des malin génie zu tun, mit dem Guten und dem Bösen, dem Verfluchten und dem Heiligungswürdigen; diese beiden sakralen Werte werden wir in der Szene der Verurteilung zum Tode und in der sakralen (verfluchten und geheiligten) Gestalt des zum Tode Verurteilten unaufhörlich aufscheinen sehen. Um nun auf Sokrates zurückzukommen, genauer auf eine berühmte Passage aus der Apologie (40a-b), so sagt auch er, dass er regelmäßig die Stimme seines daimon vernehme. Und was geschieht in ebenjenem präzisen Moment der Szene? Nun, er kündigt seinen Richtern an, ihnen sagen zu wollen, wie er deutet, was ihm geschieht [arrive], den Unfall/Zufall [accident], der ihm zustößt [arrive]: sein casus, sein Fall [cas] gewissermaßen, jener Unfall/Zufall, der seinen Sturz [chute] verursachen [causer] wird. Dieser Unfall/ Zufall ist eine „wundersame“ (thaumasion) Sache. Und was es da an thaumasion, an Erstaunlichem, Außerordentlichem, Wundersamem gibt, das ist hier, in diesem Fall die Tatsache, dass die Stimme seines daimon, die divinatorische (wahrsagende) Macht seines daimonischen Gottes [dieu démoniaque], die für gewöhnlich, üblicherweise in ihm spricht und ihn warnt (hè gar eiōthyia moi mantikè hè tou daimoniou), um ihm bis in die alltäglichsten Dinge des Lebens hinein Orientierung zu geben, nun, dieses Mal, als er sich dem Schlimmsten auszusetzen scheint, dem höchsten Unglück (eschata kakōn: das Äußerste der Übel, der Tod), nun, dieses Mal hat sein daimon geschwiegen, er hat ihn fallen lassen, es ist, als ob er ihn im Stich gelassen hätte, auch das, als ob sein Fall [cas], sein casus, sein Gott ihn nicht zurückgehalten hätte, vor das Tribunal zu treten und das Verdikt zu akzeptieren:

      […]; gleichwohl trat das göttliche Zeichen mir weder heute früh beim Verlassen meiner Wohnung warnend entgegen [ich zitiere die Übersetzung für to theou sémion: kein Zeichen Gottes hat mich zurückgehalten], noch bei meinem Gang hierher auf das Gericht, noch an irgendeiner Stelle meiner Rede, wenn mir etwas auf der Zunge lag.61

      Anschließend – lesen Sie, was darauf folgt – interpretiert Sokrates dieses plötzliche Schweigen seines Gottes oder seines daimon, und die guten Gründe, die er, der Gott, haben kann, zu schweigen und ihn fallen zu lassen, ihn sprechen zu lassen, um seinen Tod an den Gesetzen des Gemeinwesens zu akzeptieren. Und vielleicht ist es die ganze Philosophie, würde ich allzu elliptisch sagen, die Platonische Philosophie, die Philosophie kurzum, die ihren Ort in diesem Schweigen des daimon im Moment der Verurteilung des Sokrates findet. Ich werde dieses Schweigen des Gottes von Sokrates nicht mit jener Szene vergleichen, in der die Söhne Israels im Moment der Aufstellung der „Urteilssprüche/Rechtsordnungen [jugements]“ und der Erlasse des Strafgesetzes verlangen, nicht mehr Jahwe zu hören, sondern nur noch seinen menschlichen Vermittler, Moses, < ich werde dies nicht vergleichen > die Versuchung dazu aber wäre groß.

      Was ich durch diese Erinnerung entwirren wollte, ist die Tatsache, dass in der theologisch-politischen Struktur, von der wir sprechen, und im Zuge [trait] dieses Bindestrichs [trait d’union], die Allianz des Theologisch-Politischen sich nicht gegen das Nicht-Theologisch-Politische, gegen das Atheologisch-Politische vollzieht, sie setzt sich nicht in einer einfach antagonistischen oder oppositionellen oder dialektischen Szene etwas entgegen, das weder theologisch noch politisch wäre, sondern sie versucht entweder oder, oder beides zugleich, eine Transzendenz, die Referenz auf eine Transzendenz wieder in die Immanenz hinein zu holen [réimmanentiser], indem den Verurteilten, den vier Verurteilten bedeutet wird, dass sie nicht das Recht haben, sich als Träger des Wortes Gottes zu bezeichnen, dass sie ein Verbrechen begehen, ja dass sie eidbrüchig werden und Blasphemie betreiben, wenn sie behaupten, aus dem Jenseits kommende Stimmen zu hören, und dass man sie auf die Erde zurückholen müsse, zu den Gesetzen des Gemeinwesens oder der Kirche oder des Klerus oder der irdischen Organisation – und genau dies ist die Politik oder der Staat –, oder aber, und das läuft auf dasselbe hinaus, dass man sie anklagt, eben dadurch eine Profanation, eine Blasphemie, einen Missbrauch, einen Eidbruch, einen Abschwur begangen zu haben, dass sie behaupten, in unmittelbarem und persönlichem Kontakt mit einem Jenseits zu stehen, das transzendent und unzugänglich bleiben müsste, in einer Unzugänglichkeit, deren Hüter und einzige Garanten die Kirche, der Sanhedrin oder die griechischen Priester oder der Nächtliche Rat sind. Diese Verurteilung ergeht also sowohl im Namen der Transzendenz als auch gegen die Transzendenz. Und diese Komplikation hat zur Folge, dass das, was in den vier Fällen verurteilt wird, was sich theologisch-politisch verurteilt findet, nicht das СКАЧАТЬ