Dich hat der Esel im Galopp verloren. Ellen Schwiers
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СКАЧАТЬ wie Napoleon vor der Brust, auf dem Kopf eine Mütze. Es war das kleinste Bild.

      Wohin damit? Im Wohnzimmer, in einer Ecke, stand ein Kohleofen, der die ganze Wohnung beheizte. Links davon gab es eine Tür und rechts ebenfalls. Wenn beide Türen offenstanden, damit alle Räume Wärme bekamen, verschwand der Ofen hinter ihnen und mit ihm das Hitlerbild, das meine Mutter direkt neben dem Ofen platziert hatte.

      Krieg

      Der Zweite Weltkrieg weckt in mir fürchterliche Erinnerungen. Ständiger Fliegeralarm, Tod, Zerstörung, Flucht, Hunger, Hilflosigkeit und die immer präsente Angst. Die Menschen haben den Krieg unterschiedlich erlebt. Manche waren sogar kaum von ihm betroffen. Was Krieg mit Menschen macht, mit ihrer Seele, ist nicht vermittelbar, macht sprachlos. Zumindest mich. Es trennt die Menschen, es trennt sie von nachfolgenden Generationen, die so etwas nicht erlebt haben und nicht nachvollziehen können. Meine Ausdrucksmittel sind zu gering, um das Ausmaß des Erlebten zu schildern. Sobald ich es versuche, tauche ich ein in längst vergangene Situationen, bin sofort wieder im Geschehen und werde davon überwältigt.

      Jahrelang konnte ich vieles gut verdrängen, aber jetzt im Alter gelingt mir das immer weniger. Meine Erinnerungen scheinen ein Eigenleben zu führen und suchen mich immer häufiger heim. Das Ringen um Seelenfrieden, der einhergeht mit Unbeschwertheit, Gelassenheit und auch mit Leichtigkeit, habe ich verloren.

      Ich war neun Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Zu dieser Zeit lebten wir in Koblenz. Mein Vater war dort in der Spielzeit 1939 am Stadttheater engagiert. Ich erinnere mich noch, dass er eines Tages empört nach Hause kam und zu meiner Mutter sagte: »Liselotte, beide Kon­fessionen haben die Waffen gesegnet, wir treten sofort aus der Kirche aus.« Von da an waren wir ohne eine Institution, aber Gott-gläubig.

      Schon bald wurde meinem Vater angeboten, als Oberspielleiter nach Krefeld zu gehen, für ihn ein großer Schritt nach vorne, denn Krefeld war ein ganzjähriges Theater. Mein Vater sagte zu, machte gleichzeitig aber einen fatalen Fehler. Aufgrund des Theaterwechsels war er drei Monate arbeitslos, hatte sich beim Wehrbezirkskommando aber nicht nach Krefeld umgemeldet und wurde nun genau in dieser Zeit von der Wehrmacht eingezogen. Angeblich wusste er nicht, dass man das tun musste. Der Krefelder Intendant bemühte sich zwar, meinen Vater aus dem Wehrmachtsdienst herauszulösen, der Koblenzer Intendant ebenfalls, aber es war aussichtslos.

      Daher wurde mein Vater bereits 1941 eingezogen. So bestürzt die Familie war, im Nachhinein erwies sich das sogar als glückliche Fügung, denn die Schauspieler, die erst 1944, nach der Schließung aller Theater, eingezogen wurden, waren das reinste Kanonenfutter. Mein Vater kam zur »Landmarine« und lernte dort Lastwagen fahren, mit denen die Schiffe versorgt wurden. Ich sah meinen Vater in den folgenden fünf Jahren nur bei seinen seltenen Heimaturlauben.

      Bei einem seiner Besuche fand in Koblenz ein entsetzlicher Bombenangriff statt. Als wir aus dem Keller kamen, sahen wir das Dach der Florinskirche brennen. Die Dachziegel flogen explosionsartig durch die Luft. Vater sagte zu mir: »Schau es dir genau an, so etwas siehst du in deinem Leben nie wieder.« Das war gemessen an all dem, was noch kommen sollte, allerdings naiv.

      Mein Vater nahm mich, seine dreizehnjährige Tochter, in Richtung der brennenden Altstadt mit, um dort zu helfen und zu retten. Wir liefen an der Mosel entlang bis zur Moselbrücke. Um uns herum ein Höllenlärm: die lodernden Flammen der brennenden Altstadt, die lauten Geräusche der Feuerwehr, die Löschwasser aus dem Fluss pumpte, die Verzweiflungs- und Schmerzensschreie der den Flammen ausgesetzten Menschen. Geblendet durch den gleißenden Schein der Feuersbrunst, der sich in der Mosel widerspiegelte, konnte ich nicht sehen, wo ich hintrat. Plötzlich hörte ich eine hysterische Frauenstimme schrill schreien. Der Strahl einer Taschenlampe wurde auf meine Füße gerichtet. Ich stand auf Leichen, die dort abgelegt waren. Immer noch sehe ich dieses entsetzliche Bild: ein kleiner toter Junge, voller Blut, sein aufgeschlitzter Bauch, und er hielt noch ein Essgeschirr in der Hand, mit dem er seinem Vater das Essen zur Arbeit gebracht hatte. Der Körper seines Vaters lag völlig zerfetzt neben ihm. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt, ich wusste nicht, wie ich mich bewegen sollte, wie ich dort wegkommen konnte. Überall breitete sich mehr und immer mehr Blut aus. In meinen Holzschuhen, in denen meine nackten Füße steckten, stand das Blut. Wenn ich die Zehen bewegte, spürte ich, wie es quatschte. Mein Vater fasste mich unter den Achseln und hob mich von den Leichen he­run­ter. Ich schleuderte meine blutigen Schuhe von den Füßen in die Mosel. Das war eine Kurzschlussreaktion, denn überall lagen Bombensplitter, die mir beim Gehen nun die Fußsohlen zerschnitten.

      Als Vater und ich nach Hause kamen, sahen wir, dass sämtliche Fenster des Hauses kaputt waren. Die ganze Hausgemeinschaft saß im ersten Stock zusammen. Damit sich alle etwas beruhigten, hatte jemand Schnaps ausgegeben. Alle starrten uns an, und meine Mutter schrie entsetzt: »Ellen, wie siehst du denn aus?« Bis zu den Knien war ich voller Blut, eigenem und fremdem. Da brach ich mit einem Weinkrampf zusammen: »Mami, ich habe auf Toten gestanden.« Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Irgendjemand hat mir schließlich eine Beruhigungsspritze gegeben, meine blutenden Füße desinfiziert und die tiefsten Schnitte genäht.

      Bis heute habe ich den toten kleinen Jungen mit dem Essgeschirr vor Augen und bin immer wieder mitten im Geschehen. Es ist nicht zu verarbeiten.

      Nach jedem Bombenangriff musste ich mich als BDM-Mädchen in der Steinschule zum Appell melden. Wir mussten Verschüttete aus den Kellern ausbuddeln. Sie lagen, vom Staub und Schutt weiß wie die Mehlwürmer, in den Trümmern. Wenn alle überlebt hatten, waren das glückliche Momente. Innerlich wappnete man sich stets dagegen, auch auf Leichen zu treffen. Wenn das der Fall war, hörten wir mit dem Graben auf und es kamen erwachsene Helfer dazu. Die Leichen zu sehen war grauenvoll. Aber man musste funktionieren, musste den Schrecken mit sich selbst ausmachen. Wir mussten aufräumen! Es war so. Es war Krieg. Die geborgenen Toten wurden nebeneinander gereiht. Manche hatten keine Gliedmaßen mehr. Dann legte man ihnen die Arme oder Beine, die man fand, auf den Bauch.

      Der Tod war für mich entsetzlich. Zerfetzte Leiber, aufgerissene Augen, aufgerissene Münder. Bloß nicht sterben, dachte ich – bloß nie sterben. Den ersten »normal«, also nicht im Krieg gestorbenen Menschen sah ich 1954 in Göttingen. Das war mein Kollege Siegfried Breuer. So kann der Tod also auch sein, dachte ich. So friedlich und schön.

      Koblenz war eine Brückenstadt und damit ein strategisches Angriffsziel für die Engländer und ab dem Eintritt der Amerikaner in den Krieg auch für diese. Die Brücken wurden durch silberne Sperrballons geschützt, die von dünnen eisernen Seilen gehalten, höhenverstellbar bis an die sechstausend Meter hoch in den Himmel ragen konnten. Ihr Zweck war es, feindlichen Piloten den Anflug auf die Brücken und umliegenden Bodenziele zu erschweren, denn sie zwangen dazu, in größerer Höhe zu fliegen, was sich auf die Treffgenauigkeit auswirkte. Manchmal konnten die angreifenden Flugzeuge durch sie sogar zum Absturz gebracht werden, wenn die Piloten ihnen nicht mehr ausweichen konnten, zumal sie bei Nacht nicht sichtbar ­waren. Da die feindlichen Flieger in den letzten Kriegsjahren sehr oft angriffen, war das Aufsteigen der großen, mit Traggas gefüllten Ballons das Zeichen für einen baldigen Angriff, noch bevor wir Fliegeralarm bekamen.

      Die Bombenangriffe der Amerikaner und Engländer hörten bald überhaupt nicht mehr auf. Am Ende des Krieges war Koblenz zu mehr als neunzig Prozent zerstört. Wir haben fast nur noch im Keller gelebt, denn andauernd gab es Fliegeralarm. Große Teile der Stadt lagen in Schutt und Asche. Doch auf wundersame Weise stand die Schwerzstraße, in der wir wohnten, noch. Aber wir ahnten, dass wir wohl bald als Nächstes dran waren und dass auch die Luftschutzkeller letztlich keine Sicherheit boten. Ich hatte ja selbst erlebt, dass die Menschen in ihnen verschüttet wurden und starben. Meine Freundin Meta Jost hatten wir aus so einem Keller ausgegraben. Sie sah aus wie ein Geist. Gesicht und Körper waren vom Staub der Steintrümmer wie bemehlt. Ihre Großmutter war tot, und Meta brachte kein Wort mehr heraus. Sie stand unter Schock und weinte um ihr Kaninchen.

      Meine Mutter beschloss, Koblenz СКАЧАТЬ