Dich hat der Esel im Galopp verloren. Ellen Schwiers
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СКАЧАТЬ Lebensmittelkarten zu erhalten. Kaum war meine Mutter losgegangen, erfolgte ein schwerer Luftangriff. Die Bomben schlugen genau im Gebiet der Steinschule ein, also dort, wo meine Mutter sich gerade aufhielt. Ich war sicher, dass ich sie nie wiedersehen würde. Nicht weit von uns entfernt hatte ein Kohlelager angefangen zu brennen. Die Luft war voller glühender Asche, und brennende Kohlenstücke landeten auf unserem Hausdach. Es drohte Feuer zu fangen. Außer meinem kleinen Bruder Gösta und mir war niemand mehr im Haus. Unsere Wohnung lag im obersten Stock. Also sind wir hinaus aufs Dach geklettert, um zu löschen. Gösta musste mir aus der Badewanne Wasser bringen – zu der Zeit sollten die Badewannen immer voller Wasser sein –, und ich habe mit langen Stangen, um die ich nasse Lappen wickelte, versucht, die Brandnester zu löschen.

      Vom Dach aus sah ich meine Mutter auf der Straße um die Ecke biegen. Da bin ich fast ohnmächtig geworden, so glücklich war ich, dass sie noch lebte.

      Sofort begannen wir unsere Habseligkeiten zu sortieren und zu packen. Man konnte seinen Besitz in der Festung Ehrenbreitstein deponieren, aber wir trauten dem System nicht. Daher ließen wir unsere Möbel in der Wohnung stehen und verstauten unsere persönlichen Dinge in einer Kiste im Keller. Nur mit Handgepäck und einem Köfferchen mit Silberbesteck verließen wir Koblenz. Das Besteck stammte aus dem Zietlower Haushalt meiner Großeltern und war der einzige Wertgegenstand, den wir aus unserer Wohnung mitnahmen. Wir hüteten es wie unseren Augapfel. Später stellte sich heraus, dass es sich um ein »nur« versilbertes Besteck handelte. Das war aber nicht weiter schlimm, hatte es für uns doch vor allem einen ideellen Wert.

      Mein Großvater väterlicherseits organisierte, dass ich nach Niesky auf die Internatsschule der evangelischen Brüdergemeinde kam. Die Schwester meines Vaters, Tante Agnes, arbeitete dort als Sportlehrerin. Ich wurde alleine in die Bahn gesetzt. Wenn ich mir das heute überlege, finde ich es unglaublich. Niemals hätte ich eines meiner Kinder alleine, mitten im Krieg, quer durch ganz Deutschland geschickt. Doch meine Eltern hatten das schon einmal getan und mich als Elfjährige zusammen mit meinem damals fünf Jahre alten Bruder »verschickt«, nach Königsberg zu Tante Grete, einer Cousine meiner Mutter, und Onkel Max, ihrem Mann. Dort blieben wir ungefähr drei Monate. Es war der Stalingradsommer 1942. Ich sehe meine Eltern noch gemeinsam am Bahnsteig stehen, um uns zu verabschieden. Mein Vater war kurz zuvor für ein paar Tage auf Urlaub gekommen. In dem rappelvollen Zug musste ich stehen. Bis Berlin sind wir noch begleitet worden, danach wurden wir uns selbst überlassen. Wir mussten umsteigen und uns durchfragen. Als wir endlich in Königsberg ankamen, nahm uns dort niemand in Empfang. Meine Tante hatte sich verspätet. Diese vierzig Minuten, die wir Kinder alleine, völlig übermüdet auf dem Bahnhof standen und nicht wussten, ob noch jemand käme, um uns abzuholen, waren eine harte Prüfung.

      Ich war nun im Internat, und meine Mutter und mein Bruder landeten bei zwei weiteren Cousinen meiner Mutter in Leipzig, den Zwillingsschwestern Erika und Eva. Tante Erika war Kriegswitwe und hatte vier Kinder zu versorgen. Tante Eva hatte zwei Kinder. Ihr Mann, der Wirtschaftshistoriker Professor Friedrich Lütge, stand dem Kreisauer Kreis, einer bürgerlichen Widerstandsgruppe, nahe. Das wusste aber keiner, zumindest meine Mutter wusste es nicht.

      Es war Juli 1944, die Front rückte immer näher und die beiden Schwestern machten sich auf nach Königsberg, um ihre alte Mutter zu holen. In der Zeit ihrer Abwesenheit führte meine Mutter dem Professor und den nun insgesamt acht Kindern den Haushalt. Als am 20. Juli 1944 das Attentat auf Hitler scheiterte, war der Professor plötzlich verschwunden. Einige Kreisauer hatten sich der Widerstandsgruppe um den Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg angeschlossen, nachdem Anfang 1944 einer der Gründer des Kreisauer Kreises, Helmuth James Graf von Moltke, verhaftet worden war. Es dauerte nicht lange, da stand die Gestapo vor der Wohnungstür, um den Professor zu verhaften, fand aber nur eine Frau und acht Kinder vor. Sie nahmen meine Mutter, die keine Ahnung hatte, wo sich der Professor aufhielt, kurzerhand mit und brachten sie in einen Keller zum Verhör. Sie hat, nach dem, was sie uns später erzählte, den Ernst der Lage gar nicht begriffen, sondern sich stattdessen lautstark darüber beschwert, dass eine grelle Lampe auf sie gerichtet war und dass sie, eine Dame, diesem grauenvollen Licht ausgesetzt wurde. Sie haben sie tatsächlich wieder ziehen lassen. Ich glaube, ihre Naivität hat ihr das Leben gerettet.

      Der Professor tauchte erst kurz vor Kriegsende wieder auf. Im Auftrag der Besatzungsmächte wurde er zunächst Rektor der Universität Leipzig und nahm ab 1947 seine Lehrtätigkeit in München wieder auf.

      Nachdem Tante Eva und Tante Erika mit ihrer Mutter aus Königsberg zurückgekommen waren, fuhr meine Mutter mit Gösta nach Kreuzburg in Ostoberschlesien zu ihrer Schwester Jette, die vor den Bombenangriffen aus Berlin geflohen und mit ihren drei kleinen Töchtern dort untergekommen war. Ihr Mann, mein sehr geliebter Onkel Heinrich, forschte als Ingenieur für Maschinenbau für die DVL, die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt, weshalb er auch nicht eingezogen worden war. Einen Teil seiner Abteilung hatte man von Berlin nach Kreuzburg verlegt und in Paradies, dem heutigen Gościkowo, im dortigen Kloster untergebracht.

      Am 4. Oktober 1944 brannte unsere Wohnung in Koblenz völlig aus. Erst vier Wochen später wurde mir die traurige Nachricht auf einer vorgedruckten Karte mit der Post überbracht. Wir hatten gerade eine Freistunde. Ich saß auf der Bank am Kamin und zerdrückte ein paar Tränchen. Johanna, ein Mädchen, mit dem ich mich angefreundet hatte, fragte nach dem Grund. Ich reichte ihr stumm die Postkarte. »Der 4. Oktober – das war doch die Nacht, in der du so geschrien hast«, stellte sie fest. Wir schliefen alle in einer Art Wintergarten, und ich hatte im Schlaf so laut geschrien, dass mich meine Zimmergenossinnen gerüttelt und geschüttelt hatten, weil ich mich einfach nicht beruhigen konnte. Ich hatte geträumt, ich stünde in Koblenz in der Tür unseres Wohnzimmers vor einem Flammenmeer. Zwischen den Fenstern hing ein großer Spiegel, ein Erbstück meiner Mutter. Er reichte vom Boden bis zur Decke und hatte ein silberhinterlegtes, geteiltes Spiegelglas. Der Rahmen war barock geschnitzt und mit Blattgold belegt. Ich sehe in diesem Spiegel, wie ich in der Tür stehe, sehe, wie ich weine und mir die Tränen übers Gesicht rinnen. Oder war es das Spiegelglas, das in der Hitze der Flammen langsam schmolz und gleich Tränen hinablief? Ich sehe mich auch im Kinderzimmer stehen und voller Entsetzen dabei zusehen, wie meine heißgeliebte Bibliothek verbrennt, über hundert Bücher, das Kasperletheater und das barocke Papier­theater von den Großeltern. In der Küche brannte das Büffet, eine besondere Kostbarkeit in meinen Augen, weil mein Vater es mit angeblich von Rembrandt bemalten und gebrannten Kacheln aus Holland beklebt hatte. Mein Vater hatte sie in mehreren Antiquitätenläden entdeckt und schwor darauf, dass sie echt seien.

      Das war ein weiteres Mal, dass ich in einem Traum so lebhaft das sogenannte zweite Gesicht hatte, auch wenn ich nicht in die Zukunft sah, sondern zeitgleich im Geschehen war. Das begriff ich aber erst, als Johanna mich an diese Traumnacht erinnerte.

      Später, als wir nach dem Krieg wieder nach Koblenz kamen, stand ich in den Trümmern unseres Wohnzimmers vor dem zerschmolzenen Spiegelglas aus meinem Traum. Von unseren Möbeln, unserer Einrichtung, war nur die Scherbe einer kleinen gelben Wandvase übrig geblieben. Diese Scherbe hängt als Erinnerung noch heute in meinem Esszimmer an der Wand.

      Der Winter 1944 war bitterkalt. Das merkten wir auch im Internat. Meine fünfzehn Mitbewohnerinnen hatten jedoch alle warme Federbetten von zu Hause mitgebracht. Ich besaß nur eine dünne Decke und ging deswegen mit meinem Trainingsanzug ins Bett. Wenn ich am Morgen aufwachte, war mein Atem auf dem Kopfkissen gefroren.

      Weihnachten stand vor der Tür, und das Internat wurde über die Weihnachtsferien geschlossen. Alle fuhren mit leichtem Gepäck nach Hause. Ich aber packte alle meine Sachen in meinen Koffer, denn ich hatte beschlossen, nicht mehr ins Internat zurückzukehren. Ich wollte bei meiner Mutter und meinem Bruder bleiben. Wo unser Vater war, wussten wir zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Also machte ich mich auf nach Kreuzburg. Als ich ankam, freute sich meine Mutter keineswegs, sondern war erbost, dass ich das Internat aufgekündigt hatte. Schließlich, meinte sie, wäre das Internat noch für ein Vierteljahr bezahlt. Ihre Reaktion verletzte mich sehr. Ich hatte das Gefühl, sie legte keinen Wert auf mich. Meiner Mutter kam es offenbar gar nicht СКАЧАТЬ