Dich hat der Esel im Galopp verloren. Ellen Schwiers
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СКАЧАТЬ lag achtzig Kilometer westlich der damaligen polnischen Grenze, und der Landrat, in dessen Haus wir mit Tante Jette und ihren drei kleinen Töchtern wohnten, riet uns: »Sobald es im Wehrmachtsbericht heißt, dass die russischen Panzer bei Tschenstochau durchgebrochen sind, müsst ihr von hier weg, denn dann stehen die Russen bald vor unserer Haustür.« Nur wenig später war es so weit, und wir mussten aus Kreuzburg fliehen.

      Flucht

      Wir landeten auf einem Bauernhof. Die Bauernfamilie war wegen der Festungsfront Oder-Warthe-Bogen, einer seit 1934 aufgebauten, stark befestigten Verteidigungs­linie, von der Bevölkerung auch »Ostwall« genannt, umgesiedelt worden und hatte einen nigelnagelneuen Bauernhof bekommen, der drei Kilometer vom Ort entfernt auf einer Warft lag. Hinter dem Hof begann ein Hochmoor, das an einen Wald grenzte.

      Jeden Tag fuhr ich nun mit der Bahn, gemeinsam mit sieben weiteren Kindern, nach Meseritz zur Schule. Eines Morgens war die ganze Stadt voller Menschen, Pferde, Wagen und Gespanne. Ein Treck war angekommen. Auf den Straßen gab es kaum noch ein Durchkommen. Als wir Kinder schließlich in der Schule ankamen, schlug der Hausmeister die Hände über dem Kopf zusammen. »Was wollt ihr denn hier? Die Schule ist geschlossen. Die Russen sind im Anmarsch.« Wir erschraken, und wir wussten nicht, wie wir wieder zurück nach Hause kommen sollten. Wir konnten die zwölf Kilometer zurück doch nicht zu Fuß laufen! Es hatte stundenlang geschneit, der Schnee lag inzwischen hüfthoch. Verzweifelt gingen wir zum Bahnhof. Dort erbarmte sich unserer ein Lokführer und bot an, uns nach Hause zu fahren. Die Waggons wurden abgekoppelt, wir bekamen jeder eine Schaufel in die Hand gedrückt, und nur mit der Lok fuhren wir los. Die Fahrt dauerte eine Ewigkeit. Alle paar Kilometer mussten wir mit unseren Schaufeln erst den Schnee von den Schienen schaufeln, der sich dort zusammengeschoben zementschwer türmte, bevor wir weiterfahren konnten. Erst gegen Mittag traf ich zu Haus ein.

      Noch am selben Tag, am Nachmittag, sah ich vom Hof aus am Waldrand zwei russische Panzer. Sie gaben einen Schuss ab, die Kugel versank im Moor. Damit war klar, dass die Panzer nicht über das Hochmoor fahren konnten, ohne zu versinken. Als ich schrie und die Erwachsenen rief, hatte der Schnee schon wieder alles zugedeckt und die Panzer waren im Wald verschwunden.

      Die Front mit ihrer Geräuschkulisse, dem ununterbrochenen Geballere und Donnern, rückte immer näher und wurde immer lauter. Dass die Ostfront nahe war, hatte auch Onkel Heinrich im Wehrmachtsbericht gehört und bereits einen LKW organisiert, der geheime Dokumente der DVL nach Berlin fahren und zusätzlich nun auch Tante Jette, meine Mutter und uns fünf Kinder mitnehmen sollte nach Berlin-Bohnsdorf, wo meine Tante und mein Onkel wohnten.

      Ob der bevorstehenden Flucht erlitt meine Mutter einen Zusammenbruch. Sie wollte lieber auf dem Hof bleiben, als schon wieder ins Ungewisse zu fliehen. Ich konnte sie verstehen. Ihr Zuhause gab es nicht mehr, es war zerstört. Als Ausgebombten hatte man uns auch bereits zwei neue Betten und einen neuen Schrank zugewiesen. Und sie hatte sich mit der Bäuerin angefreundet. Vieles erinnerte sie hier an ihre Kindheit. Doch wir wollten auf keinen Fall den Russen in die Hände fallen. Obwohl Tante Jette und ich mit Engelszungen auf meine Mutter einredeten, schluchzte sie nur und wollte nicht einsteigen, als der LKW kam, um uns abzuholen. Daraufhin habe ich einen Anfall bekommen, denn im Gegensatz zu den anderen hatte ich in Meseritz den Flüchtlingstreck und unweit des Hofes die Panzer gesehen und wusste, wie ernst die Lage war. Schließlich fügte sich meine heulende Mutter und stieg ein. Onkel Heinrich versuchte noch, so viele seiner Mitarbeiter wie möglich auf dem LKW unterzubringen. Doch einige mussten zurückbleiben und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

      Wie gut wir daran getan hatten, schnellstens zu fliehen, erfuhren wir Wochen später, als Onkel Heinrich zu uns stieß. Auf unserem Bauernhof hatte keiner die Ankunft der Russen überlebt.

      Onkel Heinrich hatte Order gegeben, kein Gepäck mitzunehmen, also zogen wir für die Flucht unsere gesamte Kleidung übereinander an. Außer meinem eigenen Mantel war ich noch in einen zweiten von meiner Mutter geschlüpft, und Gösta hatte über seinen Mantel noch einen von mir gezogen. Mein Bruder bekam ein frisch geschlachtetes Huhn für unsere Verpflegung unterwegs auf den Rücken gebunden, und ich trug einen Rucksack und das Köfferchen mit dem Silberbesteck.

      Auf dem LKW wurden wir auf der Ladefläche unter einer Plane versteckt, wir durften nicht gesehen werden. Für den Fall, dass man uns anhalten würde, erhielt Gösta die Aufgabe, das Baby meiner Tante ruhig zu halten, was den Sechsjährigen ziemlich überforderte. Wir durften nicht unter der Plane herausschauen, taten es natürlich trotzdem. Auf diese Weise bekamen wir auch mit, dass wir an mehreren Flüchtlingstrecks vorbeifuhren. ­Schließlich kamen uns deutsche Militärfahrzeuge entgegen, die mit Holzgas betrieben wurden. Meine Mutter sah das zum ersten Mal und stellte resigniert fest: »Wir werden diesen Krieg verlieren, wir haben ja nicht einmal mehr Benzin.«

      Vor Frankfurt an der Oder wurden wir von deutschen Soldaten angehalten. Sie bedeuteten uns auszusteigen und konfiszierten den Lastwagen. Zwei Sekretärinnen der DVL, die mit im Wagen gesessen hatten, zeterten und gestikulierten und versuchten, den Soldaten klarzumachen, dass sie hochbrisante geheime Dokumente nach Berlin bringen müssten. Doch es half alles nichts, der Wagen wurde beschlagnahmt. Ich habe mich später manchmal gefragt, was das wohl für ein brisantes Material war, das hier befördert und nun so schmachvoll zusammen mit dem LKW einfach entwendet wurde.

      Da standen wir nun alle an der Straße. Tante Jette war der Meinung, dass wir von der Himmelsrichtung her gesehen weiter nach Nordwesten gehen müssten. Also verließen meine Mutter, meine Tante und wir fünf Kinder die Straße und zweigten in den Wald ab.

      Es war bitterkalt. Ich war die Älteste und hatte die Babyflasche unter meiner Achselhöhle, damit sie nicht ebenso einfror wie unser Brot, das bereits zu einem Eisklumpen geworden war und nicht mehr gekaut werden konnte. Im Wald lag zwar nicht so viel Schnee, aber es gab auch keinen richtigen Weg. Wir mussten uns unseren Pfad durch das Unterholz schlagen. Nach Stunden wurde uns dabei so heiß, dass wir Kinder anfingen, uns auszuziehen. Es fiel mir nicht leicht, den Mantel meiner Mutter im Wald zurückzulassen. Auch mein Bruder warf meinen Mantel weg. Irgendwann setzte meine Mutter sich auf einen Baumstumpf und wollte keinen Schritt mehr weitergehen. Voller Verzweiflung habe ich auf sie eingeschlagen, um sie zum Aufstehen zu bewegen. »Dir wird die Hand aus dem Grabe wachsen. Du hast deine Mutter geschlagen«, warf sie mir vor. Das war eine entsetzliche Drohung, die mich verstörte, aber ich hatte immerhin erreicht, dass sie sich weiterschleppte.

      Wir sind den Rest des Tages und die folgende Nacht durch den Wald gelaufen. Als es dämmerte, waren wir nicht mehr sicher, ob die Richtung noch stimmte. Wir hatten uns immer nach dem Geräusch der Front gerichtet. Solange wir das Donnern hinter uns hörten, war uns klar, dass wir gen Westen liefen. Jetzt aber hörten wir auch Motorengeräusche im Süden. Tante Jette und ich wollten es genauer wissen und liefen in diese Richtung, bis wir auf die Hauptstraße stießen. Was wir dort sahen, war schockierend: Russische Panzer hatten einen Flüchtlingstreck von der Straße gedrängt und zum Teil niedergewalzt. Was wir im Wald gehört hatten, war das Dröhnen der Motoren von Militärfahrzeugen, das Stöhnen und Schreien von Menschen und Tieren. Einige Fuhrwerke standen zerbrochen am Rand, Pferden waren die Beine abgefahren worden. Es war ein grausiger Anblick. Wir sind sofort wieder umgekehrt, um uns weiter durch den Wald zu schlagen.

      Als die zweite Nacht anbrach, stießen wir endlich auf eine Siedlung und klingelten beim erstbesten Haus. Wir wurden hereingelassen und bekamen ein leeres, unmö­bliertes Zimmer zugewiesen. Es war eine kalte Nacht, und wir hatten nichts Warmes mehr dabei, hatten wir uns doch all der übereinandergezogenen Mäntel, Jacken, Pullover entledigt. Mich plagten entsetzliche Zahnschmerzen. Als es hell wurde, ging ein alter Mann mit mir zu einem Zahnarzt, der mir kurzerhand ohne Betäubung einen Backenzahn zog. Die Betäubungsmittel waren knapp und für die Soldaten reserviert. Der Schmerz verschwand aber sofort.

      Die Familie, bei der wir übernachtet hatten, gab uns einen Schlitten, auf den konnten wir nun das Baby und seine vierjährige Schwester СКАЧАТЬ