Dich hat der Esel im Galopp verloren. Ellen Schwiers
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СКАЧАТЬ einen Vorort im Osten von Berlin. In einem kleinen Zweifamilienhaus im ersten Stock lag die Wohnung von Tante Jette. Sie war total ausgeräumt, denn die Tante hatte all ihren Besitz mit nach Kreuzburg genommen. Es gab nichts. Keinen Tisch, keinen Stuhl, kein Bett. Zum Glück besaßen wir noch das Huhn, und ich hatte, gleich nachdem Onkel Heinrich uns wissen ließ, dass er einen LKW schicken würde, vor unserem Aufbruch Reise-Lebensmittelkarten organisiert. Ich war in Paradies runter ins Dorf gelaufen, um meine Mutter, Gösta und mich beim Bürgermeisteramt abzumelden. Ich bin im Dritten Reich großgeworden, also wusste ich auch, wie es funktionierte. Tante Jette, die sich oft unkonventionell verhielt und davon ausging, dass sich alles schon irgendwie fügen werde, hatte das versäumt und geriet ohne Vorlage der Abmeldung nun in große Schwierigkeiten, an Lebensmittelkarten zu kommen, weshalb unsere ganze Truppe zunächst mit drei Lebensmittelkarten auskommen musste.

      Dann stand irgendwann Onkel Heinrich frierend und fix und fertig vor der Tür. Trotz der Kälte hatte er nur noch Hemd und Hose an. Als Tante Jette ihm die Tür aufmachte, brach mein aufrechter, zuverlässiger Onkel mit den Worten: »Jette, du besitzt nichts mehr«, in ihren Armen zusammen. Zum ersten Mal habe ich einen Mann so erbarmungswürdig weinen sehen. Das war erschütternd. Waren die Männer nicht eigentlich unser Schutz und unsere Stütze? Doch die Erwachsenen konnten uns Kindern ihr Entsetzen und ihre Hilflosigkeit in diesem Krieg nicht verbergen.

      Onkel Heinrich war zwei Tage und zwei Nächte zu Fuß unterwegs gewesen. Er hatte noch versucht, die gesamten DVL-Dokumente auf dem Hof hinter Schränken zu verstecken. Das Forschungsmaterial ist vermutlich den Russen in die Hände gefallen. Onkel Heinrich hat lange geglaubt, dass wir den Krieg gewinnen würden, da die Deutschen eine Wunderwaffe entwickelten. Damit meinte er die A-9- und A-10-Raketen. Doch die Entwicklung der Raketen war noch nicht ausgereift – sie sind nicht zum Einsatz gekommen.

      Es wurden schwere Luftangriffe auf Berlin geflogen. Wir saßen in diesem kleinen Häuschen in Bohnsdorf wie in einer Mausefalle, und zum ersten Mal glaubte ich nicht mehr, dass wir lebend davonkommen würden. Um uns herum bebte die Erde. Man hörte die Bomben, noch bevor sie die Erde erreichten. Durch den Luftdruck und den Rauch bekam man kaum noch Luft. Eine Mine war in den Vorgarten gefallen, glücklicherweise ein Blindgänger, der nicht explodierte. Wir saßen alle im Keller vor dem Volksempfänger, der meldete, dass die erste Welle gerade Berlin bombardierte und dass sich die zweite Welle im Luftraum über Krefeld im Anflug auf Berlin befand. Es war der schwerste Luftangriff, den wir bisher erlebt hatten. Wir erlitten Todesangst. Es war einfach unvorstellbar, dass wir dieses Getöse, dieses Erdbeben, diesen Welt­untergang, dieses Inferno überleben könnten. Alles, was wir bisher durchgestanden hatten, schien umsonst. Und es war der Tag, an dem ich zum zweiten Mal in diesem Krieg zusammengeklappt bin und nicht mehr aufhören konnte, zu weinen.

      Am nächsten Tag gingen wir zum Bahnhof, um mit dem Zug in den Westen zu entkommen. Auf den Bahnsteigen und an den Gleisen, bis weit aus dem Bahnhof hinaus, drängten sich die Menschenmassen. Den ganzen Tag warteten wir stehend und verließen unseren Platz nicht, obwohl die Fliegeralarme immer wieder Panik bei den Menschen auslösten. Wenn die Züge hielten, waren sie immer schon rappelvoll. Viele sprangen einfach auf die einfahrenden Züge auf. Irgendwann war mir klar, dass wir so niemals in einen Zug kommen würden. Als wieder ein einfahrender Zug angekündigt wurde, sprang ich unter dem Protestgeschrei meiner Mutter ins Gleisbett und lief nach vorne, um den Zug abzupassen, bevor er in den Bahnsteig einfuhr. Der Zug rollte an, und als mir dämmerte, dass mir niemand helfen würde, rechtzeitig von den Gleisen wieder herunterzukommen, bin ich einfach in die Menge hineingesprungen. Dabei habe ich auch Menschen umgerissen. Die Lokomotive zog an mir vorbei, dahinter ein Kohlewagen, danach kam ein Waggon mit einem Geschütz, dahinter ein Gepäckwagen und dann erst der erste Reisewaggon. Noch rollte der Zug. Doch ich hechtete schon auf die unterste Trittstufe dieses ersten Reisewagens und besetzte im Inneren das erste Abteil. Mit Händen und Füßen habe ich die zwei sich gegenüberstehenden Bänke gegen die durch Fenster und Türen he­rein­drängenden Menschen verteidigt. Es war ein richtiger Kampf, ich habe mich gebärdet wie ein Tier, indem ich um mich trat und schlug. Irgendwie konnte ich meine Familie zu mir lotsen und schließlich saßen wir tatsächlich alle in dem von mir »reservierten« Abteil.

      In Thüringen wurden wir von Jagdbombern, Jabos genannt, beschossen. Auch das Geschütz hinter der Lok brüllte los. Der Zug hielt mehrere Stunden lang, damit die Toten und Verletzten geborgen werden konnten. Die Nacht war endlos. Gegen Morgen hielten wir in Friedberg. Ich wusste, dass Friedberg in Hessen liegt, und wir beschlossen, alle auszusteigen, denn Marburg war nicht weit, und dort wohnte eine Cousine meiner Mutter, Tante Christa. Die Entscheidung musste schnell gefällt werden, der Zug wartete nicht lange. Wir packten eilends alles zusammen, die kleinen Kinder wurden geweckt, und schließlich standen wir als Einzige im frühen Morgengrauen in Friedberg frierend auf dem Bahnhof.

      Wir hatten Glück, denn kurz darauf hielt ein Zug, der doch tatsächlich nach Marburg fuhr. Er blieb kurz vor Marburg stehen, weil er noch keine Einfahrtserlaubnis erhalten hatte. Ich kannte die Stadt gut von einigen früheren Besuchen, ich wusste, wo wir waren, und kannte eine Abkürzung zu Tante Christa. Also machte ich Onkel Heinrich schnell den Vorschlag, aus dem Zug zu springen. Den Sprung hinab unterschätzte ich allerdings und tat mir fürchterlich weh, als ich auf dem Schotter landete. Keine zehn Minuten später standen Onkel Heinrich und ich als Vorhut bei Tante Christa frühmorgens vor der Tür. Sie starrte uns sprachlos an. »Die anderen kommen noch«, eröffneten wir ihr. »Na, dann kommt mal rein«, erwiderte sie und ließ uns in ihre Wohnung.

      Wir sind im Krieg immer wieder bei Verwandten untergekommen. Wir waren auf sie angewiesen. Ich hatte immer, auch in meinem späteren Leben, das Gefühl, in der Familie und Verwandtschaft geborgen zu sein. Es war selbstverständlich, dass man einander half und unterstützte. Wir waren ein Clan!

      Im Rhein-Main-Gebiet häuften sich die Luftangriffe so sehr, dass es überhaupt keine Entwarnungen mehr gab. Jeden Abend flog ein Jabo über uns hinweg, der in die Häuser hineinschoss. Wir nannten ihn bereits den »Piloten vom Dienst«. Bald saßen wir wieder nur noch im ­Keller. Tante Christa, die bisher in Marburg relativ friedlich und beschussfrei gelebt hatte, begriff unsere angebliche Hysterie gar nicht und blieb beim Fliegeralarm einfach in ihrer Wohnung. Plötzlich taumelte sie jedoch totenbleich zu uns in den Keller. Sie war im Treppenhaus beschossen worden. Die Einschussspur des Jabos war deutlich zu sehen.

      Wir sahen inzwischen aus wie graue Mäuse. Die Sonne schien, und Tante Jette fand, dass wir Kinder mal wieder an die frische Luft müssten. Mit ihren drei Kindern, eines davon im Kinderwagen, den beiden Kindern von Tante Christa, Seute und Toni, meinem Bruder Gösta und mir zogen wir los. Unser Ziel war der Bismarckturm im Wald auf der anderen Seite der Lahn. Als wir über die Brücke am Bahnhofsgelände gingen, wurden wir von zwei Jabos überflogen, die anfingen, uns zu beschießen.

      Ich habe noch viele Jahre nach dem Krieg geglaubt, dass das ein Irrtum gewesen sein muss und die Piloten nicht gesehen hatten, dass sie eine Frau mit sieben Kindern beschossen. Erst als ich später selber in Flugzeugen gesessen und festgestellt habe, dass man die Menschen aus einer bestimmten Höhe sehr wohl gut erkennen kann, habe ich begriffen, dass sie tatsächlich bewusst und absichtlich auf uns geschossen haben. Es war eben der totale Krieg.

      Panisch sind wir damals über die Brücke gelaufen. Dahinter befand sich eine Allee, die uns etwas Deckung bot. Auf der rechten Seite standen Häuser, aber um sie zu erreichen, hätte man erst die langgestreckten und keinen Schutz bietenden Vorgärten überwinden müssen. Dass unsere Entscheidung intuitiv richtig gewesen war, begriffen wir erst später, als wir sahen, dass die Häuser nicht mehr standen.

      Als Nächstes kam ein großes Gebäude, an dessen Kellertreppe zwei Männer uns aufgeregt zu sich winkten. Das Gebäude, ein ehemaliges Internat, war zum Lazarett umfunktioniert worden. Wir schienen in Sicherheit zu sein, doch es fehlten Seute und Toni, die beiden Kinder meiner Marburger Tante. In einer kurzen Beschusspause kamen die beiden angelaufen. Tante Jette, völlig außer sich, gab Seute eine Ohrfeige und schrie sie an, dass sie gefälligst bei ihr hätten bleiben sollen. Toni rechtfertigte sich. Ihre Mutter hatte ihnen СКАЧАТЬ