Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ Wald nicht erstaunt; die Schäfte und das Unterholz, die Kräuter, die unentwirrbar ineinander verschlungenen Zweige und die hohen Gräser führen ein Dasein von dunkler Art; durchs unabsehbare Gewimmel huscht Unsichtbares; was unter dem Menschen steht, nimmt durch Nebel das wahr, was über dem Menschen steht.« In diese Darstellung ist eingesenkt, was Hugos Erfahrung mit der Menge eigentümlich gewesen ist. In der Menge tritt, was unter dem Menschen steht, in Verkehr mit dem, was über ihm waltet. Diese Promiskuität ist es, die alle andern einschließt. Die Menge erscheint bei Hugo als Zwitterbalg, den ungestalte, übermenschliche Mächte denen ausgebären, die unter dem Menschen sind. Im visionären Einschlag, der in Hugos Konzept von der Menge vorliegt, kommt das gesellschaftliche Sein besser zu seinem Recht als in der ›realistischen‹ Behandlung, die er ihr in der Politik angedeihen ließ. Denn die Menge ist in der Tat ein Naturspiel, wenn man den Ausdruck auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen darf. Eine Straße, eine Feuersbrunst, ein Verkehrsunglück versammeln Leute, die als solche von klassenmäßiger Bestimmtheit frei sind. Sie präsentieren sich als konkrete Ansammlungen; aber gesellschaftlich verbleiben sie doch abstrakt, nämlich in ihren isolierten Privatinteressen. Ihr Modell sind die Kunden, die sich – jeder in seinem Privatinteresse – auf dem Markte um ›die gemeinsame Sache‹ sammeln. Diese Ansammlungen haben vielfach nur statistische Existenz. In ihr bleibt verhüllt, was an ihnen das eigentlich Monströse ausmacht: nämlich die Massierung privater Personen als solcher durch den Zufall ihrer Privatinteressen. Fallen diese Ansammlungen jedoch ins Auge – und dafür sorgen die totalitären Staaten, indem sie die Massierung ihrer Klienten permanent und verbindlich für alle Vorhaben machen –, so tritt ihr Zwittercharakter klar zu Tage. Er tut das vor allem für die Betroffenen selbst. Sie rationalisieren den Zufall der Marktwirtschaft, der sie derart zusammenführt, als ›Schicksal‹, in dem sich ›die Rasse‹ wiederfindet. Sie geben damit zugleich dem Herdentrieb und dem reflektorischen Handeln freies Spiel. Die Völker, die im Vordergrunde der westeuropäischen Bühne stehen, machen Bekanntschaft mit dem Übernatürlichen, das Hugo in der Menge entgegentrat. Das historische Vorzeichen dieser Größe hat Hugo allerdings nicht lesen können. Doch hat es sich in seinem Werk als eine sonderbare Entstellung abgedrückt: in Gestalt der spiritistischen Protokolle.

      Der Kontakt mit der Geisterwelt, der bekanntlich in Jersey gleich tief auf sein Dasein wie auf seine Produktion wirkte, war, so befremdend das erscheinen mag, vor allem ein Kontakt mit den Massen, wie er dem Dichter in der Verbannung von Hause aus abging. Denn die Menge ist die Daseinsweise der Geisterwelt. So sah Hugo zuvörderst sich selbst als Genius in einer großen Versammlung der Genien, die seine Ahnen waren. Der »William Shakespeare« geht seitenweise, in großen Rhapsodien die Reihe dieser Geistesfürsten durch, die mit Moses beginnt und mit Hugo endet. Sie macht aber nur eine kleine Schar in der gewaltigen Menge der Abgeschiedenen. Das ad plures ire der Römer war Hugos chthonischem Ingenium kein leeres Wort. – Die Spirits der Toten kamen spät, als Boten der Nacht, in der letzten Sitzung. Die Aufzeichnungen von Jersey haben ihre Botschaften aufbewahrt: »Jeder Große wirkt an zwei Werken. An dem Werk, das er als Lebender schafft, und an seinem Geister-Werke … Der Lebende weiht sich dem ersten Werke. Des Nachts jedoch in der tiefen Stille erwacht, oh Schrecken! der Geister-Schöpfer in diesem Lebenden. Wie? ruft die Kreatur, ist das nicht alles? – Nein, erwidert der Geist, auf und erhebe dich; der Sturm ist los, die Hunde und Füchse heulen, Finsternis allerorten, die Natur schauert; unter der Peitsche Gottes zuckt sie zusammen … Der Geister-Schöpfer sieht die Phantom-Idee. Die Worte sträuben sich und der Satz erschauert …, fahl läuft die Scheibe an, Furcht packt die Lampe … Hüte dich, Lebender, hüte dich, Mensch eines Säkulums, du Vasall eines Gedankens, der von der Erde stammt. Denn das hier ist der Wahnsinn, das hier ist das Grab, das hier ist das Unendliche, das hier ist eine Phantom-Idee.«1012 Der kosmische Schauer im Erlebnis des Unsichtbaren, welchen Hugo an dieser Stelle festhält, hat keine Ähnlichkeit mit dem nackten Schrecken, von dem Baudelaire im spleen überwältigt wurde. Auch brachte Baudelaire für das Hugosche Unternehmen nur wenig Verständnis auf. »Die wahre Zivilisation«, sagte er, »liegt nicht im Tischrücken.« Hugo ging es aber nicht um die Zivilisation. Er fühlte sich in der Geisterwelt eigentlich heimisch. Sie war, könnte man sagen, das kosmische Komplement eines Hauswesens, in dem es auch nicht ohne Grauen abging. Seine Intimität mit den Erscheinungen nimmt ihnen viel von ihrem Erschreckenden. Sie ist auch nicht frei von Betriebsamkeit und verrät an ihnen das Fadenscheinige. Das Pendant zu den Nachtgespenstern sind nichtssagende Abstraktionen, mehr oder minder sinnige Verkörperungen, wie sie auf Denkmälern damals zu Hause waren. ›Das Drama‹, ›die Lyrik‹, ›die Poesie‹, ›der Gedanke‹ und viele ähnliche lassen sich in den jerseyer Protokollen unbefangen neben den Stimmen des Chaos hören.

      Die unübersehbaren Scharen der Geisterwelt – das dürfte das Rätsel der Lösung näherbringen – sind für Hugo vor allem Publikum. Es ist weniger sonderbar, daß sein Werk Motive des redenden Tisches aufnimmt als daß er es vor ihm zu produzieren pflegte. Der Beifall, mit dem das Jenseits ihm nicht gekargt hat, gab ihm im Exil einen Vorbegriff von dem unermeßlichen, welcher ihn im Alter, in der Heimat erwarten sollte. Als an seinem siebenzigsten Geburtstag das Volk der Hauptstadt gegen sein Haus in der Avenue d’Eylau drängte, war das Bild der Woge, die an die Klippe brandet, aber auch die Botschaft der Geisterwelt eingelöst.

      Das unergründliche Dunkel des Massendaseins ist zuletzt auch die Quelle von Victor Hugos revolutionären Spekulationen gewesen. In den »Châtiments« ist der befreiende Tag umschrieben als

      Le jour où nos pillards, où nos tyrans sans nombre

       Comprendront que quelqu’un remue au fond de l’ombre. 1013

      Konnte der im Zeichen der Menge stehenden Vorstellung von der unterdrückten Masse ein zuverlässiges revolutionäres Urteil entsprechen? War sie nicht vielmehr die deutliche Form für dessen wo immer sich herschreibende Beschränktheit? In der Kammerdebatte vom 25. November 1848 hatte Hugo gegen Cavaignacs barbarische Unterdrückung der Junirevolte geschimpft. Aber am 20. Juni hatte er in der Verhandlung über die ateliers nationaux das Wort geprägt: »Die Monarchie hatte ihre Müßiggänger, die Republik hat ihre Tagediebe.«1014 Der Reflex im Sinne der oberflächlichen Ansicht des Tages und der vertrauensseligsten von der Zukunft wird bei Hugo neben der tiefen Ahnung des im Schoße der Natur und des Volkes sich bildenden Lebens angetroffen. Eine Vermittlung ist Hugo nie gelungen; daß er ihre Notwendigkeit nicht empfunden hat, war die Bedingung des gewaltigen Anspruchs, des gewaltigen Umfangs und wohl auch der gewaltigen Wirkung seines Lebenswerkes bei den Zeitgenossen. In dem »L’argot« überschriebenen Kapitel der »Misérables« treten die beiden widerstreitenden Seiten seiner Natur mit imponierender Schroffheit einander gegenüber. Nach kühnen Blicken in die sprachliche Werkstatt des niederen Volkes schließt der Dichter: »Seit 89 entfaltet sich das gesamte Volk im geläuterten Individuum: es gibt keinen Armen, er hätte denn sein Recht und damit auch den Strahl, der auf ihn fällt; der arme Schlucker trägt in seinem Innern die Ehre Frankreichs; die Würde des Staatsbürgers ist eine innere Wehr; wer frei ist, der ist gewissenhaft; und wer Stimmrecht hat, der regiert.«1015 Victor Hugo sah die Dinge, wie die Erfahrungen der erfolgreichsten literarischen und einer glänzenden politischen Laufbahn sie vor ihn hinstellten. Er war der erste große Schriftsteller, der Kollektivtitel in seinem Werke hat – »Les misérables«, »Les travailleurs de la mer«. Menge hieß ihm, fast im antiken Sinne, die Menge der Klienten – das war seiner Leser- und seiner Wählermassen. Hugo war, mit einem Wort, kein Flaneur.

      Für die Menge, die mit Hugo und mit der er ging, gab es keinen Baudelaire. Wohl aber existierte sie, diese Menge, für ihn. Ihr Anblick veranlaßte ihn tagtäglich, die Tiefe seines Mißerfolgs auszuloten. Und das war unter den Gründen, aus denen er diesen Anblick suchte, wohl nicht der letzte. Den verzweifelten Hochmut, der ihn so, gewissermaßen in Schüben, heimsuchte, nährte er am Ruhme von Victor Hugo. Noch heftiger stachelte ihn wahrscheinlich dessen politisches Glaubensbekenntnis an. Es war das Glaubensbekenntnis des citoyen. Die Masse der großen Stadt konnte ihn nicht beirren. Er erkannte die Volksmenge in ihr wieder. Er wollte Stoff sein von ihrem Stoff. Laizismus, Fortschritt und Demokratie waren das Banner, das er über den Häuptern schwang. Dieses Banner verklärte das Massendasein. Es verschattete СКАЧАТЬ