Der Weg der verlorenen Träume. Rebecca Michéle
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Название: Der Weg der verlorenen Träume

Автор: Rebecca Michéle

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783958131354

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СКАЧАТЬ umfasste mit beiden Händen ihre Hüften und zog sie an sich.

      »Hoppla, was fällt mir denn hier Hübsches in die Arme?«

      Hedwig sah in zwei dunkelbraune, lachende Augen.

      »Lassen Sie mich sofort los!« Mit hochrotem Kopf befreite Hedwig sich aus der Umarmung. »Was fällt Ihnen ein?«

      Der Mann zwinkerte ihr zu.

      »Verzeihen Sie, Fräulein, aber ich dachte, Sie konnten meinem Charme nicht widerstehen und begaben sich freiwillig in meine Arme. Ich stehe Ihnen jederzeit gern wieder zur Verfügung.«

      Unwillig runzelte Hedwig die Stirn. Mit einem gemurmelten »unverschämter Kerl« drückte sie sich durch die Menschenmenge zur Tür. Der Durst war ihr vergangen. Kriegsende hin oder her – was erlaubte sich dieser Mann, sie derart vertraulich anzufassen, dazu seine anzüglichen Worte! Eigentlich hatte er ganz nett ausgesehen, dunkle Augen, pechschwarzes Haar und ein schmaler Oberlippenbart über vollen Lippen. Hedwig drehte sich um und versuchte, durch die Leute einen Blick auf den Klavierspieler zu erhaschen, der sein heiteres Spiel fortgesetzt hatte. Schnell und routiniert flogen seine Finger über die Tasten. Hedwig hatte ihn nie zuvor gesehen und er war noch sehr jung, kaum älter als sie selbst.

      »Da bist du ja.« Karl war plötzlich wieder an ihrer Seite. »Vater möchte nach Hause, er hat Hunger.«

      Hedwig folgte ihrem Bruder. Sie dachte daran, dass die Kohlrüben noch roh in der Küche lagen. Die Familie würde sich heute mit Butterbroten begnügen müssen. Trotz der besonderen Umstände des Abends stand Hedwig eine Strafpredigt ihres Vaters bevor, der sie aber gelassen entgegensah. Längst hatte sie sich angewöhnt, dessen Vorwürfe an sich abprallen zu lassen.

      Zwei Wochen später war es amtlich: Kaiser Wilhelm II. hatte abgedankt und Deutschland war nicht länger eine Monarchie, sondern eine Republik. Noch waren von dieser gravierenden Veränderung in Sensburg keine Auswirkungen zu bemerken, und für Hedwig war es ohnehin von größerer Bedeutung, dass Anna ihre Erkältung überwunden hatte und auf dem Weg der Besserung war.

      Nahezu über Nacht hatte der Winter in Masuren Einzug gehalten. Bereits am Nachmittag mussten die Lampen angezündet und das Feuer im Kamin geschürt werden. Schneeweiß waren die Birkenwälder, die Hügel und Täler, die Flüsse gefroren, und auf dem Schoß-See hatte sich eine Eisschicht gebildet. Noch war das Eis nicht dick genug, dass die Kinder ihre selbst gebastelten Schlittschuhe anschnallen und im schnellen Rausch über den See flitzen konnten. Auch Fritz und Anna mussten sich in Geduld üben, bei dem anhaltenden Frost würde es aber nicht mehr lange dauern, bis der See für die Kinder zum Tummelplatz werden würde. Auf der gegenüberliegenden Landzunge, die einer Insel gleich in den See ragte, gab es einen Hügel, auf dem die Kinder Schlitten fuhren. Allgemein wurde diese Erhebung Kilimandscharo genannt, wobei niemand wusste, wie der Hügel zu einer solch ausgefallenen Bezeichnung gekommen war, hatte er doch mit dem Berg in Afrika nichts gemein.

      Obwohl Hedwig die heißen, hellen Sommertage lieber mochte, hatte der Winter auch seinen Reiz. Masuren lag wie unter einer friedvollen Glocke, das Leben schritt langsamer voran, an den Abenden saß die Familie in der Küche zusammen, und man erzählte sich gegenseitig Märchen und Geschichten aus längst vergangenen Tagen. Bald war der 1. Advent und die besinnliche Vorweihnachtszeit brach an. Das erste Christfest nach dem schrecklichen Krieg. Hedwig wollte das Haus besonders hübsch schmücken und jede Menge Köstlichkeiten zubereiten. Für ihre Geschwister gab es nichts Schöneres, als an den Samstagnachmittagen Plätzchen auszustechen und Pfeffernüsse, Lebkuchen und Stollen zu backen. Im Haus Mahnstein gab es nur wenige und nützliche Geschenke. Aus Stoffresten, die Fräulein Ballnus ihr überlassen hatte, fertigte Hedwig Röcke, Blusen und Hemden für die Geschwister, für die Mutter häkelte sie eine Stola, der Vater erhielt zum Fest ein Paar gestrickte Strümpfe aus dicker Wolle. Die Mahnsteins waren nicht arm, aber auch nicht vermögend. Das Gehalt, das Hermann Mahnstein als Polizeibeamter verdiente, reichte zwar aus, dass Schmalhans nie Küchenmeister war, dennoch hielt Auguste Mahnstein die Pfennige zusammen und verabscheute Verschwendung und unnötige Ausgaben.

      Es war noch dunkel, als Hedwig sich den Schnee vom Mantel klopfte und ihre Schuhe auszog, bevor sie die Schneiderwerkstatt ihrer Lehrherrin betrat. Eigentlich war es gar keine richtige Werkstatt, sondern nur ein kleines, quadratisches Zimmer neben Erna Ballnus´ Küche in deren Wohnung neben der evangelischen Kirche: an den Wänden Regale mit Stoffballen und Bändern, in Schubladen bunte Garne und Knöpfe in allen Formen und Größen, in der Mitte der wuchtige Schneidertisch und zwei Nähmaschinen aus schwarz-glänzendem Metall.

      »Guten Morgen, Fräulein Ballnus«, grüßte Hedwig.

      »Guten Morgen, Hedwig«, erwiderte die Schneiderin und schob Hedwig eine Tasse mit Kamillentee hin. »Trink, der Tee ist heiß und deine Nase rot von der Kälte.«

      »Die taut gleich wieder auf. Dankeschön.«

      Hedwig lachte und nippte an dem Tee. Jeden Morgen begrüßte Fräulein Ballnus sie mit einem Tee, und mittags bekam sie ein Butterbrot, manchmal auch mit Speck darauf. Nachdem ihr warm geworden war, griff Hedwig nach einem Mantel, dessen Kragen gewendet und neu gefasst werden musste. Gestern hatte sie mit der Arbeit begonnen und wollte sie heute fertigstellen. Fräulein Ballnus nahm ihr jedoch den Mantel aus der Hand und sagte:

      »Du musst heute etwas zustellen, bei der Kälte schmerzen meine Knie so sehr, dass ich kaum laufen kann.«

      Hedwig nickte. Obwohl Erna Ballnus die Fünfzig noch nicht erreicht hatte, saß ihr das Rheuma in den Knochen. Beim Gehen musste sie sich häufig auf einen Stock stützen, was bei den vereisten Wegen beschwerlich war. Dunkle Schatten unter Fräulein Ballnus´ grauen Augen zeugten davon, dass sie in der letzten Nacht wegen der Schmerzen nur wenig, wenn überhaupt, geschlafen hatte. Nicht alle Kunden kamen in die Schneiderwerkstatt, einige suchte Erna Ballnus auch in der heimischen Umgebung auf und lieferte die fertigen Kleidungsstücke in deren Häuser und Wohnungen aus.

      Sie humpelte zu einem Regal, in dem ein in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen lag, darauf ein Rechnungszettel, und drückte beides Hedwig in die Arme.

      »Du musst aber bis nach Kahlenwald raus, Hedwig«, sagte sie bedauernd.

      »Nach Kahlenwald?«, wiederholte Hedwig erstaunt. »Zu der Frau Baronin?«

      Fräulein Ballnus nickte. »Ich habe versprochen, das Kleid heute zu liefern. Ich wäre ja selbst gegangen, aber ...« Bedeutungsvoll klopfte sie gegen ihr linkes Knie.

      »Mein Mantel ist warm, meine Schuhe fest«, erwiderte Hedwig fröhlich. »Ich scheue das Wetter nicht, wusste aber nicht, dass Sie auch für die Frau Baronin nähen.«

      »Es ist erst die dritte Anfertigung und wahrscheinlich auch die letzte.« Ein grimmiger Zug bildete sich um ihre Mundwinkel, als Fräulein Ballnus fortfuhr: »Bestehe darauf, dass die Baronin dir das Geld sofort aushändigt. Wenn sie es nicht in bar hat und Ausflüchte vorbringt oder dir als Bezahlung gar Fleisch oder Wurst anbietet, dann bringst du das Kleid wieder zurück. Zweimal habe ich sie schon anschreiben lassen und meine Not gehabt, den Lohn zu erhalten. Baronin hin oder her, ich möchte für meine Arbeit bezahlt werden, und zwar nicht erst nach Wochen oder Monaten.«

      Hedwig war dem Baron und der Baronin von Dombrowski bisher nie begegnet, denn diese waren erst im letzten Sommer in das alte Rittergut Kahlenwald eingezogen. Zuvor hatte das Haus einige Monate leer gestanden, nachdem der letzte Besitzer im Krieg geblieben war. Der jetzige Baron war ein entfernter Vetter aus Stettin und der einzige Erbe. Obwohl Hedwig sich nicht für Klatsch interessierte, hatte sie die Leute reden hören, dass die von Dombrowskis bereits seit drei Generationen verarmt СКАЧАТЬ