Der Weg der verlorenen Träume. Rebecca Michéle
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Название: Der Weg der verlorenen Träume

Автор: Rebecca Michéle

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783958131354

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СКАЧАТЬ und erschrak, als die Neunjährige sie am Arm packte. »Karl schickt mich, dich zu holen. Die Menschen singen und tanzen, einige haben auch Instrumente dabei.«

      Hedwig seufzte und strich sich eine Strähne ihres dunkelblonden, glatten Haares, die sich aus dem Dutt gelöst hatte, hinters Ohr, dann nahm sie Paulas Hand.

      »Ich sehe nur kurz nach Mutter und Anna, dann komme ich.«

      Auguste Mahnstein hatte von dem Trubel nichts mitbekommen. Hedwig rüttelte ihre Mutter mehrmals an der Schulter, bis sie aufwachte. Ungläubig lauschte sie den Worten ihrer Tochter.

      »Was für ein glücklicher Tag«, sagte sie leise, »sofern es kein Gerücht ist.«

      »Anna schläft«, erwiderte Hedwig. »Kann ich euch allein lassen? Ich möchte zu Tante Martha gehen.«

      »Geh nur, Kind, und feiere mit den anderen. Ich selbst fühle mich zu schwach, um in die Stadt zu gehen, und werde nach Anna sehen.«

      Hedwig schlüpfte in ihre Schuhe aus festem Leder, zog den warmen Mantel an und machte sich auf den Weg. Von den Einwohnern Sensburgs waren so gut wie alle, die der Krieg verschont hatte, auf den Straßen, und es herrschte eine ausgelassene Stimmung wie an einem Jahrmarktstag. Obwohl Hedwig bei Kriegsausbruch erst elf Jahre alt gewesen war, erinnerte sie sich noch gut daran, wie die ersten Männer zum Bahnhof gezogen waren, um im kaiserlichen Heer ihr Vaterland zu verteidigen. Die Uniformen mit Blumen geschmückt und in der festen Überzeugung, an Weihnachten wieder zu Hause zu sein, waren die Burschen in einen Krieg gezogen, der in den darauf folgenden Jahren alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen und so viele Opfer – auch unter der zivilen Bevölkerung – fordern sollte wie kein Krieg zuvor. Auch Ostpreußen war von der russischen Armee mehrmals angegriffen worden. Die Schlacht von Tannenberg aber hatte den Wendepunkt gebracht, seitdem wurde Paul von Hindenburg als glorreicher Sieger und Held verehrt. Der kaiserlichen Armee war es gelungen, die Feinde aus dem Land zu treiben. Neben der Stadt Königsberg waren fünf weitere Landkreise von den Angriffen verschont worden, darunter Sensburg. Hier hatte die Bevölkerung die Schrecken des Krieges nicht hautnah miterleben müssen. Niemand musste Hunger leiden, denn die Felder rund um Sensburg waren gut bestellt, das Vieh stand auf saftigen Weiden und die Wälder waren wildreich. Wenn nicht wöchentlich die langen Verlustlisten eingetroffen und immer mehr Frauen in schwarzer Kleidung durch die Straßen gegangen wären, hätte man glauben können, der Krieg wäre eine Angelegenheit, die die Sensburger nicht betraf. Ein trügerischer Schein, denn jetzt hatte das Deutsche Reich verloren, und Hedwig ahnte trotz ihrer jungen Jahre, dass von einem Tag auf den anderen nicht alles wirklich vorüber sein würde, aber wenigstens schwiegen die Waffen.

      Tante Martha, die ältere Schwester von Hermann Mahnstein, war seit vielen Jahren verwitwet. Sie hatte zwei Söhne bei Verdun verloren, ihre Tochter war verheiratet und lebte in Allenstein. So kümmerten sich die Mahnsteinkinder regelmäßig um die Tante, die immer leckere Kuchen oder köstliche Saure Klopse für Besuch bereithielt. Über dem Verlust ihrer Söhne war Martha Mahnstein nicht zerbrochen, zumindest zeigte sie es nach außen hin nicht, obwohl sie die Trauerkleidung nicht mehr ablegte. Heute hatte sie Platten mit belegten Broten und kleinen, süßen Kuchenstücken bereitgestellt, die Kinder erhielten Kakao und die Männer Bier. Ihr Mann war ein vermögender Kaufmann gewesen, so hatte Tante Martha keine finanziellen Sorgen, und sie lebte in einem schmalen, zweistöckigen Haus in einer Seitenstraße des Marktplatzes. Dort angekommen traf Hedwig auf den Vater und die Geschwister. Nach Heinrichs Tod war Hedwig die Älteste, ihr folgten Karl, Paula, Luise, die kranke Anna, und das Nesthäkchen war Fritz, der trotz seiner fünf Jahre ausgelassen auf der Straße herumhüpfte.

      »Vater …« Hedwig trat näher. »Stimmt es, was die Leute sagen? Der Krieg ist wirklich vorbei?«

      Wenn es jemand genau wissen musste, dann Hermann Mahnstein, er war schließlich kaiserlicher Beamter. Er nickte, allerdings sah er äußerst grimmig und alles andere als erfreut aus.

      »Der Kaiser ist nach Holland geflohen.« Hermann Mahnstein versuchte nicht, seinen Zorn zu verbergen, eine Ader schwoll auf seiner Stirn, und seine Augen verengten sich. »Er hat Deutschland und sein Volk im Stich gelassen und ist feige abgehauen.«

      »Beruhige dich, Hermann.« Martha legte eine Hand auf den Arm ihres Bruders. »Der Krieg war seit Monaten verloren, der Kaiser musste sicher auf Druck des Parlaments das Land verlassen, sonst wäre es nie zu einem Ende gekommen.«

      Hermann schüttelte ihre Hand ab, als wäre sie ein lästiges Insekt.

      »Misch dich nicht in Dinge ein, von denen du nichts verstehst«, herrschte er seine Schwester an. »Nur gut, dass keine Weiber in den Krieg gezogen sind, sonst hätten wir schon nach ein paar Wochen kapitulieren müssen.«

      Hermann Mahnstein war der Überzeugung, Politik könne von Frauen nicht verstanden werden, da deren Gehirne für solch komplexe Vorgänge nicht geschaffen waren. Frauen gehörten früh verheiratet, sollten viele Kinder gebären und sich um den Haushalt kümmern. Einzig Aktivitäten in der Kirchengemeinde fanden Mahnsteins Wohlwollen, denn die Familie war gläubig und besuchte regelmäßig den Gottesdienst.

      Martha trat einen Schritt zurück und schenkte den Kindern frischen Kakao in die Tassen. Sie wusste, wann es besser war zu schweigen, auch Hedwig vertiefte das Thema nicht länger. Der Vater war durch und durch kaisertreu und hatte es nie überwunden, dass er aufgrund eines angeborenen leichten Herzfehlers für das Militär und den aktiven Dienst an der Front untauglich war. Dieser Fehler erlaubte ihm zwar, ein normales Leben zu führen, nur in den Kampf hatte er nicht ziehen dürfen. Wenigstens konnte er als Polizist für Recht und Ordnung sorgen.

      »Komm, lass uns tanzen!« Karl zog sie an der Hand aus dem Haus. »Soll Vater ruhig ein Gesicht machen, als hätte er Essig getrunken – wir lassen uns das Feiern nicht verbieten.«

      Obwohl auf Hedwigs Schultern die Erziehung der Geschwister und der Haushalt ruhten, war sie doch nur ein Mädchen, das sich von der allgemeinen Heiterkeit und Freude anstecken ließ. Bis vor eineinhalb Jahren hatte sie die Volksschule besucht, seit Herbst 1917 ging sie bei einer Schneiderin in die Lehre. Gegen diese Ausbildung hatte ihr Vater nichts eingewendet, denn nähen zu können, war eine Aufgabe, die Frauen anstand. Solange Hedwig ihre häuslichen Pflichten nicht vernachlässigte, akzeptierte er, dass seine älteste Tochter in die Lehre ging, außerdem brachte ihr Lohn ein paar Mark zusätzlich in die Haushaltskasse. Es verstand sich von selbst, dass Hedwig ihrem Vater jeden Pfennig aushändigte und nicht für sich selbst behielt. Hedwig arbeitete gern bei Erna Ballnus, deren einziges Lehrmädchen sie war. Fräulein Ballnus war auch so freundlich gewesen, Hedwig ein paar Tage frei zu geben, damit sie ihre Schwester Anna pflegen konnte, denn die Schneiderin wusste, dass die Verantwortung für die Familie auf Hedwigs Schultern lastete.

      Auf dem Marktplatz herrschte dichtes Gedränge, am nördlichen Rand wurde zu den Klängen, die aus einem Gasthaus auf die Straße drangen, ausgelassen getanzt. Hedwig überließ sich Karls Führung, wirbelte mit ihm im Kreis, ihre Füße bewegten sich im Rhythmus einer Trommel. Plötzlich fand sie sich in den Armen von Detlef, einem Nachbarsjungen, wieder, dann tanzte sie mit dem gutmütigen Bäcker mit den immer geröteten Wangen. Hunderte von Lampen tauchten den Marktplatz in helles Licht. Die Wirtin des Gasthauses, deren Mann im Krieg geblieben war, stand auf den Stufen und rief: »Freibier für alle, für die Frauen und Kinder Limonade!«

      Von ihrem Bruder war Hedwig getrennt worden und das Tanzen hatte sie durstig gemacht. Sie drängte sich durch die Menschen in die Schankstube. Ihr Vater würde sie rügen, sollte er erfahren, dass sie allein ein Wirtshaus betrat, heute waren die Regeln jedoch außer Kraft gesetzt.

      Vor dem Tresen drängten sich die Männer, denn niemand wollte sich das Freibier entgehen lassen. Auf dem Klavier wurde ein beschwingter Walzer von Johann Strauß geklimpert. Hedwig wurde hin und her geschubst, ein zufälliger, СКАЧАТЬ