Der Weg der verlorenen Träume. Rebecca Michéle
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Название: Der Weg der verlorenen Träume

Автор: Rebecca Michéle

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783958131354

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СКАЧАТЬ von dem dunkelbraunen, zähen Hustensaft ein. Anna verzog angewidert das Gesicht und schluckte widerwillig. Dann legte Hedwig ein frisches, mit kaltem Wasser getränktes, Tuch auf Annas fieberheiße Stirn und blieb auf der Bettkante sitzen, bis das Mädchen eingeschlafen war. Ein Schlaf, der dem Kind ein paar schmerzfreie Stunden bescherte und hoffentlich Besserung bringen würde.

      »Bitte nicht auch noch sie«, murmelte Hedwig. »Lieber Gott, sie ist doch noch so klein und unschuldig!«

      Der Arzt hatte zwar von keiner akuten Lebensgefahr gesprochen, seit ihrer Geburt aber war Anna ein zartes und schwächliches Kind. Ob Masern, Mumps oder Windpocken – in ihren jungen Jahren hatte Anna schon alle Krankheiten gehabt und unter den damit einhergehenden Beschwerden stärker gelitten als ihre Geschwister. Die Schwester zu verlieren, wäre mehr, als Hedwig ertragen könnte. Nicht auch noch Anna…

      Aufgeregte, laute Stimmen und das Geräusch, als würde eine Menschenmenge auf der Straße herumrennen, lenkten Hedwig von der Erinnerung an ihren Bruder ab. Unwillig runzelte sie die Stirn. Wer machte einen solchen Lärm? Hoffentlich wachte Anna nicht wieder auf. Sie öffnete das Fenster und blickte hinunter auf den Fußweg, der direkt neben dem Haus von der Uferpromenade aus in die Stadt hinaufführte. Vor einer halben Stunde noch war der Weg ruhig und verlassen gewesen, inzwischen war es dunkel, und Dutzende von Menschen strömten in die Stadt, ungeachtet des Nieselregens und der Kälte des Novembertags. Viele trugen Petroleumlampen oder Fackeln, ihre Gesichter leuchteten im Schein der Lichter, alle lachten und jubelten.

      Eine solch ausgelassene Fröhlichkeit war in den letzten vier Jahren selten geworden. Worte konnte Hedwig keine verstehen, sie spürte aber, dass etwas Entscheidendes geschehen sein musste. Über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg erkannte sie einen Lichtschein, der vom Marktplatz kommen musste. Sie schloss den Fensterladen, um die Geräusche zu dämpfen, und eilte nach unten. Was ging hier vor? Die Haustür wurde aufgerissen. Zusammen mit der eiskalten Luft strömte Karl Mahnstein in den langen, schmalen Hausflur.

      »Füße abtreten!«, wies Hedwig den ein Jahr jüngeren Bruder scharf zurecht. »Ich habe erst vorhin aufgewischt.«

      Karl kümmerte sich nicht um Hedwigs Ausruf. Er umarmte sie, hob sie mühelos hoch und wirbelte sie im Kreis herum. Trotz seiner Jugend war er einen Kopf größer als seine Schwester.

      »Es ist vorbei!«, schrie er, bevor Hedwig ihn ermahnen konnte, aus Rücksicht auf Anna keinen Lärm zu veranstalten. »Der Krieg ist aus! Vorbei, hörst du, Hedi? Es ist endlich vorüber!«

      Er stellte sie wieder auf die Füße, und Hedwig lehnte sich schwer atmend an die unverputzte Wand.

      »Was sagst du?«

      »Es stimmt.« Karl nickte mit geröteten Wangen, seine Augen glänzten, als habe er Fieber. »Zuerst wollte ich es nicht glauben, aber die Meldung kam gerade auf dem Telegrafenamt an. Seit heute Mittag herrscht Waffenstillstand. Das Töten hat endlich ein Ende. Komm, Hedi, wir wollen feiern! Die anderen sind alle schon in der Stadt, Paula und Luise bei Tante Martha, sie hat für alle Kakao gekocht.«

      »Wo ist der Vater?«, fragte Hedwig, aber Karl schüttelte den Kopf.

      »Keine Ahnung, ist auch egal. Kommst du jetzt?«

      »Ich muss das Essen vorbereiten«, murmelte Hedwig automatisch. »Wenn Vater nach Hause kommt …«

      »Unsinn«, unterbrach Karl sie. »Heute denkt niemand ans Essen.« Er sah seine Schwester an. »Hast du verstanden, was ich gesagt habe, Hedi? Der Krieg ist beendet! Deutschland hat ihn zwar verloren und musste bedingungslos kapitulieren, das wussten wir aber schon seit Monaten. Jetzt schweigen die Waffen, und niemand wird mehr sterben.«

      Nur langsam drang die Bedeutung seiner Worte in Hedwigs Kopf. Konnte es tatsächlich wahr sein? War dieser Irrsinn, der über vier Jahre die Welt in Atem gehalten und unendlich viele Tote gefordert hatte, wirklich vorüber? Und wenn ja, was würde nun folgen?

      »Geh schon mal vor in die Stadt, ich komme nach«, sagte Hedwig leise und schob ihren Bruder zur Tür. »Ich muss mich um Mutter und Anna kümmern.«

      Karl nickte, stürmte aus dem Haus, schwenkte seine Mütze und Hedwig hörte ihn »Juchhe!« rufen.

      Sie kehrte in die Küche zurück, die von einer Glühbirne in schwaches Licht getaucht war. Das abgespülte Geschirr stand noch im Schüttstein, zwei Kohlrüben lagen bereit, die Hedwig putzen, zerkleinern und für das Abendessen hatte zubereiten wollen. Immer mehr Menschen zogen am Haus vorbei, der Schein ihrer Fackeln leuchtete gespenstisch durch den neblig-trüben Abend.

      »Frieden! Endlich Frieden!«, hörte Hedwig die Leute jubeln.

      Hedwig sah zu dem Korbsessel in der linken Ecke der Wohnküche, einst der Lieblingsplatz von Heinrich. Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken. Für ihn kam der Frieden zu spät. Heinrich war das älteste der Mahnsteinkinder gewesen, zwei Jahre vor ihr geboren. Zum Leidwesen des Vaters war Heinrich weder groß noch stark, und der eher sensible, feinfühlige Junge hatte seine Nase lieber in Bücher gesteckt, als mit seinen Kameraden auf Bäume zu klettern oder Krieg zu spielen. Trotzdem oder gerade deswegen hatte Hedwig ihren älteren Bruder zärtlich geliebt, und auch sie war seine Lieblingsschwester gewesen, was er die anderen nie hatte spüren lassen.

      »Manchmal denke ich, wir wären Zwillinge«, hatte Heinrich oft augenzwinkernd zu ihr gesagt. »Wir sind uns viel ähnlicher als die anderen.«

      Dass ein Krieg kein Spiel mit Holzschwertern war, hatte Heinrich im Herbst des vergangenen Jahres erfahren müssen. Gerade erst sechzehn war er gewesen, als der Einberufungsbescheid gekommen war. Obwohl er den Befehl stillschweigend entgegengenommen und seine Sachen gepackt hatte, hatte Hedwig gespürt, dass Heinrich längst nicht mehr an einen Sieg glaubte. Nach außen hin war er voller Enthusiasmus Seite an Seite mit seinen gleichaltrigen Schulkameraden durch die von jubelnden Passanten gesäumten Straßen zum Bahnhof geschritten. Zum Abschied hatte Hermann Mahnstein ihm wohlwollend auf die Schulter geklopft.

      »Nun bist du kein Junge mehr, sondern ein Mann, auf den der Kaiser stolz sein kann.«

      Heinrich war noch keine zwei Monate fort gewesen, als Hedwig eines Abends die Küche aufräumte. Sie war allein, die Geschwister bereits im Bett, die Eltern saßen in der guten Stube, als das Korbgeflecht des Sessels knarzte, als hätte sich ihr Bruder hineingesetzt. Das Geräusch war Hedwig so vertraut wie ihr eigener Atem.

      »Heinrich!«

      Hedwig war herumgeschnellt, hatte den leeren Stuhl angestarrt und sich verwirrt über die schweißnasse Stirn gewischt. Sie zitterte am ganzen Körper, Hitzewallungen und Schüttelfrost wechselten sich ab. Sie konnte die Anwesenheit ihres Bruders körperlich spüren, was natürlich Unsinn war. Niemand außer ihr befand sich in der Küche, alles war ruhig. Nur die Standuhr in der Diele schlug in diesem Moment die neunte Abendstunde. Dieser Schlag brannte sich wie mit einem glühenden Eisen in Hedwigs Gedächtnis ein.

      Zwei Wochen später hatten die Mahnsteins den Brief erhalten. In knappen, unpersönlichen Worten war der Familie mitgeteilt worden, der Soldat Heinrich Mahnstein sei am 24. November 1917 bei der Schlacht von Cambrai verwundet worden und einen Tag später exakt um einundzwanzig Uhr seinen Verletzungen erlegen. Sein Leichnam wurde vor Ort in einem Kriegsgrab beigesetzt.

      Seitdem war kaum eine Nacht vergangen, in der Hedwig nicht von Heinrich träumte. Nun war der Krieg zu Ende, aber die gefallenen Männer, die vielen Söhne, Brüder und Väter, würden niemals zurückkehren. Kaum eine Familie in Sensburg, die keine Verluste zu beklagen hatte. Wie die Mahnsteins hatten die meisten kein Grab, an dem sie trauern und um ihre Lieben weinen konnten.

      »Hedi! СКАЧАТЬ