Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch) - Franz Werfel страница 216

СКАЧАТЬ die sich in Sicherheit befanden. Nicht nur flüchteten Hekatomben von Frauen in den reißenden Euphrat, auch in den europäischen Großstädten gab es Armenier genug, die in geheimnisvoller Verbundenheit ihrem Leben ein Ende machten.) Auf dem Musa Dagh aber war es bisher zu keinem einzigen Selbstmordfall gekommen. Wunderbar genug, wenn man das zerstörte Dasein, die tägliche Todesgefahr, den unentrinnbaren Ausgang, das langsame Verhungern von fünftausend Menschen bedenkt. Selbst in dieser Nacht waren es nur vier dürftige Jünger, die Oskanian als Sektierer seiner Idee folgten. Ein Mann und drei Frauen. Der Mann war fünfzig Jahre alt, sah aber aus wie ein Greis. Er gehörte zu den Seidenwebern von Kheder Beg. Unter allen Handwerkern des armenischen Tales bildeten die Seidenschalweber eine eigene Klasse, die wegen ihrer Körperschwäche weder für den Waffendienst noch auch für die harte Arbeit der Reserve so recht zu brauchen war. Wie alle Zukurzgekommenen, boten sie jeder verschrobenen Agitation, religiöser und politischer Art, die anfälligsten Seelen dar. Oskanians Freitodpredigt hatte die Ohren Margoß Arzrunis – so hieß der Seidenweber – höchst bereitwillig gefunden. Von den Frauen war die älteste eine Matrone, die ihre ganze Familie verloren hatte, die beiden andern waren noch jung. Der einen war das Kind vor einem Tag in den Armen verhungert. Die zweite, unverheiratet, aus einer der wohlhabenden Familien Yoghonoluks, kannte man allgemein als schwermütige, etwas wirre Person.

      Oskanian war noch während des Putsches angstgepeitscht an diese verborgene Stätte geflohn. Margoß Arzruni aber, der Apostel des Propheten, hatte ihn aufgespürt und führte nun dem Lehrer die drei gläubigen Frauen zu, die bereit waren, das Wort zu verwirklichen. In Gemeinschaft stirbt es sich leichter als einsam. Der Seidenweber war übrigens einer der unerbittlichen Apostel, die nicht dulden, daß der Prophet ein Jota nachläßt. Seit Tagen schon hatte er den Lehrer regelmäßig in der Südstellung aufgesucht, um die neue Lehre in sich zu vervollkommnen. Die fünf Menschen saßen unter einem der großen Felsblöcke, die den Weg zur Schüsselterrasse verbauen. Weil sie froren, drängten sie sich dicht aneinander. Hrand Oskanian faßte noch einmal seine Ansichten über Tod und Leben zusammen. Sie klangen aber heute merkwürdig eingelernt und fadenscheinig. Auch die bohrende Stimme des Schweigers hatte die Schärfe eingebüßt. Manchmal schien es, als steigere er sich selbst in die Rede hinein, nur um seinen Apostel nicht zu enttäuschen. Oskanian saß neben der Schwermütigen, die ein ziemlich hübsches Mädchen war. Der Verkünder des Freitodes wunderte sich selbst darüber, daß drei Augenblicke vor dem erhabensten Entschluß, dessen ein Mensch fähig ist, die schmiegsame Nähe eines Frauenkörpers so wohlig belebend wirken könne. Dessenungeachtet stand er der Matrone Rede, die sich gläubig bei dem Lehrer, der ja auch dies studiert haben mußte, nach den bedenklichen Jenseitsfolgen solchen Beginnens erkundigte:

      »Es ist eine große Sünde, Lehrer, ganz gewiß. Ich tue es ja nur, um die Meinigen wiederzusehn, rasch wiederzusehn. Aber vielleicht darf ich sie dann gar nicht wiedersehn und bleibe für immer in der Hölle, weil es doch ganz gewiß eine große Sünde ist ...«

      Oskanian hob seine spitze Nase, die in der Finsternis leuchtete:

      »Du gibst nur der Natur wieder, was dir die Natur gegeben hat.«

      Dieser bedeutungsvolle Satz schien Arzruni, dem Seidenweber, ein höllisches Vergnügen zu bereiten. Er rieb die Hände und krähte aus schwacher, aber voller Brust:

      »Da hat er es dir aber gesagt, Alte ... Wenn du die Deinigen wiedersehn willst, kannst du ja noch bis morgen warten. Die Türken werden dich nicht übersehn. Dich braucht keiner mehr für den Harem. Ich aber will nicht warten, ich hab's satt!«

      Die Matrone kreuzte beide Hände über der Brust und neigte sich vor:

      »Jesus Christus wird mir verzeihn ... Gott weiß alles ...«

      Der Lehrer bekam damit ein vorzügliches Stichwort:

      »Gott weiß alles«, schrie er, »der einzige Grund, weswegen man ihm die Welt verzeihen könnte, wäre der, daß er nichts, aber auch gar nichts weiß ... Er kümmert sich um uns soviel wie um Läuse. Verstanden? Da hätte er auch viel zu tun ...«

      Der Apostel Arzruni wiederholte höhnisch berauscht:

      »Da hätte er auch viel zu tun ... Das ist doch klar ... Wie Läuse ...«

      Der Prophet aber wandte sich, von seinem eigenen Scharfsinn ganz erschöpft, an die sündenfürchtige Matrone:

      »Wie soll er sich um dich kümmern, da er doch nur ein Blödsinn in deinem eignen Kopf ist ...«

      Der Seidenweber blinzelte einen Augenblick angestrengt, dann aber schrie er vor Entzücken laut auf, schlug seine Schenkel und begann sich hin und her zu drehn wie ein betender Moslem:

      »Nur in deinem Kopf ist der ganze Blödsinn, Alte ... Verstehst du das? ... Nur in deinem Kopf ... Also spuck ihn aus, den Blödsinn, spuck ihn aus!«

      Diese Lästerungen und das Lachen Arzrunis riefen bei der jungen Mutter einen rasenden Schmerzensausbruch hervor. Sie erinnerte sich, daß ihr jemand die steife Kinderleiche nach einem langen Kampf aus den Armen gerissen hatte. Der Mann, einer von den Pflegern, war dann schnell davongelaufen, um ihr dreijähriges Söhnchen irgendwohin zu werfen. Stundenlang hatte sie die Leiche gesucht. Ach, sie war ins Meer geworfen worden, hoffentlich. Die Mutter wollte mit dem Kind im Meer sein. Kreischend sprang sie auf:

      »Warum redet ihr stundenlang? So kommt doch endlich!«

      Der Lehrer aber wies sie zurecht:

      »Es muß eine Reihenfolge sein.«

      Mitternacht war schon vorüber, als man daranging, die Reihenfolge festzusetzen. Arzruni schlug das Los vor. Oskanian aber meinte, den Anfang müßten jedenfalls die Frauen machen, weil es sich so gehöre, die Älteste zuerst, dann die Jüngere und dann die Jüngste. Diese Entscheidung begründete er nicht näher, aber da keines der Weiber widersprach, so blieb es dabei. Zum Schluß erklärte er sich bereit, zwischen sich und seinem Apostel das Los sprechen zu lassen. Das Schicksal entschied gegen ihn oder, wenn man will, für ihn, denn es gab ihm den Vorzug vor dem Seidenweber. Die Zeit der großen Windstille herrschte. Das aufgerüttelte Meer jedoch brummte noch immer tief unten. Die Finsternis war zum Beißen. Der Lehrer tastete sich, unendlich vorsichtig kriechend, mit der Laterne ungefähr bis zum Rand des Felsens vor. Dort stellte er mit angstvoller Hand die Laterne hin. Das Licht kennzeichnete, sonderbar ruhig, die Grenze zwischen Hier und Dort. Oskanian zog sich schnell zurück. Dann machte er, als ein Wegweiser und Zeremonienmeister des Abgrunds, eine höflich einladende Handbewegung gegen die Laterne hin.

      Die Matrone kniete ein paar Minuten lang und bekreuzigte sich immer wieder. Dann ging sie mit eiligem Trippelschritt vorwärts und verschwand ohne Schrei. Die junge Mutter folgte ihr sogleich. Sie nahm einen Anlauf. Ein kurzer scharfer Schrei ... Die Schwermütige war schon weit zaghafter. Sie bat den Lehrer, ihr im letzten Augenblick einen Stoß zu geben. Oskanian aber verweigerte diesen Dienst mit großer Heftigkeit. Die Schwermütige rutschte auf allen vieren zum Rand. Dort schien sie sich ihren Entschluß wieder zu überlegen. Sie griff nach der Laterne, warf sie dabei um. Die Laterne rollte ins Nichts. Anstatt sich ruhig zu verhalten oder zurückzukriechen, streckte das Mädchen aber die Hände nach der Laterne aus, beugte sich vor und verlor das Gleichgewicht. Ein gräßlicher endloser Schrei, denn die Unglückliche klammerte sich noch volle zwei Minuten an irgendeinen Felsvorsprung an, ehe sie hinabsauste ... Oskanian und Arzruni standen schweigend in der Finsternis. Eine lange, lange Zeit verging. Noch immer zerschnitt der Todesschrei der Schwermütigen das Hirn des Lehrers. Endlich mahnte der Apostel den Propheten:

      »Nun, Lehrer, die Reihe ist an dir ...«

      Hrand Oskanian schien die Lage reiflich zu überlegen. Dann meinte er, ohne eine besonders selbstbewußte Stimme zu haben:

      »Die СКАЧАТЬ