Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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СКАЧАТЬ – Nach kurzer Zeit aber erlahmte dieses Feuer, während die riesigen Schiffsgeschütze mit taktsicheren Donnerschlägen ihre Bomben gegen die muselmanischen Ortschaften sandten. In der Orontesebene schien das Weltgericht zu toben. Als Gabriel den Beobachterplatz erstiegen hatte, standen schon Suedja, El Eskel, Jedidje und selbst das entfernte Ain Jerab in Qualm und Flammen. Auf Pferden, Eseln, Ochsenkarren und in hellen Haufen floh das Volk ins armenische Tal hinein. Nach einer Weile kehrte Bagradian wieder zu den Haubitzen zurück. Hinter dem Sporn der Geschütze standen die schon tempierten Granaten. Er hatte die Absicht gehabt, die Geschütze nach Norden zu drehn und, wenn es soweit war, den türkischen Angriff unter Feuer zu nehmen. Er gab die Absicht auf, obgleich er die Gefahr noch lange nicht für gebannt hielt. Gabriel ließ sich neben den Haubitzen nieder. Er blickte hinaus und zugleich in sich hinein: Nun werde ich vielleicht in einigen Wochen wieder in Paris sein. Man wird die Wohnung in der Avenue Kleber beziehen und das alte Leben beginnen. Aber dieser Gedanke – vor einer Stunde noch die Vision eines Tollhäuslers – änderte nichts an der erstaunlichen Leere, die ihn erfüllte. Keine Spur des knienden Jubels, des heißen anbetenden Dankes zu Gott, der durch ein unausdenkliches Wunder geboten war. Gabriel sehnte sich nicht nach Paris, nicht nach einer Wohnung, nicht nach Umgang mit kultivierten Menschen, er sehnte sich nicht nach Komfort, ja nicht einmal nach Sattessen, nach einem Bett und Reinlichkeit. Wenn er irgendeine Regung in sich verspüren konnte, so war's ein bohrendes Einsamkeitsbedürfnis, das von Minute zu Minute wuchs. Es hätte aber eine Einsamkeit sein müssen, die es gar nicht gab. Eine Welt ohne Menschen. Ein Planet ohne Bedürfnisse, Bewegung und Notdurft. Eine kosmische Einsiedelei und er das einzige Wesen darin, ruhevoll schauend, ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

      Die Lagerstätten der Dorfgemeinden lagen ziemlich weit auseinander. Yoghonoluk und Habibli befanden sich noch ziemlich auf der Höhe, während Bitias, Azir und Kebussije die einzigen Küstenplätze gewählt hatten, wo die zurücktretenden Steilwände ein paar unebene, mit hartem Strauchwerk bewachsene Plätze freiließen.

      Während Lehrer Oskanian die Notflagge schwenkte, schlief noch alles. Es war nicht der Schlaf von Menschen mehr, sondern der Schlaf unbelebten Stoffes, wie ein Fels oder ein Erdhaufen schläft. Der Donnerschlag des Schiffsgeschützes zerstörte ihn. Fast viertausend Frauen, Kinder und Greise schlugen die schreckerfüllten Augen auf, um das Licht ihres vierten Hungertages zu erblicken. Die Leute unten an der Küste sahen einen unglaubwürdigen Entkräftungstraum, der regungslos auf einem festen Meere ruhte. Einige versuchten sich aufzuraffen, um dieses Traumgesicht zu verscheuchen. Andre blieben gleichgültig auf dem harten Fels liegen, der ihre dünne Haut, die ohne Fleisch die Knochen bedeckte, durchgescheuert hatte. Sie drehten sich nicht einmal auf die andre Seite. Plötzlich jedoch hob unter den Erwachsenen ein kurzarmig hüstelndes Weinen an, das sich wie das schwache Gezeter schwerkranker Kinder ringsum ausbreitete. Und nun huschten auch die trägsten Schatten auf. Die Knaben, die noch die meiste Kraft besaßen, erkletterten die Klippen. Alles drängte zum Wasser.

      Der große Kreuzer »Guichen« ankerte etwa eine halbe Seemeile weit vor der Küste. Den Offizieren und Matrosen bot sich ein erschütterndes Bild. Sie sahen Hunderte von nackten, skelettdürren Armen, die sich ihnen entgegenstreckten, wie um Almosen bettelnd. Die menschlichen Gestalten, die zu diesen Armen gehörten, und gar die Gesichter, verschwammen selbst in den Ferngläsern gleich Gespenstern. Dazu erklang ein spitzes Stimmendurcheinander, das an das Zirpen von Insekten erinnerte und aus einer weit größeren Ferne zu kommen schien, als es tatsächlich kam. Dabei strömten zwischen den Steilwänden immer mehr von diesen menschlichen Zikaden herab und vermehrten die bettelnden Arme. Ehe der Kommandant des »Guichen« noch einen Entschluß dieser Verfolgten wegen fassen konnte, sprangen von den Klippen zwei kleine Gestalten ins Wasser, Knaben jedenfalls, und begannen aufs Schiff hinzustreben. Sie kamen auch ungefähr bis auf hundert Meter heran, dann schienen die Kräfte sie zu verlassen. Man hatte ihnen jedoch vorsorglich ein Boot entgegengeschickt, das sie aufnahm. Ein andres Boot bewegte sich auf die Küste zu. Es sollte die Vertrauensleute dieser seltsamen »Christen in Not« an Bord bringen. Bald aber zeigte es sich, daß, wenn Gott ein Wunder schickt, die Wirklichkeit dieses Wunder noch immer mit hundert Tücken zu dämpfen weiß. Die Beschaffenheit der Steilküste war nämlich so schwierig, die Brandung so stark, daß selbst dieses gut bemannte Boot des »Guichen« kaum zu landen vermochte, was eine große Rechtfertigung der mißglückten Fischerei Arams bedeutete. Es verging fast eine Stunde mit vergeblichen Landungsversuchen, ehe Ter Haigasun, Altouni und Hapeth Schatakhian aufgenommen werden konnten. Dies war die Stunde, in welcher der »Guichen«, durch das herausfordernde Artilleriefeuer auf dem Musa Dagh gereizt, hundertundzwanzig schwere Granaten in die muselmanische Ebene warf.

      Der Fregattenkapitän Brisson empfing die Abordnung in der Offiziersmesse, nachdem die Schiffsartillerie das Feuer schon eingestellt hatte. Brisson machte eine entsetzte Bewegung, als er die drei Männer sah, diese eingeschrumpften Körper in Lumpen, diese bartumwucherten Gesichter mit ihren hohen Stirnen und riesigen Augen. Ter Haigasun bot den wildesten Anblick. Sein halber Bart war weggesengt. Über die rechte Backe lief eine glühende Brandwunde. Da seine Alltagskutte in der Pfarrhütte in Flammen aufgegangen war, trug er noch immer die geliehene Decke über den Schultern. Der Fregattenkapitän reichte den Männern die Hand:

      »Der Priester ... der Lehrer ...?« fragte er. Schatakhian aber ließ ihm keine Zeit zu weiteren Erkundigungen, sondern riß seine ganze Kraft zusammen, verbeugte sich und begann jene Rede, die er auf dem Serpentinenweg zum Meere und später noch im Boote laut vor sich her entworfen hatte. Er leitete sie mit den unzutreffenden Worten »Mon général« ein. Vielleicht war's nur Verwirrung. Wer aber konnte schließlich von dem armenischen Volksschullehrer aus Yoghonoluk verlangen, daß er sich in der Rangordnung der französischen Marine gehörig auskenne, insbesondere da der sokratische Meister dieses Lehrers auf die Kriegswissenschaft nicht das geringste Gewicht zu legen pflegte. Nachdem Kapitän Brisson durch diese orientalisch ausschweifende Rede alles Nötige und manches Unnötige erfahren hatte, hoffte der durch sich selbst beglückte Sprecher, ein Wörtlein des Lobes werde aus solch erlauchtem Munde für seine makellose Akzentuierung fallen. Der Fregattenkapitän aber sah langsam von einem zum andern, um dann nach dem Mädchennamen Madame Bagradians zu fragen. Hapeth Schatakhian war überaus erfreut, auch hierin dienen zu dürfen und so seine Vertrautheit mit stockfranzösischen Personalien zu bekunden. Nun aber nahm Ter Haigasun das Wort. Zur Verwunderung, ja zur Betroffenheit des Lehrers sprach er ein fließendes Französisch, wovon er bisher in so vielen Schuljahren nur recht wenig hatte verlauten lassen. Er wies sofort auf den Hunger und die Entkräftung des Volkes hin und bat um unverzügliche Hilfe, weil sonst so manche Frau und so manches Kind die nächsten Stunden kaum erleben werden. Während Ter Haigasuns Worten klappte Bedros Hekim zusammen und wäre fast vom Stuhle gesunken. Brisson ließ sogleich Kognak und Kaffee bringen und den Abgesandten eine reichliche Mahlzeit servieren. Es zeigte sich aber, daß nicht nur der alte Arzt, sondern auch die zwei andern kaum etwas genießen konnten. Indessen berief der Schiffskommandant den Proviantoffizier zu sich und traf Anordnung, daß ohne Verzögerung Boote mit allen verfügbaren Nahrungsmitteln an Land zu gehen hätten. Der Arzt, das Sanitätspersonal und eine bewaffnete Abteilung Matrosen erhielten ebenfalls Befehl, zu landen.

      Nachher erklärte Brisson den armenischen Männern, daß sein Panzerkreuzer keine selbständige Einheit, sondern die Vorhut eines englisch-französischen Geschwaders bilde, das die Aufgabe habe, in nordwestlicher Richtung die anatolische Küste entlang zu streifen. Der »Guichen« sei gestern abend schon, drei Stunden vor der Hauptmacht, aus der Zypernbucht von Famagusta ausgelaufen. Der Höchstkommandierende der Flottille, der Konteradmiral, befinde sich auf dem Linien- und Flaggschiff »Jeanne d'Arc«. Man habe seine Entscheidung abzuwarten. Vor einer Stunde schon sei ein Funkspruch an die »Jeanne d'Arc« gesendet worden. Die Abgesandten aber möchten sich nicht ängstigen, denn es bestehe kein Zweifel darüber, daß ein französischer Admiral einen so tapferen Stamm des mißhandelten armenischen Christenvolkes nicht einfach seinem Schicksal überlassen werde. Ter Haigasun neigte seinen Kopf mit dem entstellten Bart:

      »Ich werde mir eine Frage gestatten, mein Herr Kapitän. Sie sind, wie Sie sagen, mit Ihrem Schiff nicht selbständig, sondern unterstehen dem Befehl eines Höheren. Wie kommt es dann, daß Sie nicht nach Nordwesten, sondern an unsre Küste hier gehalten haben СКАЧАТЬ