Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch) - Franz Werfel страница 217

СКАЧАТЬ Weber wendete mit Recht ein:

      »In der Finsternis ist es ja viel leichter, Lehrer!«

      »Für dich vielleicht, nicht für mich«, wies ihn der Prophet wütend zurück, »ich brauche Licht!«

      Margoß Arzruni gab sich mit dieser erhaben anmutenden Begründung offenbar zufrieden. Er hielt sich aber ganz nahe an Oskanian. Wenn der Lehrer, der sich neben ihm niedergelassen hatte, die leiseste Bewegung machte, packte er ihn sofort beim Rockzipfel. (Es war das schmutzige und zerrissene Wrack jenes schwalbenschwänzigen Prachtrocks, den sich Oskanian einst hatte anfertigen lassen, um Gonzague bei Juliette auszustechen.) Der Griff, mit dem Arzruni seinen Propheten festhielt, zeigte Angst, Ergebenheit und Mißtrauen. Hrand Oskanian war somit ein Gefangener seiner Lehre. Einmal sprang er jählings auf. Sofort aber schoß der Seidenweber neben ihm hoch. Es gab für ihn keine Aussicht, dem Jünger zu entkommen. Als nach einer Ewigkeit der Felsrand aus dem ersten nebligen Morgengrauen tauchte, erhob sich Arzruni und legte seinen Kittel ab:

      »So, Lehrer! Die Finsternis ist fort ...«

      Oskanian rekelte ausführlich seine Glieder, gähnte, als habe er einen erquickenden Schlaf hinter sich, und stand gemächlich auf. Vorerst schneuzte er noch mehrmals trompetend seine Nase, bevor er, von seinem Apostelwächter gefolgt, die notwendigen Schritte machte. Ein gutes Stück vor dem scharfen Rand jedoch drehte er sich um:

      »Es ist besser, du beginnst, Weber!«

      Der verschrumpelte Arzruni im schmutzigen Hemd näherte aufmerksam seinen Kopf dem Gesicht Oskanians:

      »Warum ich, Lehrer!? Wir haben gelost. Das Los hat dich erwählt. Die drei Frauen sind uns vorausgegangen ...«

      Oskanians umwuchertes Gesicht war weiß:

      »Warum du!? Weil ich der letzte sein will! Weil ich nicht will, daß du hinterher davonläufst und dich lustig machst!«

      Es hatte zunächst den Anschein, als überlege der Seidenweber tiefsinnig Oskanians Äußerung. Dann aber stürzte sich der Apostel unvermutet auf seinen Propheten. Dieser hatte den Angriff vorausgewittert. Er fühlte sehr bald, daß er trotz seiner Kleinheit stärker als der ausgemergelte Arzruni war. Und doch drohte ihm der fanatische Weber, der sich in seinem Glauben betrogen sah, gefährlich zu werden. Oskanian ließ sich ein Stück gegen die Felsschneide vorwärtszerren. Ohne Zweifel wollte ihn der Rasende mit in die Tiefe reißen. Da warf sich der Lehrer plötzlich auf die Erde, krampfte die eine Hand in einen niedern Strauch fest, mit der andern packte er das rechte Bein des Webers und brachte ihn zu Fall. An den drahtharten Strauch geklammert, stieß er seine Füße mit wilden Tritten in Gesicht und Leib des Gestürzten. Wie es geschah, wußte er selbst nicht, in der nächsten Sekunde schon stießen seine Füße ins Leere. Der Körper Arzrunis, des Seidenwebers, schlug über den Felsrand in den Nebel hinaus. – Oskanian saß starr. Nun schob er sich, immer noch sitzend, zurück, weiter, weiter. Er fühlte sich gerettet. Jedoch nur einen kleinen Augenblick. Dann wußte er, daß ihm auch dieser Sieg nicht mehr half. In die Gemeinschaft der Gerechten und Anständigen konnte er nie wieder zurückkehren, ebensowenig wie er fliehen konnte. Der kleine Lehrer sprang auf und ging mit stechenden Schritten hin und her. Während des Kampfes hatte ihm der Seidenweber den halben Schwalbenschwanz vom Rock gerissen. Seine spitze Brust bog sich vor wie immer in den mühsamen Stunden, da er seine arme Person zur Geltung bringen mußte. Manchmal aber klappte er zusammen und hüpfte im Nebel wie ein Vogel mit einer verwundeten Schwinge. Er versuchte sich mittels eines dichterischen Wortes, das sich plötzlich einstellte, selbst zu trösten und zu erschüttern. Zwanzigmal wiederholte er:

      »Im Sonnenschein, nicht in der Dämmerung.«

      Während dieser Gänge stolperte Oskanian über eine Stange. Es war die Fahne mit dem Hilferuf »Christen in Not«, die der Wind längst umgestürzt und vertragen hatte. Die Schüsselterrasse war sowohl als Späherposten wie als Begräbnisstätte schon seit Tagen verlassen. Hrand Oskanian nahm die ziemlich schwere Flaggenstange von der Erde auf, schulterte sie, ohne zu wissen, was er tat, und stapfte immer gehetzter umher, ein sonderbarer Fähnrich. Wie gerne hätte er die Sonne jetzt hinter das Amanusgebirge gebannt. Doch schon war sie da, rot und zornig. Noch ein hilflos zuckender Gedanke: Fort von diesem verfluchten Felsen! Ein Versteck suchen! Lieber langsam verhungern! Oskanian aber konnte nicht mehr zurück. Er mußte sein Wort vom Sonnenschein wahrmachen. Die Frauen und der Weber warteten. Die Fahne vor sich hertragend, zögerte er auf den Rand zu. Der Nebel zerriß unter ihm. Breite Balken, Schwaden, Bänke zogen in verschlungenen Tänzen umeinander, hie und da ein Stück des Meeres freigebend, das glatt und stumpf wie dunkelgraues Tuch lag. Auf einer Stelle dieses Tuches schimmerte etwas. Hrand Oskanian schloß die Augen. Nun war er wirklich verrückt geworden, was er stets gefürchtet hatte. Immer wieder öffnete und schloß er die Augen. Der Nebel verschwand mittlerweile, das schimmernde Ding aber nicht, das auf dem weiten Tuche festsaß wie angeheftet. Es schimmerte eigentlich gar nicht so recht, sondern war ein großes, blaugraues Schiff mit vier Schloten, das, von der Höhe aus gesehn, ziemlich klein und nicht ernsthaft wirkte. Einige Nebelfetzen umschwebten es noch. Der Lehrer hatte sehr scharfe Augen. Leicht konnte er in den angriffslustigen Strahlen der jungen Sonne die großen schwarzen Buchstaben am Bug erkennen: »Guichen.«

      Oskanian stieß ein paar jammernde Laute aus. »Guichen.« Das Wunder war geschehn. Doch nicht für ihn. Alle durften gerettet werden. Nur er nicht. Auf einmal begann er die sich breit entfaltende Fahne zu schwenken: »Christen in Not.« Immer schneller, wie ein Wahnsinniger schwenkte der Lehrer den gewichtigen Schaft, unermüdlich, minutenlang. Auf der Kommandobrücke des Panzerkreuzers wurde mit einer französischen Signalflagge geantwortet. Oskanian sah es nicht. Er wußte von sich selbst nichts mehr. Unablässig schwenkte er das weiße Laken in großen Halbkreisen. Er stöhnte vor Anstrengung. Doch solange er noch Kraft hatte, durfte er leben. Bagradians Haubitzen krachten weit oben. Immer kürzer und ungleichmäßiger schlängelten sich die Halbkreise der Armenierfahne. Vielleicht kann ich mich doch heimlich aufs Schiff retten, dachte es in Oskanian. Zugleich aber trat er, mehr vom Gewicht der Flagge als von seinem Willen vorwärtsgezogen, mit einem wilden Schreckensschrei ins Leere.

      In diesem Augenblick löste ein Vierundzwanzig-Zentimeter-Geschütz des »Guichen« den gewaltigen Schuß gegen Suedja, der den Türken Halt befahl.

      Dem General, dem Kaimakam, dem Jüsbaschi schmetterte dieses Halt in die Seele. Die Herren hatten sich vor einigen Minuten auf dem Standort des Majors zusammengefunden, auch der dicke leberkranke Kaimakam, für den das Frühaufstehn und die Bergbesteigung ein außerordentliches Opfer bedeutete. Die vier Kompaniekommandanten umgaben den Jüsbaschi, um persönlich den Vorrückungsbefehl entgegenzunehmen. Die Kundschafter hatten während der Nacht vorzüglich gearbeitet. Die neuen Zufluchtsstätten des Lagervolkes an der Steilküste waren einwandfrei aufgeklärt. Auch wußte man, daß zwei schüttere, schlechtgedeckte Schützenlinien den Damlajik gegen Süden abriegelten. Auf Befehl Ali Risas sollten deshalb nur zwei Kompanien mit Maschinengewehren gegen diese schwachen Linien eingesetzt werden, und zwar zur selben Zeit, sobald im Norden die Gebirgsartillerie die armenischen Gräben einzutrommeln begann. Der Kaimakam und der Jüsbaschi waren überzeugt, daß in einer Stunde ungefähr der Widerstand gebrochen sein werde. Dann sollten sich die Nord- und Südgruppe vereinigen, um gemeinsam das Lager am Meer auszuheben. Ein Entkommen gab es nicht mehr. Die erste Granate aus den Haubitzen Gabriel Bagradians schlug in die Steinhalde unterhalb des Felsturms, die zweite wich noch weiter ab, die dritte aber ging ziemlich in der Nähe der Offiziersgruppe nieder. Sprengstücke und Steinsplitter durchsangen die Luft. Zwei Infanteristen lagen wimmernd auf der Erde. Der Jüsbaschi zündete sich gemächlich eine Zigarette an:

      »Wir haben Verluste, Herr General ...«

      Das junge durchsichtige Gesicht Ali Risas war tiefrot geworden. Seine Lippen wurden noch schmäler als sonst:

      »Ich befehle Ihnen, СКАЧАТЬ