Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch) - Franz Werfel страница 215

СКАЧАТЬ Mensch, den ich kenne. Verzeihn Sie das dumme Wort. Sie sind natürlich mehr ...«

      Awakian machte eine bestürzte Geste. Gabriel aber legte ihm die Hand aufs Knie:

      »Einmal muß man schließlich offen zueinander sein. Und wann sonst?«

      »Die Hunde haben alles vernichtet«, klagte der Student, hauptsächlich aus Verlegenheit, doch Bagradian schob das Vergangene von sich:

      »Daran brauchen wir nicht mehr zu denken. Einmal mußte es doch kommen ... Und das Erwartete auf dieser Welt kommt eben meist auf unerwartete Art ... Aber darüber will ich gar nicht sprechen, sondern ... Hören Sie, Awakian, ich hatte da vorhin das sichere Gefühl, daß für Sie alles gut ausgehn wird. Warum, das kann ich Ihnen selbst nicht sagen. Wahrscheinlich ist es nur ein Unsinn, aber ich hab Sie wieder in Paris gesehn, Awakian, weiß der Teufel, wie Sie dorthin gekommen sind, das heißt, wie Sie dorthin kommen werden ...«

      Die blasse, zurückweichende Stirn des Hauslehrers schimmerte in der Dunkelheit:

      »Es ist ganz bestimmt ein Unsinn, verzeihen Sie, Gabriel Bagradian. Wie es für Sie ausgehn wird, so wird es für mich ausgehn, etwas andres kann's doch nicht geben ...«

      »Warum nicht? ... Natürlich haben Sie vernunftgemäß recht, es gibt nichts andres. Aber nehmen wir einmal das Unsinnige an, nehmen wir an, Sie entkommen auf irgendeine Weise ...«

      Gabriel Bagradian unterbrach sich und starrte gespannt ins Leere, als könnte er dort Awakians glückhafte Zukunft ziemlich genau erkennen. Dann zog er seine Brieftasche heraus und legte sie neben sich:

      »Ich wollte Sie gar nicht hierbehalten, sondern wieder in die Nordstellung hinausschicken. Wenn Sie bei Nurhan sind, bin ich ruhiger. Aber das alles ist mir jetzt ziemlich gleichgültig. Sie sollen mir einen wichtigeren Dienst leisten, Awakian! Bleiben Sie bei den Frauen, ich meine bei meiner Frau und bei Fräulein Tomasian. Es hängt mit dem guten Vorgefühl zusammen, das ich Ihretwegen habe. Vielleicht sind Sie ein Glücksbringer. Tun Sie, was Sie können! Vor allem, sorgen Sie bitte dafür, daß die Zelte rechtzeitig, sofort bei Sonnenaufgang, geräumt werden! Sorgen Sie dafür, daß Madame so vorsichtig wie möglich den Steilweg hinuntergetragen wird. Finden Sie jemand andern als Kework! An seine Hände mag ich nicht denken. Nehmen Sie Kristaphor und Missak ...«

      Samuel Awakian protestierte. In dem letzten Kampf morgen sei er notwendiger denn je. Die wichtigsten Fragen müßten noch gelöst werden. Der gewissenhafte Adjutant begann hastig auf die hundert Pflichten hinzuweisen, die seiner warteten. Der Befehlshaber jedoch lehnte es ungeduldig ab, sich damit zu beschäftigen:

      »Nein, nein! Man kann nichts mehr vorbereiten. Überlassen Sie alles mir. Ich brauche Sie hier nicht mehr. Ihr Dienst ist hiermit zu Ende, Awakian. Es bleibt bei meiner Bitte, meinem Wunsch.«

      Er händigte Awakian einen versiegelten Brief ein:

      »Ich habe Ihnen mein Testament übergeben, Freund. Sie behalten es so lange, bis Madame wieder gesund ist, Sie verstehn mich. Ich setze immer den Unsinn meines Vorgefühls für Sie voraus. Nicht wahr? Und hier ist auch noch ein Scheck auf den Crédit Lyonnais. Ich weiß gar nicht, wieviel Gehalt ich Ihnen noch schuldig bin ... Sie haben natürlich vollkommen recht, wenn Sie mich wie einen Irren ansehn. In unserer Lage ist eine derartige Abrechnung äußerst absurd. Ich bin ein Pedant. Vielleicht aber ist das Ganze ein Aberglauben, und ich zaubre, begreifen Sie das? Ich zaubre ein bißchen.«

      Bagradian sprang lachend auf. Er machte jetzt einen frischen und zuversichtlichen Eindruck:

      »Falls ich Sie überlebe, gilt weder das Testament noch der Scheck ... Also nehmen Sie sich zusammen ...«

      Sein Lachen klang angestrengt. Awakian hielt die Papiere weit vor sich hin und begann noch einmal mit seinem Widerspruch. Jetzt aber fuhr ihn Gabriel zornig an:

      »Gehn Sie jetzt, ich bitte Sie, mir wird dann leichter sein!«

      Die letzten Stunden vor dem Morgen dehnten sich unerträglich. Mit zusammengebissenen Zähnen durchlauerte Bagradian die zergehende Finsternis. Im ersten Zwielicht stellte er das Geschütz auf die Südbastion ein. Der dicke Morgennebel dieses windstillen Tages zerriß lange nicht. Ganz plötzlich war eine rote zornige Sonne da. Gabriel kniete, wie es sich gehört, rechts von der ersten Haubitze und zog inbrünstig die Zündschnur ab. Der furchtbare Knall, das wilde Zurückfahren der Lafette, Feuer und Dampf, das Verheulen in der Luft, die kristallharten Sekunden bis zum Einschlag der Granate im Ziel, dies alles war wie Erlösung. Mit dem Haubitzschuß entlud sich zugleich die unermeßliche Spannung in der Seele des Feuerwerkers. Aus welchem Grunde begann der umsichtige Feldherr des Damlajik seine unersetzlichen Granaten zu verpulvern, noch ehe der türkische Angriff ins Rollen gekommen war? Wollte er den Feind wecken oder schrecken? Wollte er den Eigenen Mut machen? Hoffte er, mit diesem Feuer unter den türkischen Kompanien derartige Verheerungen anzurichten, daß sie nicht mehr vorzuschwärmen wagen würden? Nichts von alledem! Gabriel Bagradian löste den ersten Schuß aus keinem taktischen Grunde, sondern nur, weil er das Warten nicht länger ertrug. Es war sein Schmerz- und Trotzruf, halb ein Hilfe- und halb ein tragischer Jubelschrei, weil die Nacht zu Ende war. Doch nicht nur er, all die entkräfteten und krummgefrorenen Männer der Schützenlinie empfanden gleich ihm. Sie horchten mit verzerrten Gesichtern auf die Antwort, die nun kommen mußte. Die vorgeschobenen Posten erklommen die nächste Höhe, um einen weiteren Ausblick zu haben. Doch so weit sie die Faltungen der Hochfläche übersehen konnten, lag der Damlajik tot vor ihnen. Noch schienen die Türken ihre Grundstellung nicht verlassen zu haben, auch im Norden nicht. Aber die Antwort kam. Einige Zeit verging, ehe sie erfolgte, und Bagradian konnte in dieser Frist noch zwei Schüsse lösen. Dann krachte der tiefe, ungeheure Donnerschlag. Niemand verstand ihn. Hoch oben erhob sich ein Eisenrauschen, das die Gebirge vom Amanus bis zum El Akra zu erfüllen schien. Der Einschlag polterte fernab. Es mußte in der Orontesebene sein. Der große Donner aber hatte sich von der See her erhoben.

      Noch während der Nacht – die Dorfgemeinden hatten die nackten Lagerstätten zwischen Klippen und Felsen der Steilseite ohne bestimmte Ordnung bezogen – gab Ter Haigasun den Muchtars den Befehl, sie möchten Lehrer Hrand Oskanian tot oder lebendig herbeischaffen. Die Seele des Priesters war nur von einem einzigen glühenden Bedürfnis erfüllt, das geschändete Gesetz, die ruchlos verratene Gemeinschaft an dem Verantwortlichen zu rächen. Und verantwortlich war für Ter Haigasun der Lehrer, »der Kommissär«, vielleicht mehr noch als Sarkis Kilikian. Der Priester war leidenschaftlich bereit, dem schwarzen Knirps mit eigenen Händen das Leben stückweise aus dem Leibe zu reißen. Noch niemals hatte die Welt den gelassenen Ter Haigasun in einer ähnlichen Verfassung gesehen. Er hockte unter den Familien von Yoghonoluk, die auf mehreren grasigen und waldigen Stellen entlang des Serpentinenweges lagerten. Ter Haigasun gab niemandem eine Antwort und hielt den Kopf bis zu den Knien gebeugt. Manchmal aber straffte er sich hoch, warf die Fäuste in die Luft und stieß ungeheuerliche Flüche aus, während die Wuttränen ihm über das fieberrote Gesicht rannen. Thomas Kebussjan saß auf einer geretteten Decke und wackelte blödsinnig mit der Glatze. Neben ihm keifte die Muchtarin mit verrückten Fisteltönen. Er selbst sei schuld an diesem Ende. Wäre er rechtzeitig nach Antakje ins Hükümet gefahren, so hätte der Kaimakam mit der steinreichen und hochangesehenen Familie Kebussjan selbstverständlich in der zuvorkommendsten Weise eine Ausnahme gemacht. Jetzt säße man friedlich in einem angenehmen Häuschen der Stadt auf einer efeuumklammerten Holzveranda. Kebussjan nahm weder die Vorwürfe der Frau zur Kenntnis noch auch den Befehl des fieberkranken Priesters. Wen hätte er auch aussenden sollen, um den Lehrer zu verhaften? Was es an Wächtern und halbwegs beweglichen Leuten in der Stadtmulde noch gegeben hatte, war Gabriel Bagradian gefolgt.

      Lehrer Hrand Oskanian aber hielt sich in der Nähe der Schüsselterrasse versteckt. Er war nicht allein. Die Anhänger seiner Selbstmordreligion hatten sich ihm zugesellt. (In diesen Wochen und Monaten gab es unter der armenischen Nation СКАЧАТЬ