Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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СКАЧАТЬ kaum atmen, die Augen tränten. Gabriel gab den Aufbruchbefehl. Er und Schatakhian, der sich mittlerweile eingefunden hatte, schritten der breit entwickelten Schützenlinie voran. Hinter ihnen trabten die müden Männer, hundertfünfzig an Zahl, darunter ein Drittel Sechzigjährige. Und diese elende verhungerte Gesellschaft sollte vier kriegsmäßige Kompanien mit Maschinengewehren, unter dem Kommando von einem Major, vier Hauptleuten, acht Oberleutnants, sechzehn Leutnants siegreich zurückwerfen? Es war gut, daß Bagradian die Stärke des Feindes nicht kannte. Doch wäre sie ihm auch bekannt gewesen, er hätte nicht anders handeln können. Sein Kopf wurde immer größer und empfindlicher. Die Beine hingegen hatten jedes Gefühl verloren. Es war ihm, als ging er neben sich selbst.

      Auf dem Wege zur Haubitzkuppe kam die Schar an dem großen Friedhof vorbei. Das Gräbervolk hatte seine Sachen nach alter Gewohnheit bei den Toten verstaut. Nun waren Nunik, Wartuk, Manuschak und die andern alle in eifriger Bewegung, um die prallen Säcke mit den muffigen Altertümern aufzuhucken. Sato half ihnen dabei. Die Übersiedlung schien dieses Volk weiter nicht aus der Fassung zu bringen. Die beiden letzten Gräber gehörten Krikor und dem Bagradiansohn. Krikors Grab war nach seinem Willen durch keinerlei Zeichen kenntlich gemacht. In Stephans Hügel stak ein rohes Holzkreuz. Der Vater ging daran steif vorüber, ohne es mit einem Blick zu streifen. Die Nacht war nun vollkommen. Das Brandlicht aber wölbte sich wie eine rote Kuppel über den Damlajik. Man hätte meinen können, eine große Stadt brenne und nicht ein paar hundert laubgeflochtene Hütten und einige Baumgruppen.

      Mittwegs aber, dort wo die grasige Kuppe der Haubitzstellung schon anzusteigen begann, geschah etwas ganz Unerwartetes. Gabriel und Schatakhian blieben stehn. Die schlapp hinter ihnen trottende Schar warf sich zur Erde. Eine Linie von Bewaffneten lief die Höhe herab. Man sah nur Silhouetten, die mit den Gewehren gegen die Kommenden erregte Zeichen machten. Die Türken? Die meisten suchten in der Finsternis irgendeine Deckung. Die Schattenbilder aber, die sich vom Brandhimmel zuckend abhoben, kamen zaghaft näher. Dreißig Männer waren es ungefähr. Gabriel bemerkte, daß sie einen Gefesselten vor sich her stießen. Er ging ihnen entgegen. Die Leute hatten Laternen bei sich. In fünf Schritt Entfernung erkannte er in dem Gefesselten Sarkis Kilikian. Ein Teil der Deserteure. Sie warfen sich vor Bagradian platt nieder, die Erde mit der Stirn berührend. Urgebärde der Sühne und Zerknirschung. Was gab es da noch zu reden und zu rechtfertigen? Der Ausweg war ihnen abgeschnitten. Die Stricke, mit denen Kilikian gebunden war, bildeten den Beweis, daß sie das Ungeheuerliche bereuten, einen Sündenbock darbrachten und jegliche Strafe entgegennehmen wollten. Einige häuften mit beinahe kindischer Hast den Raub zu Gabriels Füßen. Unter den gestohlenen Sachen befanden sich auch die Munitionsverschläge sowie alles aus den Zelten Entwendete. Gabriel aber sah nur Kilikian. Der Gefesselte war von seinen Leuten auf die Knie gerissen worden. Sein Kopf lag im Nacken. Im dünnen Feuerzwielicht waren seine Züge gut erkennbar. Aus den ruhigen Augen Kilikians sprach ebensowenig der Wunsch, weiterzuleben, wie der Wunsch, zu sterben. Sie betrachteten ihren Richter ohne jede Erregung. Bagradian neigte sich tiefer zu diesem grauenhaft schweigsamen Gesicht hinab. Auch in diesem Augenblick noch konnte er den Hauch achtungsvoller Zuneigung nicht unterdrücken, der ihn angesichts des Russen jedesmal befiel. War Kilikian, dieser gespenstische Zuschauer, der wahrhaft Schuldige? Gleichviel! Gabriel Bagradian entsicherte den Armeerevolver in seiner Tasche. Dann hob er ihn schnell gegen die Stirn des Russen. Der erste Schuß versagte. Kilikian hatte die Augen nicht geschlossen. Seine Nasenflügel und der Mund zuckten. Es war wie ein unterdrücktes Lächeln. Bagradian aber dünkte es, als habe er den versagenden Schuß gegen sich selbst gerichtet. Als er das zweitemal abdrückte, war er so schwach, daß er sein Gesicht abwenden mußte. So fiel Sarkis Kilikian, nach einem unfaßbaren Leben zwischen Gefängniswänden – nachdem er als Knabe dem türkischen Massaker und als Mann der türkischen Hinrichtungssalve entronnen war –, zuletzt durch die Kugel eines Volksgenossen.

      Gabriel Bagradian winkte den übrigen Deserteuren knapp, sich dem Haufen anzuschließen.

      Zwei der reuigen Lumpen hatten sich anheischig gemacht, die Stellung der türkischen Truppen auszuforschen. Sie kamen mit einem Bericht zurück, der die arge Wahrheit noch übertrieb. Vielleicht vergrößerte der klägliche Gemütszustand der Gesellen, die ihre Strafe erwarteten, die Tatsachen, vielleicht auch wollten sie durch die Schilderung der feindlichen Riesenmacht ihre eigene Schuld verringern. Denn wie hätten, auch ohne das große Verbrechen, die wenigen Deserteurzehnerschaften der schlauen Umgehung durch das türkische Militär standhalten können? Bagradian sah an den Kundschaftern vorbei und sagte kein Wort. Er wußte, daß ein großer Teil der Schuld auf seiner Seite lag. Er hatte sich nicht warnen lassen und die Neueinteilung des Verbrecherpacks versäumt.

      Samuel Awakian war mit den Mannschaften der Überfallsgruppe längst zu Gabriel gestoßen. Eine Stunde kostete es, und dann dehnten sich ein paar schüttere Schwarmlinien in zwei Reihen quer über die Kuppe und die faltenreiche Bergfläche bis in die Buschwerkzone und die Felsen hinein. Auch die tapferen Männer der Nordstellung waren ans Ende ihrer Kräfte gelangt. Was konnte man da von den alten Leuten der Reserve fordern? Hingeworfen wie morsches Holz lag jeder auf der Stelle, wohin man ihn befohlen hatte, ohne zu wachen, ohne zu schlafen. Der Befehl, aus Steinen und Erde eine Deckung für den Kopf aufzuschichten, wurde kaum mehr befolgt. Nachdem Gabriel von Mann zu Mann die ganze hoffnungslos lange Front abgeschritten war und vor dieser Front noch eine lose Postenkette aufgestellt hatte, begab er sich zu den Haubitzen. Er hatte jeden Punkt des Damlajik im Kopf, jede Distanz und jede Ortsbeschaffenheit. Er konnte daher die Schußelemente für den Raum der Südbastion in seinem Notizbuch genau bestimmen.

      Nach diesem wüstenheißen Tage war die erste herbstliche Nacht eingebrochen, in der plötzliche Kühle herrschte. Gabriel saß allein bei den Geschützen, deren Bedienung er schlafen geschickt hatte. Awakian verschaffte ihm eine Decke. Aber er wickelte sich nicht ein, denn sein Körper brannte, und sein Kopf drohte fortzufliegen, als sei er zu leicht. Gabriel streckte sich aus, ohne zu wachen, ohne zu schlafen. Seine Augen stierten in den roten See oben am Himmel. Der Brandspiegel schien immer tiefer und größer zu werden. Eine melodische Frage setzte sich in seinem erschütterten Kopf fest: Wie lange brennt schon der Altar? Dann aber mußte er eine ganze Weile nichts mehr von sich gewußt haben, denn etwas in seiner Nähe weckte ihn. Es war keine Hand, keine Stimme, sondern nur eine Nähe. Doch gerade der Augenblick des Gewecktwerdens, ein märchenhaft langer Augenblick voll tiefer Erfahrungen, tat ihm so mütterlich wohl, daß er sich gegen das volle Erkennen wehrte. Die Einheit des Erschöpften mit der Nähe neben ihm war in dieser kurzen Spanne so groß, daß ihn Iskuhis Wirklichkeit dann beinahe leicht enttäuschte, brachte sie doch das Bewußtwerden des Unentrinnbaren mit sich. Bei ihrem Anblick fiel ihm mit tiefem Schreck Juliette ein. Er hatte seine Frau eine Ewigkeit lang nicht gesehn und kaum an sie gedacht. Seine erste angsterfüllte Frage war: »Und Juliette? Was ist mit Juliette?«

      Iskuhi hatte sich mit dem Aufgebot ihrer letzten Körperkraft hierhergeschleppt. Alle Geschehnisse waren für sie in Nebel zergangen. Nur eines brannte unausgesetzt in ihr: Warum kommt er nicht? Warum hat er mich verlassen? Warum ruft er mich nicht in der letzten Stunde? Seine Frage nach Juliette aber hatte ihre Fragen kalt erwürgt. Sie schwieg, und es dauerte recht lange, bis sie sich wieder fand und mit stockenden Worten über alles berichtete, was sich auf dem Dreizeltplatz begeben hatte, über den Raubüberfall, über Schuschiks Tod und die Verwundung des Pastors. Bedros Hekim habe Juliette vergeblich dazu überreden wollen, sich von Kework hinab zum Meer tragen zu lassen. Juliette aber wolle dies nicht und schreie, sie werde sich nicht aus ihrem Zelte fortrühren. Doch auch der verwundete Aram liege noch im Zelt ... Gabriel blickte immer in die rote Himmelslache, die nicht blässer wurde:

      »Es ist ganz gut so ... Vor dem Morgen wird es zu nichts kommen ... Zeit genug ... Eine Nacht im Freien könnte Juliette töten ...«

      Etwas in diesen Worten tat Gabriel weh. Er knipste an seiner Taschenlampe. Nun aber gab die letzte verbrauchte Batterie kaum soviel Licht mehr wie ein Glühwurm. Trotz der tragischen Röte dort oben und den noch immer aus der Stadtmulde aufschießenden Flammen schien ihm diese Nacht finstrer zu sein als alle früheren. Er konnte Iskuhi neben sich kaum wahrnehmen. Leise tastete er nach ihrem Gesicht, nach ihrer Gestalt und erschrak, wie eisig und abgezehrt ihre Wangen СКАЧАТЬ