Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
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СКАЧАТЬ namentlich verzeichnet standen und daß die göttlich-menschliche Ordnung von ihm bis zu dieser Stunde aufrechterhalten wurde. Dadurch, daß jede verewigte Seele mit Geburts- und Todestag, mit Namen und Herkunft der Eltern hier sauber eingeschrieben war, konnte sich Gott ihrer leichter erbarmen, und sie brauchte nicht wie ein unbenannter Hund um die Pforten der Hölle zu schweifen. Ter Haigasun glaubte fest an das Heil der Benennung und Einschreibung, in der sich das Heil der Taufe fortsetzt. Seine vergilbten Hände durchblätterten noch einmal die letzten Seiten des Buches. Siebzehn Kinder des Musa Dagh hatte er getauft. Dem standen vierhundertzweiunddreißig Seelen gegenüber, die er zur Jenseitsreise eingesegnet hatte. Eine gewaltige Zahl. Dennoch, war's nicht ein Wunder, daß trotz der türkischen Kompanien und trotz des Hungers noch immer mehr als viereinhalbtausend am Leben geblieben waren? Und darunter immer noch mehr als siebenhundert wohlgeübte und todesmutige Krieger in allen Stellungen, die vielleicht noch einmal den Ansturm der türkischen Übermacht zurückschlagen würden! Gottes Gnade hatte Gabriel Bagradian nach Yoghonoluk geführt. Ter Haigasun fielen die Lider bleiern über die Augen. Die viereinhalbtausend lebten nicht mehr. Er sah sich allein unter den Toten in seinen starren Kirchengewändern stehn. Nie hatte er daran gezweifelt, daß er der letzte sein werde, so grausam das auch war. Sein Herz schlug nun wieder ruhig. Dafür aber erfüllte ihn eine unbeschreibliche Todeserwartung, wie er sie auch in der schlimmsten Minute der Kämpfe bisher nie empfunden hatte. Ohne zu wissen warum, malte er mit seinem dicken Rotstift unter den letzten Toten des Kirchenbuches ein großes Kreuz.

      Einer der beiden Hilfspriester steckte immer wieder den Kopf mahnend zur Pfarrhütte herein. Die angesetzte Zeit war längst verstrichen, und es bestand Gefahr, daß die anschließende Volksversammlung bis in die Nacht dauern werde. Ter Haigasun aber konnte sich noch immer nicht losreißen. Ihm war's, als gebe ihn eine innere Macht nicht frei, die den außerordentlichen Bittgottesdienst zu verhindern trachte. Schwindel und Schwachgefühl drohten ihn aufs Lager zu ziehn. Er war krank, verhungert. Sollte er den Gottesdienst absagen oder sich vertreten lassen? Ter Haigasun erkannte, daß es nicht Schwäche war, sondern die Furcht, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, die heute vor ihm lag. Und noch etwas andres, Unbestimmtes. Endlich erhob er sich und gab das Zeichen. Der Mesnerjunge nahm das Stangenkreuz auf, um es dem Zug voranzutragen. Ter Haigasun folgte den Sängern und Diakonen langsam mit gefalteten Händen und gesenktem Blick. Dieser nach innen geschlagene Priesterblick, welcher an der sich spaltenden Menge teilnahmslos wie an Buschwerk vorbeizog, beobachtete dennoch alles mit überscharfer Klarheit. Ter Haigasun hatte nicht mehr als fünfzig Schritt zum Altar zurückzulegen. Doch bei jedem dieser Schritte durchdrang ihn der Seelenzustand des Volkes ringsum mit schmerzhafter Strahlung. Die Lethargie des Morgens war einer erregten Beweglichkeit gewichen. Die menschliche Natur hatte in dieser Stunde irgendwelche äußerste Reserven oder Scheinkräfte aufgeboten. Vor allem zeigten die kleinen Kinder die tückischeste Ungebärdigkeit. Sie brüllten aus voller Kehle, strampelten und warfen sich zur Erde. Vielleicht waren es die Hungerschmerzen in den kleinen aufgeschwollenen Bäuchen. Die empörten Mütter aber schüttelten und schlugen sie, weil kein andres Beruhigungsmittel half. Da die langen Kreischlaute und das Gescheite sich steigerten, war vorauszusehen, daß die heilige Handlung immerfort gestört und daß Erhebung und Gebetessammlung unmöglich sein werde. Doch nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen benahmen sich zum Teil äußerst unruhig. Da gab es alte Männer – jene bekannten »kleinen Besitzer« zumeist –, die zusammenhanglos aufgeblasene Reden führten, ohne wie sonst ehrfürchtig zu verstummen, da der Priester an ihnen vorbei zum Altar wandelte. Ter Haigasun erkannte daran, daß die innere Auflösung mit dem Hunger Schritt hielt. Es ist gut, überlegte er, daß die Zehnerschaften nicht zu der Versammlung kommen. Solange sie fest bleiben, ist noch nicht alles verloren. Gleichzeitig aber mit diesem beruhigenden Gedanken hob er die Augen und blieb eine Sekunde lang angewurzelt stehen. Was bedeutete das? Hier waren dennoch Bewaffnete erschienen. Einzeln und in losen Gruppen freilich, aber jedenfalls gegen seinen und Gabriel Bagradians ausdrücklichen Willen. Wer hatte diese Leute aus den Stellungen hergeschickt? Da die Frauen, die Schlaffheit der ersten Tageshälfte überwindend, für den Gottesdienst ihre Festgewänder, die bunten Tücher und den blitzenden Münzenschmuck angelegt hatten, verschwanden die braunen Flecke der Krieger in der allgemeinen Farbigkeit. Der nächste Blick aber überzeugte Ter Haigasun, daß sich diesmal nicht etwa die bewährten Kämpfer der nahe gelegenen Abschnitte eingefunden hatten, sondern die Deserteure der fernen Südbastion, jene landfremden und an der äußersten Grenze gehaltenen Burschen, welche nicht im Kirchenbuch standen und sich zum Glück nur selten im Lager, niemals aber bei der Messe zeigten. War diese Gesellschaft auf einmal fromm geworden? Ter Haigasun wandte den Kopf knapp zur Regierungsbaracke rechter Hand. Wo war die Wache? Ach ja, Bagradian hatte alles, selbst einen Teil der Reserve, in die Stellungen gezogen. Der Priester erwog blitzschnell: Umkehren, unter irgendeinem Vorwand! Den Gottesdienst verschieben! Nach Gabriel Bagradian schicken! Die Muchtars zusammenrufen! Vorkehrungen für die Sicherheit treffen! Trotz dieser Erwägungen ging er aber weiter, langsamer allerdings und mit kleinen zögernden Schritten. In der Nähe des Altars standen dichtgereiht die Mitglieder der alten, hervorragenden Familien, die Muchtars mit ihren Frauen und Töchtern, die Schar angesehener Grauhäupter in derselben Ordnung, wie sie in den Kirchen des Tals üblich war. Der Führerrat schien nur spärlich vertreten zu sein. Bedros Hekim, der übrigens seine Freidenkerei niemals äußerlich betätigte, hatte im Lazarettschuppen nicht abkommen können. Ter Haigasun suchte vergebens das Gesicht Pastor Arams. Lehrer Schatakhian war entschuldigt, da er als Befehlshaber der Ordonnanzen in der Nordstellung bleiben mußte. Was Gabriel Bagradian betrifft, so hatte er zwar versprochen, rechtzeitig zum Gottesdienst zu kommen, schien aber durch irgendwelche Umstände abgehalten worden zu sein. Als die Reihen der Dorfalten auseinandertraten, um eine Gasse für den geistlichen Aufzug zu bilden, wurde die Seele Ter Haigasuns noch einmal gewarnt. Zwischen Sarkis Kilikian und einem Unbekannten stand Hrand Oskanian eingeklemmt wie ein Verhafteter. Der Knirps mit dem schwarzumwucherten Gesicht schnitt eine unselige Grimasse, zwinkerte den Priester heftig an und schnappte mit verzweifeltem Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen. Und wieder war es Ter Haigasun, als sollte er stehnbleiben und sich scharf dem Ausgestoßenen zuwenden: Was gibt's da? Was hast du mir zu sagen, Lehrer Oskanian? Und wieder ging Ter Haigasun weiter, den Blick kaum hebend, von irgendeiner Macht oder Ohnmacht geführt, die ihm das erstemal auf dem Damlajik den starken Willen raubte.

      Gerade als er die erste Stufe des Altars betrat, bemerkte er, daß er den Brief Nokhudians daheim in der Pfarrhütte vergessen hatte. Diese Tatsache verwirrte ihn über die Maßen, denn sie vereitelte die Absicht, sogleich nach dem Segen den Brief über das Ende der Landsleute von Bitias zu verlesen, um dadurch alle fluchtsinnenden Strömungen zu entkräften. Das vergessene Blatt und die böse Vorbedeutung bestürzten ihn so tief, daß er eine schier endlose Weile verstreichen ließ, ehe er die Altarstufen hinanstieg. Das Volk hinter seinem Rücken schien die Geistesabwesenheit und Unkraft des Priesters genau zu spüren, denn das Kindergeschrei, das unruhige Gewoge und der zudringliche Schwatz wurden immer unverschämter. Und in diesen ausgehöhlten Herzen sollte sich die große Inbrunst bilden, um das Wunder Gottes herabzuflehen? Gequält drehte sich Ter Haigasun um. Da stürzte gerade Gabriel Bagradian atemlos herbei und stellte sich in die erste Reihe. Ter Haigasun fühlte einen Augenblick lang Erleichterung. Schon hatte der Sängerchor hinter seinem Rücken den Hymnus begonnen. Ihm war nun eine Pause geschenkt, und er schloß die Augen, um sich zu sammeln. Hohl und matt klangen die Stimmen im Freien:

      »Der Du Deine Schöpferarme gegen die Sterne streckst,

       Gib Stärke unsern Armen,

       Damit sie, ausgestreckt, zu Dir gelangen!

      Durch die Krone des Hauptes kröne den Geist,

       Bekleide die Sinne mit dem Orarion,

       Mit Arons blühendem goldenem Kleid!

      Gleich allen Engeln, den theokratischen, herrlichen,

       Sind wir angetan mit Deiner ummantelnden Liebe,

       Dem Geheimnis, dem heil'gen, zu dienen.«

      Der Chor schwieg. Ter Haigasun sah das kleine silberne Waschbecken vor sich, das ihm der Diakon reichte. СКАЧАТЬ