Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
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Dies geschah am sechsunddreißigsten Tag des Lagers und am vierten des Septembermonats. Man hatte des Morgens an jede Familie die vorschriftsmäßige Portion Eselfleisch ausgegeben. Niemand aber wußte, ob es nicht das letztemal sei. Zugleich meldeten alle Beobachtungsstände, daß die Dörfer und die ganze Talsohle so belebt seien wie noch nie. Doch nicht nur neues Militär und neue Saptiehs bewegten sich dort, sondern eine Menge von neugierigem Gesindel habe sich wieder aus den muselmanischen Ortschaften zusammengerottet. Die Ursache dieser Neugier entpuppte sich schnell. Als Samuel Awakian, mit Gabriels Feldstecher ausgerüstet, die große Kuppe erstieg, um die Lage aufzuklären, stürzten ihm die Beobachter erregt entgegen. Etwas ganz und gar Neuartiges hat sich ereignet. Die meisten der Dorfbewohner sahen ein solches Ding zum erstenmal. Es hielt gerade auf der großen Straße von Antakje nach Suedja am Ortseingang des Fleckens Jedidje, wo es von einer kleinen Abteilung Kavallerie erwartet wurde. Awakian erkannte in seinem Fernglas ein kleines graues Militärautomobil, das die Bergengen bei Ain el Jerab mit Todesverachtung überwunden haben mußte. Drei Offiziere kletterten aus dem Wagen und bestiegen die für sie bereitgehaltenen Pferde. Die kleine Reiterschar bog sogleich ins Dörfertal ein. Voran trabten die Offiziere, hinterher die Kavalleristen, in einigen Minuten schon mußten sie Wakef erreichen. Der mittlere Offizier war den zwei anderen stets um eine halbe Pferdelänge voraus. Während diese die üblichen Astrachanmützen trugen, hatte er eine feldgraue Kappe auf dem Kopf. Deutlich sah Awakian die roten Generalstreifen an seinen Reithosen. Die Kavalkade durchtrabte ohne Aufenthalt die Dörfer. Kaum eine Stunde brauchte sie, um Yoghonoluk zu erreichen. Auf dem Kirchplatz wurden der General und seine Begleitoffiziere von einigen Herren schon erwartet. Ohne Zweifel war es der Kaimakam von Antakje, der mit dem Müdir und anderen Beamten den Generalpascha samt seinem Gefolge in die Villa Bagradian führte. Das große Ereignis wurde sofort dem Befehlshaber gemeldet. Samuel Awakian ließ auf eigene Verantwortung den großen Alarm verkünden. Gabriel billigte diese Maßregel nachher. Er verstärkte sie sogar, indem er anordnete, daß von Strand an das Lager für alle Zeit unter Alarm stehe, gleichgültig, ob sich irgend etwas ereigne oder nicht. Awakian aber verriet er seine Überzeugung, daß die Türken noch lange nicht fertig seien und daß sich weder heute noch morgen, wahrscheinlich auch in den nächsten Tagen nichts ereignen werde. Die Tatsachen schienen ihm recht zu geben. Nach zweistündigem Aufenthalt in der Villa bestiegen die fremden Offiziere ihre Pferde und verritten in noch schärferem Trab als bei der Ankunft nach Jedidje. Sie hatten kaum einen halben Tag auf dem Kriegsschauplatz geweilt, als der kleine, verzweifelt ratternde Kraftwagen sie wieder nach Antakje entführte. Der Kaimakam begleitete die Herren in seine Hauptstadt zurück.
An demselben Tage erhob sich Gabriel Bagradian aus dem Schmerz um seinen Sohn und ermannte sich. Der kriegerische Teil seines Wesens, den die Verschickung in ihm erweckt hatte, gewann noch einmal Macht. Er hatte übrigens schon die letzte Nacht wieder in der Nordstellung verbracht. Da aber wegen der unfreundlichen Gesinnung gegen den Dreizeltplatz die Frauen nicht ohne Schutz bleiben sollten, beurlaubte er Kristaphor und Missak vom Nachtdienst in der Stellung, damit sie für die Sicherheit der Zelte sorgten. Im übrigen hatte Mairik Antaram die Witwe Schuschik zum Pflegedienst herangezogen, wodurch noch zwei weitere schützende Arme von männlicher Kraft zur Verfügung waren.
Gabriel gelang es von einer Stunde auf die andre, sein inneres Leben völlig auszuschalten. Der Schmerz war da, doch nur als ein dumpf entferntes Bewußtsein, wie eine wunde Körperstelle, die man durch eine Einspritzung betäubt hat. Und wieder stürzte er sich mit wilder Leidenschaft in die Arbeit. Er schien sich durch einen jähen Willensentschluß vollständig erholt zu haben, ja straffer und unbeugsamer geworden zu sein als früher. Erst in diesem Augenblick wurde es ihm klar, welchen unschätzbaren Beistand er an seinem Adjutanten, oder besser, an seinem Stabschef Awakian besaß. Dieser Nimmermüde, dieses seltsam unpersönliche Ich, das in keiner Minute – obgleich den meisten Führern an Wissen und Intelligenz himmelhoch überlegen – sich eine Führerrolle angemaßt hatte, bewies eiserne Kräfte. Awakian war es mehr als Nurhan Elleon zu verdanken, daß die Feldordnung und die Mannszucht unter den Zehnerschaften bisher noch keinen ernsten Schaden genommen hatte. Manche zerrissen sich zwar den Mund über den ungelenken »Büchermacher« mit der Brille, denn überall, wo Waffen getragen werden, stellt sich sogleich eine spöttische Geringschätzung des Intellekts ein. Und dennoch, wenn Awakian in den Stellungen auftauchte, breitete sich ein beinahe behaglicher Eifer aus, jene kostbare Soldatenstimmung, die man Vertrauen in die Führung nennt. Das kam daher, weil der Adjutant, selbst in Abwesenheit des Kommandanten, Bagradians Überlegenheit widerstrahlte wie ein Licht. Auch Awakian konnte seit Stephans Tod keinen Schlaf mehr finden. Leiden und Schuldgefühl peinigten seine Seele. Vier Jahre hatte er im Hause Bagradian gelebt und Stephan liebgehabt wie einen kleinen Bruder. Immer wieder mußte er die Zähne zusammenpressen, und das Blut schoß ihm in den Kopf. Wäre es nicht möglich gewesen, das Unglück zu verhindern? Warum hatte er an jenem furchtbaren Tag nicht gespürt, was in dem Jungen vorging? Eine Gewissenlosigkeit, die er sich nie würde verzeihen können. Nie?? Ah, das blieb ja der einzige Trost, daß dieses Nie nur eine Sache von wenigen Tagen war und daß dadurch alles, alles leichter wog. Samuel Awakian ließ sich nichts anmerken und erwähnte im Verkehr mit Gabriel den Namen Stephans nicht. Doch ebensowenig kam dieser Name über des Vaters Lippen. Dennoch oder gerade deswegen spannte Awakian seine letzte Energie an, um Gabriel zu dienen. Er hatte unter anderem auch eine neue Evidenzliste der Zehnerschaften angelegt. Bagradian konnte ihr entnehmen, daß die Zahl der Kämpfer auf etwa siebenhundert gesunken war. Die große Lücke, die der Tod gerissen hatte, bedeutete aber keine wesentliche Verminderung der Kampfkraft. Mit den frei gewordenen Gewehren konnten die besten Männer der Reserve ausgerüstet werden. Und dann! Die Verteidigungsfront hatte sich ja dank dem Waldbrand auf einige wenige Abschnitte verengt. Die Steineichenschlucht war noch immer ein einziger Ofen voll glühender Kohlen. Diese Heizung spürte man in der Stadtmulde nach wie vor, wo sie zumeist gegen Abend die Gemüter aufstachelte. Gleichviel, die schwächste Stelle der Linie war nun vor Angriffen geschützt, für immer. Und nicht in diesem größten Einschnitt des Damlajik, sondern auch weit umher auf den Hängen, Buckeln, Vorhügeln gloste es unter den zusammengebrochenen Strünken weiter. Hier hatte eine gnädige Hand alles zugunsten der Armenier gelenkt. Bagradian löste die Besatzungen der überflüssig gewordenen Abschnitte endgültig auf und schuf dafür eine starke Postenkette, die den Bergrand vor Überraschungen und türkischen Kundschaftern zu sichern hatte. Den vorhandenen Möglichkeiten und Anzeichen nach zu schließen, beruhte die Absicht der Türken auf einem von zehnfacher Übermacht geführten Generalstoß im Norden, der, von Artillerie wahrscheinlich unterstützt, die verbrauchten Armeniersöhne aufreiben sollte. Unablässig schallten die Axthiebe. Trotz dieser eindeutigen Zurüstungen aber war Bagradian vorsichtig genug, eine Spähergruppe auch in den südlichen Raum vorzuschicken. Diese mutigen Burschen wagten sich am Abend bis nach Suedja hinein. Sie meldeten, daß nur ganz wenig Militär und fast gar keine Saptiehs in der Orontes-Ebene lägen. Alle Truppen seien im Dörfertal zusammengezogen. Die Felsbastion und ein neuer Steinschlag schien den Türken trotz ihres Generals noch immer einen heillosen Respekt einzuflößen. Dennoch beschloß Gabriel, die Südbastion morgen zu visitieren.
Am Abend saß er auf seinem Schlafplatz und starrte auf die Sattellehne hinüber, auf die Baumgruppen des Höhenrandes, zwischen denen Stephan verschwunden war, ohne daß er es hatte verhindern können. Noch immer rückten ihm seine Nachbarn nicht näher. Wenn er kam, unterbrachen sie ihr Gespräch, standen auf und grüßten ihn als Führer. Das war alles. Auch von ihnen sprach keiner ein Wort wegen Stephan zu ihm. Vielleicht wagten sie es nicht. Alle sahen ihn so merkwürdig an, traurig und forschend. Tschausch Nurhan allein war immer hinter ihm her gewesen, als habe er so manches auf dem Herzen, wolle aber erst den rechten Augenblick abwarten. Nun schlief er schon seinen wohlverdienten Schlaf, denn keiner der Jüngsten reichte an diesen alten Kerl und seine Unermüdlichkeit heran. Gabriel Bagradian hatte nun schon vierundzwanzig Stunden weder Iskuhi noch Juliette gesehen. Ihm war wohler so. Alle Bindungen СКАЧАТЬ