Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
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Am nächsten Tag visitierte Gabriel Bagradian die Südbastion, wie er sich's vorgenommen hatte. Vorher aber machte er bei der Haubitzenstellung halt. Die Geschützrohre waren nach entgegengesetzten Seiten gerichtet, das eine auf die Nordhöhen, das andre nach Suedja. Gabriel hatte noch in den Tagen vor Stephans Tod die Elemente nach seiner Karte ermittelt. Es war immerhin möglich, den Anmarsch des Feindes zu stören und aufzuhalten. In den Geschoßverschlägen fanden sich noch vier Schrapnells und fünfzehn Granaten. Die Geschütze hatten eine Wache und Bedienung von acht Mann, die durch Nurhan Elleon in den einfachsten Handhabungen wie Vorführen, Sporenwerfen, Geschoßzubringen, Schnurabziehen und so weiter notdürftig ausgebildet worden waren.
Tschausch Nurhan, Awakian und einige Abschnittsführer begleiteten Gabriel auf seinem Inspektionsgang. Die ersten Eindrücke, die diese Männer im Gebiet der Südbastion empfingen, waren weiter nicht verdächtig. Sarkis Kilikian hatte es sich nach seiner Haftentlassung sogar angelegen sein lassen, die Maschinerie der Sturmwidder noch weiter zu verbessern. Die mächtigen Stoßschilde waren durch strahlenförmig über den Rand greifende Ruder vergrößert. Der Anprall der Schilde konnte nun eine weit umfangreichere Fläche der lockeren Mauern erfassen. Auch waren die Platten selbst verdoppelt und durch reichlichen Eisenbeschlag und starke Klammern gesichert. Wenn man dem gedrungenen Anblick trauen durfte, so waren diese Katapulte imstande, Blöcke von Zentnergewicht bis in die Ruinen von Seleucia zu schleudern. Kilikian schien sich für nichts andres als für dieses düstere Spielzeug zu interessieren. Es war ein kindhafter Zug, dieser Anfall von verbohrtem Eifer, mit dem er immer wieder an den Mauerbrechern herumarbeitete. Der Eifer stand im schärfsten Widerspruch zu der ausgelaugten Verödung seines Wesens. Gabriel Bagradian aber hatte vom ersten Augenblick an irgendeine verschüttete Quelle in diesem Opfer eines schrecklichen Lebens gespürt. Sein Verhältnis zu Kilikian war voll unaufgelöster Spannungen. Etwas in dem wohlerzogenen Großstädter und vornehmen Bürger fürchtete sich vor dem radikalen Nichts, das in dem Deserteur steckte. Es hatte zwischen ihnen nur ein einziges Mal ein Kampf stattgefunden, bei dem Kilikian schmählich unterlegen war. Doch weder ist dem Sieger damals wohl zumute gewesen, noch auch konnte er heute die Unsicherheit ganz überwinden, die ihn angesichts dieses Menschen jedesmal überfiel. Es war eine ausgesprochene Schwäche Bagradians und nicht leicht zu erklären. Er konnte die eigentümliche Achtung nicht loswerden, die ihm dieser Mensch einflößte, ohne sie durch irgendeine Eigenschaft oder Leistung zu verdienen. Jedesmal, wenn er ihm begegnete, versuchte Gabriel durch ein paar freundliche Worte, durch eine teilnehmende Erkundigung mit Sarkis in Verbindung zu treten und jedesmal wurde diese werbende Bemühung auf das peinlichste enttäuscht. Kilikian war der einzige Mensch auf dem Musa Dagh, demgegenüber Gabriel Bagradian nicht den richtigen Ton fand. Entweder sprach er allzu herablassend zu ihm oder allzu gleichgestellt. Der Russe aber fand immer irgendeine Art, Bagradian abzulehnen. Daß er zum Beispiel jetzt ruhig auf dem Rücken liegenblieb, während der oberste Führer seinen Katapulten neues Lob zollte, war nicht nur eine Unverschämtheit, sondern eine Verletzung der Subordination, die unverzüglich hätte bestraft werden müssen. Anstatt dessen wandte sich Gabriel ab, Lehrer Oskanian mit den Blicken suchend. Dieser aber hatte sich bei der Ankunft Bagradians in hysterischer Feigheit rasch aus dem Staub gemacht. Er konnte ja nicht wissen, daß weder Ter Haigasun noch Bedros Hekim noch Schatakhian den Betroffenen von jener widerwärtigen Beratung in Kenntnis gesetzt hatten, in welcher der Lehrer soviel Gift gegen das Haus Bagradian verspritzt hatte. Im übrigen schien sich seit seinem Ausschluß aus dem Führerrat Hrand Oskanians Geisteszustand nur noch eitler verwirrt zu haben. Er suchte wahrscheinlich eine Oskanianpartei zu gründen. Seit Tagen redete er auf allerlei schlichte Leute sprudelnd los, die nicht zur Südbastion gehörten, ihn aber dort besuchten. »Die Idee«, wie er es nannte, nahm in seinem Hirn immer schärfere Gestalt an. Diese Idee aber war durchaus nicht Eigenwuchs, sondern entstammte einer lichtvollen Darlegung Meister Krikors, der vor vielen Jahren einmal während eines philosophischen Spaziergangs über den Freitod gehandelt hatte, »die Pflicht zu leben« und »das Recht zu sterben« mit Hilfe unbekannter, aber wohllautender Autoren gegeneinander abwägend.
In den Stellungen der Südbastion fanden die Visitierenden keine grobe Fahrlässigkeit. Der Dienst war nach den Gesetzen der Zehnerschaftsordnung eingeteilt, die Posten waren besetzt, die vorgeschobenen Feldwachen lagen am Rande der großen Steinhalde. Auch der Zustand der Gewehre ließ nichts zu wünschen übrig. Und doch hatte die Haltung dieser Mannschaft, trotz aller oberflächlichen Ordnung, etwas Unbestimmtes, Träges, Verdächtiges, das Tschausch Nurhans Unwillen herausforderte. Die Besatzung bestand aus elf Zehnerschaften, etwa fünfundachtzig Männer zählten zu den Deserteuren. Nicht alle unter diesen waren zweifelhafte Gesellen, im Gegenteil, die Mehrzahl setzte sich aus recht harmlosen Ausreißern zusammen, die vor drohender Mißhandlung, Bastonade oder Straßenarbeit durchgegangen waren. Was nun auch immer schuld sein mochte, Elend, Verlotterung, schlechtes Beispiel, alle hatten Sarkis Kilikians störrische Apathie angenommen, als wäre sie die rechte schicke Lebensart, die Männer ihresgleichen kleidet. Das war ein schlappes Hinundherschlurfen, ein höhnisches Herumlungern, ein freches Auf-dem-Rücken-Liegen und Sichrekeln, ein herausforderndes Grölen und Gepfeife, das für die künftige Schlacht nichts Gutes hoffen ließ. Nicht eine Truppe von Kämpfern glaubte man vor sich zu haben, nicht einmal eine echte Verbrecherbande, sondern ein Rudel verkommener und aufsässiger Landstreicher, die sich in einer Einöde zusammengerottet hatten. Gabriel Bagradian aber schien der Sache keine übermäßige Bedeutung beizumessen. Die meisten dieser Burschen hatten sich im Kampfe bewährt. Alles andre war Nebensache. Man mußte mit ihnen jedenfalls vorsichtiger umgehen als mit der Elite.
Der Feuerfrevel aber war doch zu bunt. Die Südbastion besaß im Westen, wo der Damlajik die Biegung zum Meer beschrieb, drei hochaufgeworfene Deckungen zur Flankensicherung. Diese Schanzen beherrschten die auslaufende Steilseite des Berges, die in waldbedeckten Terrassen gegen Habaste herabfiel, und machten jede Umgehung unmöglich. Und hier, fünfzig Schritt unterhalb dieser ebenfalls mauerbewehrten Deckungen, brannte auf dem offenen Vorfeld ein großes vergnügliches Feuer, eine freundliche Einladung an die Türken geradezu. Auf das Brennen offener und von der Führung nicht eigens erlaubter Feuer stand das strengste Verbot. Doch nicht genug damit. Um dieses Feuer saß nicht nur ein Lumpenpack der minderwertigsten Deserteure, sondern zwei Frauenzimmer dazu, die aus der Stadtmulde in diese Welt übergegangen waren. Und diese Weiber drehten das schönste Ziegenfleisch an langen Stöcken in der Flamme. Nurhan und die andern stürzten wie Besessene auf die Gesellschaft los. Bagradian kam langsam hinterdrein. Der Tschausch packte einen der Deserteure an seinem schmutzigen Hemd und riß ihn hoch. Es war ein langhaariger Mensch mit einem bräunlichen Gesicht und kleinen raschen Augen, die auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit Armenieraugen hatten. Nurhans langer grauer Feldwebelschnurrbart zitterte vor Wut:
»Du Läuseturm! Wo habt ihr diese Ziegen her?«
Der Langhaarige suchte sich zu befreien. Er tat so, als kenne er den Tschausch gar nicht:
»Was geht dich das an? Wer bist du überhaupt?«
»Da hast du, wer ich bin!«
Ein Faustschlag schleuderte den Kerl zu Boden, so daß er fast in das Feuer getaumelt wäre. Kriecherisch gekränkt raffte er sich СКАЧАТЬ